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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

diese Bitte ab, er wiederholte dieselbe in drei Tagen, in denen er sie nicht besuchte, darauf nach eben so vielen Wochen und Monaten und löste zuletzt das Verhältniß auf diese Weise völlig.

Noch während des Zerwürfnisses mit der Geliebten begann er das „Käthchen von Heilbronn“, diese Perle unserer dramatischen Poesie, zu bearbeiten; im wahren und vollkommenen Sinne eine Perle, die in dem krankhaft erregten Dichtergeiste, wie die Perle in der kranken Muschel sich bildete. Kleist wollte in seinem Drama der ungetreuen, von fremden Einflüsterungen bestimmten Geliebten gleichsam ein Ideal hinstellen, wie man lieben müsse. So entstand jenes bezaubernde Bild Käthchens, deren Liebe gleichsam eine Naturnotwendigkeit, ein magnetischer Instinct ist voll rührender Hingebung und fast übermenschlicher Treue. Der Glaube, daß eine andere Dame seine Verbindung zumeist aus Abneigung gegen ihn gestört habe, vermochte ihn, ihren Charakter verzerrt und übertrieben als intriguante, boshafte Kunigunde seinem Schauspiele zu verflechten. – Auch diese süße Schöpfung des Dichters, das reizende Käthchen, fand bei der ersten Aufführung nur wenig oder gar keine Theilnahme und erst nach seinem Tode die gerechte Anerkennung. Verstimmt und gebeugt durch das fortwährende Unglück des Vaterlandes gesellte sich noch dazu die tiefe Kränkung, daß seine bisher erschienenen Dichtungen so wenig Eingang gefunden hatten. Als er einst mit einer intimen Freundin nach jahrelanger Trennung zusammentraf, sagte er ihr zufällig im Laufe des Gesprächs eine Strophe aus einem Gedichte her. Sie gefiel ihr außerordentlich und sie fragte ihn, von wem das sei. Darüber schlug er sich mit beiden Händen vor die Stirn und sagte im tiefsten Schmerz: „Auch Sie kennen es nicht? O, mein Gott, warum mache ich denn Gedichte?“

(Schluß folgt.)




Der Tod im Casernen-Fleischkessel.

In England, wo die Preßfreiheit und Legionen unbeschränkter Schriftsteller und Zeitschriften alle socialen, politischen und überhaupt öffentlichen Angelegenheiten mit Argusaugen bewachen und Alles, was sie sehen und zu tadeln finden, nach Belieben schonungslos aufdecken können, kommen doch oft Uebel- und Mißstände der ärgsten Art zu hohen Jahren, ehe die Presse und die Oeffentlichkeit nur Notiz davon nehmen. Sie wissen, sie erfahren nichts davon. Nur irgend ein Aufsehen erregendes Ereigniß, das sie beleuchtet, eine Special-Untersuchungs-Commission, specielles langjähriges Studium (wie das Mayhew’s über „Londoner Arbeit und Armuth“, jetzt viele dicke Bände) wirft dieses und jenes grauhaarige, grausame, arge Uebel einmal auf eine Zeitlang an’s Tageslicht. Man spricht, schreibt, parlamentirt selbst darüber und läßt es dann wieder von einem neuaufgescheuchten Schrecken in die Vergessenheit hinabdrücken. Die Entdeckungen, welche Mayhew unter den Armen und Arbeitern Londons gemacht hatte und veröffentlichte, waren in London selbst ganz unbekannt gewesen. Niemand erschrak mehr über diese Londoner Zustände, als – London. Dies erscheint bei dieser Oeffentlichkeit, unbeschränkten Rede-, Versammlungs- und Preßfreiheit dem Uneingeweihten gewiß unerklärlich. Es weiß auch eigentlich Niemand so recht, wie das zugeht. Warum sieht und sagt man Jahre lang nichts von den schreiendsten Uebeln? Für die, welche darunter leiden, existirt keine Preß-, Rede- und Versammlungsfreiheit. Sie können nicht reden, nicht lesen, nicht schreiben, sich nicht versammeln. Oben sieht man’s nicht. Man hat keine Zeit, kein Auge dafür. Man kommt gar nicht in die Residenzen dieser Unterwelt der Verdammten. Es gibt von einander abgeschlossene Gesellschaftsschichten. Keine weiß von der andern, keine versteht die andere, keine will von der andern etwas wissen. „Das ist die Rücksicht, die Elend läßt zu hohen Jahren kommen,“ wenigstens theilweise, denn erklärt ist damit noch nicht Alles.

