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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

bestrafter Junge in der Schule, Gymnasiast, Student, Bräutigam, Gatte, Vater, Wittwer, Flüchtling, gefangener, bestrafter und entkommener Preßverbrecher, auf's Neue glücklich, dann erschlagen, beraubt, ausgeplündert, in einen Abgrund geschleudert, versteckt, bedeckt, weggepackt und verloren für ewige Zeiten.

Der letzte Theil dieser Vision lös’te sich jedoch in die Wirklichkeit auf, welche mich aufnahm, in einen entsetzlich stinkenden, unterirdischen, mit Nacht und Ratten und dem Unrath von ganz London gefüllten, trägen Styxfluß, in eine mauergewölbte Ader des riesigen Cloaken-Systems, das London unten zwischen Hunderten von Meilen Gasröhren, Wasserrohren und wieder Gas- und Wasserrohren verschiedener Compagnieen, Eisenbahntunnels und einem endlosen Gewirre elektrischer Drähte in ganzer Länge und Breite durchfurcht und Millionen von Ratten und Hunderten von Menschen eine unterirdische Existenzquelle geworden ist.

Mir sollte es die Quelle des Todes werden! Ich lebte noch, aber mit halbem Körper in einem Fluidum, das mit jedem Athemzuge das Leben ersticken zu wollen schien. Die Fallthür oben war geschlossen. Ohne Führer in dem viele Meilen umherirrenden entsetzlichen Geader – wo sollt’ ich hin? Mit Hülfe meiner Eisenstange, die ich noch festhielt, wand ich mich etwas ab- und seitwärts, und fühlte auf der Seite in dem runden Mauerwerk eine Art Bank, auf der ich Platz nahm, um zu mir zu kommen und den Wahnsinn, der mein Gehirn bedrohte, wo möglich abzuschütteln. Kaum hatte ich mich auf die Bank hinaufgearbeitet, öffnete sich die Fallthür wieder, einige Schritte seitwärts von mir, und ein entsetzlicher Mauersteinregen donnerte und plantschte herunter, hinreichend, einen Ochsen zu zerschmettern. Dann ward es wieder pechfinster. Ich kroch weiter ab mit dem entsetzlichsten Tode um mich, ich weiß nicht, wie lange, bis ich durch einen rothen Schein, der etwa 30 Fuß lang aus dem dunklen Schmutzwasser heraufschoß, aus meiner dunklen Todesmattigkeit aufgeschreckt ward. In dem rothen Scheine entdeckte ich eine Laterne, darüber das noch blutende Gesicht des Schurken, dem ich die Eisenstange in das Gesicht gestoßen, in seiner Hand ein langes Messer. Ich errieth ihn. Mit kaltem Schweiße bedeckt, drängte ich mich in einen kleineren Seitencanal, wobei mein Hut abflog und auf dem trägen Strome fortschwamm. Der Kerl sah ihn, und schien daraus die Ueberzeugung zu schöpfen, daß ich umgekommen sei, denn ich hörte in einiger Entfernung ein Geflüster von oben durch eine Oeffnung, durch welche er, wie ich aus dem Geräusche schloß, in die Höhe gewunden ward.

Werden sie nun nicht kommen, um mich auszuplündern? Ich zweifelte nicht daran. Wie ihnen nun meinen vermeintlichen Leichnam entziehen? In dem Lichtstreifen der Laterne hatte ich gesehen, daß nach der Themse zu abwärts der Cloaken-Inhalt viel höher stand, und an ein Entkommen durch die großen Ausgangsthore an der Themse nicht vor Ablauf der Fluth zu denken war. Ich tappte mich stromaufwärts, wo ich bald etwas Lichtschimmer bemerkte, der durch engere Seiten-Cloaken eindrang. Letztere warm blos durch enge, starke Eisengitter von der Straße oben getrennt. Das Donner- und Knattern des Lebens oben schüttelte zu mir herab, aber ich konnte weder in diese engeren Seitengänge eindringen, noch von da emporschreien. Ich drang weiter aufwärts, nur um zunächst so weit als möglich von meinen Mördern wegzukommen, und sogar in große Verästelungen dieser unterirdischen Steinadern hinein, bis Todesmattigkeit mich zwang, nach einer Stätte zum Ruhen umherzufühlen. Ich fand wieder einen Mauerabsatz unten. Hier schöpfte ich Athem. Hier preßten sich Thränen aus den Augen, als ich das dichte Leben oben donnern hörte, und die Scheidewand um mich festgemauert fand, die mich hier lebendig begraben wollte. Ein entsetzlicher Schmerz an meinem Fuße forderte mich zu einem neuen Kampfe um mein Leben auf. Eine Ratte hatte sich so fest in meine Wade gebissen, daß ich sie nur mit der größten Gewalt abreißen konnte. Kurz darauf hatte ich wohl mit Hunderten zu kämpfen. Ich hörte und fühlte sie von allen Seiten heranspringen, diese entsetzlichen Wölfe der Unterwelt, und mußte mit meiner Eisenstange ununterbrochen stampfen und stoßen, bis ich genug für den Hunger der noch lebenden getödtet haben mochte. Sie schmaußten ihre getödteten Gefährten, und ließen mir einstweilen so viel Ruhe, daß ich meinen Weg weiter fort zu tappen im Stande war. Aber wohin? Unter ein neues Heer hungerwüthender Ratten. Mit den Füßen und meiner Eisenstange verzweifelt dreinschlagend, entkam ich nach langem Kampfe und an Händen und Füßen blutend, athemlos, völlig erschöpft, aber mit der Gewißheit, daß im ersten Augenblicke der Ruhe ich auf’s Neue attakirt und, dem Schlafe nachgebend, bis auf die Knochen aufgefressen werden würde.

