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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

No. 20. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Ein Gottesgericht.
Vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“
(Fortsetzung.)


„Herr Graf, unter einer Bedingung dürfte ich mich zu weiteren Nachforschungen entschließen.“

„Darf ich fragen, welcher Art diese wären?“

„Ich würde mich nach Turellen begeben und zunächst Ihre Frau Schwägerin vernehmen, und wenn diese Ihren Verdacht bestätigen würde –“

„Sie wird. Sie wird sofort, ohne Umstände. Und was würden Sie dann weiter vornehmen?“

„Die übrigen Hausgenossen befragen.“

„Sämmtlich? Auch die Gesellschafterin?“

„Auch sie.“

„Ah, Herr Kreisjustizrath, ich bitte um Ihre Bedingung.“

„Sie haben die Güte, mir Ihr Ehrenwort zu geben, daß die Thatsachen, die Sie mir mittheilten, wahr, und die Combinationen, die Sie danach gebildet haben, nicht gegen Ihre Ueberzeugung waren.“

„Werden Sie mir dagegen Ihr Ehrenwort geben?“

„Worauf?“

„Daß Sie in Turellen meine Anwesenheit nicht erwähnen. Es würde Ihnen, bei dem Dementi, das ich Ihnen entgegensetzen müßte, ohnehin nichts fruchten.“

„Sie haben Recht. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf.“

„So haben Sie hiermit das meinige. Ich wünsche Ihrer Untersuchung Glück, mein Herr, und habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen.“

Damit ging er. Seinen Wagen hörte ich auf dem Straßenpflaster zum Thore hinausrollen.

Er hatte die verschiedenartigsten Eindrücke in mir zurückgelassen. Er war einer jener — nicht blos in der russischen Schule gebildeten – vollkommenen Diplomaten, denen, bis auf Eins, in der Welt nichts mehr heilig ist, nicht einmal ihre eigene äußere Ehre, selbst bis zu einem gewissen Grade nicht die Dehors; denn jenes Eine ist nichts, als die unbedingte Ergebenheit gegen die Regierung, der sie dienen. Ihr opfern sie Alles; damit sie nicht compromittirt werde, nehmen sie Gott weiß was auf sich und schneiden sich zuletzt mit dem Rasirmesser unversehens die Luftröhre durch, wie der Graf Bresson in Turin[WS 1]. Es liegt eine Idee darin; man könnte sie eine große Idee nennen, wenn die Aufopferung zum Heile der Völker geschähe.

Mein Diplomat hatte ferner keinen haltbaren Grund, kein zureichendes Interesse angegeben, die ihn zu seiner Denunciation veranlassen konnten. Konnte bei einem solchen Manne das wirklich vorwaltende Interesse nicht ein verwerfliches sein? Konnte er mich nicht als Mittel für unlautere Zwecke mißbrauchen wollen?

Andererseits hatte er mir im Grunde nur seine Combinationen mitgetheilt und dabei mir alle jene Thatsachen vorenthalten, die die eigentlichen, letzten, concludenten Prämissen seiner Schlußfolgerungen bildeten. Schritt ich auf Grund seiner vagen Angaben ein, so lief ich die dringendste Gefahr, wenn mir nicht eine schwerlich zu erwartende Offenheit oder ein noch weniger zu vermuthender Glückszufall entgegen kam, schon bei meinen ersten Schritten stecken zu bleiben und, wie der Graf Alexander Ruthenberg sicher die Achseln zucken würde, la dupe de l’affaire zu werden.

Endlich – und ich leugne nicht, das hatte den tiefsten Eindruck auf mich gemacht – zu welchem Zwecke wollte und sollte ich eine weitere Untersuchung einleiten? Um einen Mord zu entdecken, allerdings; aber auch um die Mörderin zu ermitteln und zur gesetzlichen Strafe, unter das Beil des Nachrichters, auf das Rad zu bringen.

Und wer war diese Mörderin? Der Graf selbst hatte sie als ein braves, tugendhaftes, edles Geschöpf dargestellt, die, fern von ihrer Heimath und ihren Verwandten, verlassen von aller Hülfe in dem fremden Lande, fast unmittelbar an der russischen Grenze sich in den Händen und in der Gewalt eben so mächtiger als roher, vom Laster durch und durch verdorbener Menschen befand, die im Zustande rath- und hülfloser Verzweiflung zuletzt zu einer That hingedrängt war, die nur nach der Strenge des gesetzlichen Buchstabens nicht als ein Act der Nothwehr aufgefaßt werden konnte.

Und der Ermordete war der rohe, gemeine, nicht Sitte, nicht Ehre achtende Wüstling, der nach der moralischen Gerechtigkeit, nach dem Gerechtigkeitsgefühle wie vieler Tausende edel fühlender Menschen nichts, als seinen verdienten Lohn empfangen hatte.

Dennoch durfte, konnte ich meinem Entschlusse, den ich schon während der Mittheilungen des Grafen gefaßt hatte, nicht untreu werden.

Ich hatte seine Anzeige als eine amtliche erhalten. Zwar unter eigenthümlichen Umständen; aber ich durfte sie dennoch nicht völlig ignoriren.

Seine Combinationen konnten falsch sein; meine Untersuchung mußte das dann herausstellen und ich hatte die unglückliche Gesellschafterin


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Hier irrt Temme: Charles-Joseph Graf Bresson (1798–1847) beging Selbstmord nicht in Turin, sondern in Neapel, wo er französischer Geschäftsträger war.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 293. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_293.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2018)