Es wird uns dabei immer noch in Erstaunen setzen, was jetzt durch eine königliche, parlamentarische und sachverständige, gründliche Untersuchungs-Commission, bestehend aus Sidney Herbert, ehemals Kriegsminister, Dr. Stafford, Chef der Untersuchungs-Commission in den Krim-Hospitälern furchtbaren Andenkens, Dr. A. Smith, Director des Militair-Medicin-Departements, Dr. Sutherland und andere Autoritäten, aus einem Actenstücke von mehreren Tausend Fragen und Antworten an’s Tageslicht, in die Presse und vor’s Parlament kam, nämlich daß die englischen Soldaten zu Hause, im Frieden seit undenklichen Zeiten stets mehr wie doppelt so rasch starben und sterben, als alle Volksclassen ohne Uniform. Das ist das allgemeine, in günstigster Form ausgedrückte Facit der Untersuchungs-Commission, die, aus Beamten und hochgestellten, patriotischen, mit dem Militairwesen verbundenen Personen bestehend, jede Veranlassung hatte, das Uebel in der günstigsten Form auszudrücken. In näherer Beleuchtung ergibt sich zunächst, daß unter den englischen Soldaten aller Waffengattungen eine mehr als doppelt so große Sterblichkeit herrscht, als unter der in Gesundheitssachen am schlechtesten gestellten Classe von Civil-Arbeitern, den Druckern und Setzern, welche nur bei Nacht arbeiten (für alle Morgenzeitungen).

Die Commission macht diese Thatsache noch deutlicher durch weitere angestellte Vergleichungen. Danach ergab sich, daß von je eintausend männlichen Civilpersonen im Alter der mit ihnen verglichenen Soldaten in den gesündesten Districten 7 7/10 Procent starben, von je Tausend Soldaten aber 17 Procent. Die Durchschnittssterblichkeit von je 1000 Civilpersonen ist 8, von je 1000 Soldaten 17 bis 18. Noch näher. Von je 1000 Civilpersonen 25 bis 30 Jahre alt starben 4, von je 1000 Soldaten desselben Alters 18. Dieselbe Vergleichung für das Alter 30 bis 35 Jahre gibt für erstere 10, für letztere wieder 18; für das Alter von 35 bis 40 im erstern Falle 11, im letztern 19. Auch das Verhältniß der Sterblichkeit unter einzelnen Truppengattungen hat man ermittelt. Von je 1000 Mann Leibgarde starben 11, Dragoner 13, Linien-Infanterie 17, Fußgarde, diese Blume der Armee, 20. Uebersichtlich genommen starben in den letzten 15 Jahren (bis zu 1853) von eben so vielen Civilpersonen, als es Soldaten gab, und im Soldatenalter 16,211, von der Soldatenzahl aber 41,928. Es starben 42,000 Soldaten mehr, als nach dem Sterblichkeitsdurchschnitte unter Civilpersonen.

Wer hat diese Armee von 42,000 Mann mitten im Frieden unter den Rasen gebracht? Wer war dieser furchtbare Feind, der eine Armee von 42,000 englischen Soldaten zu Hause, im Frieden vernichtete? (Notabene sind alle außerhalb beschäftigten Truppen und deren Sterblichkeit ganz von der Untersuchung der Commission ausgeschlossen geblieben.) Es war keine Revolution, kein Bürgerkrieg zu Hause, kein Feind in London. Nun, wer ist’s gewesen? England selbst, das militärische Gesetz Englands, die Caserne, die Casernenküche.

Die 42,000 Mann sind an ihrer Nahrung gestorben, blos an ihrer Nahrung. Die Commission sagt’s und über 3000 Antworten auf mehr als 3000 Fragen bestätigen es. Auch sind’s viel mehr als 42,000 Mann, wie die Times in einem ihrer kaustischen Leitartikel darüber auseinander setzte. Wilde Völkerstämme, sagt sie, sind oft vortheilhaft durch ihre ausnahmslose Gesundheit und Kraft aufgefallen: sie tödten jedes schwächliche oder mißgestaltete Kind. Daher kommt’s. Unsere Militärbehörden, fährt sie fort, machen’s eben so, nur in einer anständigeren und nicht gut zu umgehenden Form. Der gekaufte englische Soldat verkauft sich allemal auf 21 Jahre (Cavallerie 24). Wer sich aber in den ersten drei Jahren nicht kräftigt, schwach oder dauernd kränklich wird, den verabschiedet man. So sichert man sich eine gesunde, kräftige, auserlesene Armee. Unter den in Vergleich gekommenen Civilpersonen findet keine solche Ausrangirung statt, im Gegentheil, die kranken, verabschiedeten Soldaten zählen unter ihnen mit. Unter gleichen Verhältnissen würde sich daher die im Durchschnitt mehr als doppelte Sterblichkeit unter den Soldaten (2,2) gegen die unter Civilpersonen etwa auf’s Dreifache stellen.

Also dies kommt aus der Küche. Diese 42,000 Soldaten mußten sich auf Commando todt essen. So ist’s.

Die Commission sagt: Wenn der Gesundheitszustand unserer Armee eben so gut wäre, als der der Leute, aus welchen sie rekrutirt wird (den niedrigste-, ärmsten, entbehrendsten Classen), würden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_223.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)