Zuweilen fühlt’ ich mich schon ganz fieberhaft bewußtlos, wahnsinnig, und in den Momenten der Besinnung in brausendem, grausendem Entsetzen, daß ich doppelt sterben würde, erst geistig, dann körperlich. Aber ich kämpfte, ich schüttelte das Entsetzen ab, so oft es mich überfiel, und schärfte meine ganze Kraft, auf einen Ausweg zu denken. Kann ich den Ablauf der Fluth der Themse abwarten (das wurde mir als einzige Rettung klar), gibt es einen Ausweg stromab. Deshalb kehrte ich in einem andern entdeckten Hauptcanal um, und verfolgte den Weg abwärts, so lange das träge Gewässer um mich nur die Füße deckte. Mit dem Umsinken und Zusammensinken meines ganzen Körpers kämpfend, bemerkte ich endlich – endlich – wieder einen Lichtschein, vernahm ich ein entsetzliches Geräusch fliehender Ratten und Hundegebell. Dann sah ich Licht und ein Menschengesicht darin. Ein Menschengesicht über einer Hornlaterne, einen Korb hinter sich, einen platschenden, bald schwimmenden, bald am Rande auf mich zubellenden Hund neben ihm, eine ekelhafte, von triefenden Lumpen bedeckte Menschengestalt, aber ich hätte ihn jetzt umarmen und küssen mögen – den rettenden Gott, den ich in ihm begrüßte.

Er folgte dem Hunde und beleuchtete mich lange, ganz erstaunt, ganz sprachlos.

„Wo ist Dein Hund?“ rief er endlich. „Was ist das? Jemand ohne Hund hier? Und noch nicht von den Ratten aufgefressen? Wie kamst Du hierher?“

„Mann, wollen Sie mich an’s Tageslicht bringen?“ rief ich. „Ich will es Ihnen lohnen, lohnen, wie Sie nie belohnt wurden.“

„Freilich will ich das! Aber wie kommen Sie hierher? Fluth noch nicht ’runter, keinen Hund – wie ist’s möglich?“

Ich erzählte ihm mein entsetzliches Abenteuer, nachdem er mir aus seiner Branntweinflasche einen Schluck gegeben. Erst könnt’ er’s lange nicht begreifen, als es ihm aber klar geworden, schwor und wiederholte er unzählige Male, daß er die Kerle in Field-Lane hängen sehen müsse, und sollt’ er die ganze Nacht stehen, um sich einen guten Platz zu sichern.

Er war auf einem extraordinären Wege vor Ablauf der Fluth heruntergekommen, um den Hunderten seiner Collegen, den „Schmutzlerchen“, die in den Kloaken Schätze suchen und zuweilen silberne Löffel, goldene Ringe, Geld und Pretiosen auffischen, zuvorzukommen. Mein Rettungsengel war eigentlich von Profession ein Rattenfänger. In den fashionablen Localen, wo Gentlemen auf die Virtuosität ihrer Hunde im Rattentödten wetten, bezahlt man 8 Pence für’s Dutzend lebendige Ratten. Er hatte schon einen ganzen zappelnden Sack voll und zeigte mir auf unserm noch langen Wege bis zu dem nächsten Ausflußthore noch manche Proben seiner Kunst, auch ein bis zum Skelett abgenagtes Menschengebein, wie man sie nach seiner Aussage öfter da unten findet, ohne daß sich die „Schmutzlerchen“ weiter darum kümmern.

Ich erinnere mich noch, wie er mich an’s Tageslicht führte und wie ich zusammensank. Dann kamen sechs Wochen in einem Hospitale, von denen ich nichts mehr weiß, da sie einem bewußtlos verphantasirten Nervenfieber gehörten. Als ich, zum Bewußtsein gekommen, der Polizei mein Abenteuer erzählt hatte, nahm sie ganz Field-Lane in Angriff. Aber die Schurken hatten Zeit gehabt, die Fallthür unsichtbar zu machen oder ganz zu überdielen. Wenigstens konnte keine Spur davon entdeckt werden. Das alte, professionelle, freche Verbrechen dieser berüchtigten Straße hat aber endlich zu den jetzigen Schritten geführt, durch welche Field-Lane bis auf den Grund und Untergrund zerstört und mit neuen, anständigen Häusern breiter und heiter aufgebaut wird.



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