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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

horchte eine Zeitlang. Er hörte auch keine Bewegung im Zimmer, und nahm an, sie habe sich zu Bette begeben und schlafe. Er ging weiter, an das Ende des Schlosses, zu dem Bibliothekzimmer und trat unter ein Fenster desselben.

„Vor dem Fenster befindet sich das Spalier eines Obstbaumes. Steigt man in das Spalier, so kann man von da mit um so größerer Bequemlichkeit in das Fenster steigen. Mein Neffe stieg in das Spalier. Er schwang sich aus dem Baume auf das Gesims des Fensters.

„Das Fenster war nicht verschlossen; es war nur fest angelehnt, als wenn es verschlossen sei. Der junge Mann hatte am Tage sich unbemerkt in das Bibliothekzimmer zu schleichen gewußt, und so den Verschluß des Fensters geöffnet. Er brauchte von außen nur anzustoßen und das Fenster ging auf und er konnte durch die Oeffnung in das Bibliothekzimmer springen.

„Er stieß leise an das Fenster; es öffnete sich ohne Geräusch und er sprang durch die Oeffnung in das Zimmer.

„Es war so viel, als wenn er sich schon in dem Schlafzimmer der Gesellschafterin befand; denn Sie werden sich erinnern, mein Herr, daß die Thür zwischen dem Bibliothekzimmer und der Schlafstube der Dame in der Regel nicht verschlossen war.“

Ich mußte den Grafen unterbrechen. Ich hatte ihm schon eine Zeit lang nur mit Verwunderung zuhören müssen. Was er mir anfangs erzählte, hatte er auf leicht erklärliche Weise in Erfahrung bringen können, am meisten durch seine, nach Allem mindestens etwas frivole Schwägerin selbst. Aber die letzteren Mittheilungen, das was sein verschwundener Neffe seit seinem bis jetzt völlig spurlosen Verschwinden gethan, wie konnte das, gar mit allen jenen Specialitäten, zu seiner Kenntniß gekommen sein?

„Herr Graf,“ sagte ich, „von Ihrem Neffen haben Sie keine Nachricht, keine Spur seit dem Augenblicke, da er an jenem Abende von seiner Tante sich verabschiedete?“

„Nicht die geringste Spur, mein Herr.“

„Er kann Ihnen also auch nicht mitgetheilt haben, was er seitdem gethan hat?“

„Unzweifelhaft nicht.“

„Es existiren also andere Zeugen seines späteren Thuns?“

„Meines Wissens nicht.“

„Dennoch erzählen Sie mir Thatsachen, die nur er selbst oder genau beobachtende Zeugen seines Handelns Ihnen entdecken konnten.“

„Allerdings, und ich bin erst am Beginn solcher Thatsachen.“

„Darf ich um eine Erläuterung bitten?“

„Ich bin sie Ihnen schuldig. Ich bin nie Polizeibeamter gewesen.“

„Ich glaube Ihnen das.“

„Auch nie Criminalrichter.“

„Ich glaube auch das.“

„Aber ich bin Diplomat, ein alter Diplomat.“

„Und?“

„Und kann mithin ebenfalls combiniren, obwohl ich nicht zur Polizei oder zur Criminaljustiz gehörte.“

„Und Sie erzählen mir Ihre Combinationen?“

„Mein Herr, ich habe die Menschen studirt. Ich kannte meinen Neffen, kenne meine Schwägerin und habe jene Gesellschafterin kennen gelernt. Ich habe in Turellen beobachtet, Menschen, Verhältnisse, Localitäten. Glauben Sie, daß ich im Stande bin, richtige Combinationen zu bilden?“

„Ueber das Verschwinden Ihres Neffen?“

„Eben darüber. Darf ich fortfahren?“

„Ich bitte.“

„Mein Neffe war also in dem Bibliothekzimmer. Er schritt auf die Thür des Schlafzimmers der Dame zu. Er horchte an der Thür. In dem Schlafzimmer war Alles still. Er öffnete geräuschlos die Thür, ging in das Zimmer, an das Bett. Die Dame schlief. Er rief leise ihren Namen:

„Ottilie!

„Ich glaube, so heißt sie. Sie erwacht, sie will rufen. Er versiegelt ihren Mund mit Küssen. Sie hat ihn erkannt, an der Stimme; die Frühlingsnacht war außerdem nicht sehr dunkel.

„Sie stößt ihn zurück, ringt sich von ihm los und will wiederholt um Hülfe schreien.

„Er ist nicht umsonst der Graf Paul Ruthenberg mit dem ungebundenen Willen, der seine Studien und so weiter.

„Mein liebes Fräulein, sagt er ruhig, wenn Sie Leute herbeirufen, so würden mich diese nur bei Ihnen im Ihrem Schlafcabinete finden.

„Scheusal, Bösewicht, ruft sie, verlassen Sie mich auf der Stelle. Das wäre ein Verbrechen, schöne Ottilie; ein Verbrechen gegen Ihre Schönheit, gegen Ihre Liebe. Ungeheuer!

„Es werden ähnliche Worte gewechselt, auf der einen und auf der andern Seite. Die junge Dame hat wirklich Ehre; sie hat auch Muth, Energie. Er ist – wie ich schon sagte. Er treibt sie zur Verzweiflung. Sie führt einen Dolch bei sich. Die Verzweiflung raubt ihr das Licht des Verstandes. Sie sieht kein anderes Mittel der Rettung.

„Sie greift nach dem Dolche. Sie stößt dem jungen Manne den Stahl in die Brust. Er ist tödlich getroffen und stirbt unter ihren Händen. Sie fällt aus einer Verzweiflung in die andere. Da kommt jener geheimnißvolle Jäger zu ihrer Hülfe herbei. Vielleicht holt sie ihn auch. Was ist zu machen? Das Geschehene entdecken? Es ist ein Mord verübt, kein Act der Nothwehr. Sie brauchte nur ein einziges Mal ernstlich um Hülfe zu rufen und ein Dutzend Menschen waren zu ihrer Hülfe da.

„Also die That verbergen, zunächst den Körper verbergen. Aber wohin mit ihm? Ihn aus dem Hause schaffen?

„Der geringste Zufall mußte Alles entdecken. Draußen mußten Blutspuren entstehen, die, wenn der Leichnam noch fortgebracht werden sollte, zugleich während der Nacht nicht ausgelöscht werden konnten. Zudem wurde am Tage gerade in jener Gegend des Gartens gearbeitet und schon am sehr frühen Morgen fanden sich die Arbeiter wieder ein.

„Auch in der Stube des Fräuleins waren die Blutspuren noch in der Nacht zu vertilgen. Der Körper mußte also im Hause bleiben. Aber wo hier?

„In der Wohn- oder gar in der Schlafstube der Dame? Es war nicht minder gefährlich. Und wer wohnt und schläft gern mit der Leiche eines Ermordeten zusammen? Sie über den Corridor tragen ging vollends nicht an. Es blieb nur das Bibliothekzimmer. Es lag zwar unmittelbar an dem Schlafzimmer der Dame, und sie schlief fast mit der Leiche zusammen, wenn sie dort untergebracht wurde. Allein außer der Dame selbst kam Niemand hin; man konnte da also mit Sicherheit, mit Muße verfahren.

„Die Leiche wurde in das Bibliothekzimmer gebracht. Der Parketboden wurde aufgenommen, in der Erde eine Grube gegraben und in die Grube die Leiche gelegt; alsdann wurde sie wieder zugeworfen und der Parketboden wieder eingesetzt. Die Leiche liegt noch da.“ Der Graf schloß seine Mitteilungen.

Mein Plan war schon fertig, noch bevor er geendet hatte.

„Sie würden sich nicht entschließen, Herr Graf, das, was Sie mir mitgetheilt haben, zum gerichtlichen Protokoll zu wiederholen?“

„Nein, mein Herr. Ich würde mich überhaupt nie wieder dazu bekennen, wenn Sie den Versuch machen sollten, sich auf mich berufen zu wollen.“

„Darf ich fragen, zu welchem Zwecke Sie mir unter solchen Umständen Ihre Mittheilungen gemacht haben?“

„Um Sie zu einem gerichtlichen Einschreiten zu veranlassen, wenn Sie nach dem, was ich Ihnen sagte, dazu eine gesetzliche Verpflichtung haben sollten.“

„Die würde ich nicht haben. Wenn ich Sie recht verstanden habe, so würden Sie später unter allen Umständen mir, wie es in Ihrer diplomatischen Sprache heißt, in Betreff unserer ganzen Unterredung ein vollständiges Dementi geben?“

„Das würde ich.“

„Ihre Anzeige kann also für mich nur den Werth einer anonymen haben.“

„So ungefähr wird es sein.“

„Anonyme Denunciationen soll der Richter nach unsern Gesetzen nicht berücksichtigen.“

„Sie würden also auf meine Mittheilungen nichts veranlassen können?“ Ich zuckte mit den Achseln.

„Ich würde das bedauern. Mein Neffe ist allerdings todt, ich glaube es wenigstens; jedenfalls aber würde eine gerichtliche Untersuchung ihm das Leben nicht zurückgeben können. Ein Mensch, auch ein Graf Ruthenberg, mehr oder weniger in der Welt, ist überhaupt eine gleichgültige Sache. Ich hätte dennoch gern eine gerichtliche Untersuchung gesehen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_259.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)