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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

läßt, hinüber zu gehen in’s Eldorado, nicht der Auswanderer, sondern der Auswanderungsagenturen, was bleibt ihm gewöhnlich? Das Loos, ein Handarbeiter zu werden, ein Bauernknecht oder ein Schneider, wenn er nicht das Schreinerhandwerk vorzieht. Und Monate braucht er, um sein neues Handwerk gewohnt zu werden, Monate, es zu erlernen! Und wenn ihm das Geld inzwischen ausgeht, so ist sein Loos: – ein Nachtquartier im Hotel Park!

Amerikaner sieht man keine, jedenfalls nur sehr Wenige unter den Gästen von Hotel Park. Wenn ja sich einer darunter befindet, so ist es einer, der vor Jahren vielleicht Hunderttausende besessen und durch einen speculativen Wurf um Alles gekommen ist, auch um den letzten Freund! Oder einer, der früher als Stadtbeamter oder Kaufmann hochgeachtet die Stufen zur Cityhall hinanstieg, nunmehr aber durch Spiel und Freudenhäuser ruinirt, durch Betrug und Schlechtigkeit blamirt, keinen Weg findet, in die alte Gesellschaft zurückzukehren. Wenn’s ein Amerikaner ist, so ist’s jedenfalls ein Auswürfling, ein von Freund und Feind Verlassener. Weit öfter sieht man allda Irländer, aber diese wissen sich auch hier zu trösten und ihr Trost ist der Whiskey, der Branntwein. Der Irländer ist von Hause aus, ohne Ausnahme, an harte Arbeit gewöhnt, und so kann es ihm, auch in den geschäftslosesten Zeiten, wo Tausende brodlos sind, nicht fehlen, daß er sich als Lastträger, Holzspalter, Kohlenfahrer, beim Ein- und Abladen der Schiffe, beim Reinigen der Straßen u. dergl. wenigstens etwas verdient. Er verdient vielleicht in solchen Zeiten, die sich übrigens in Amerika regelmäßig alle drei bis vier Jahre wiederholen, nicht so viel, um sich ehrlich und redlich in einem Kosthause durchzuschlagen, aber er verdient doch immer so viel, daß er sich ein Brod und Whiskey kaufen kann. Und hat er Whiskey, hat er Branntwein, was will er mehr? Zwei Gläser um einen Sixpence (zweit gute Groschen) machen ihn schon taumeln; fügt er das dritte Glas hinzu, so ist er toll, verrückt, wahnwitzig und dann sieht er die steinernen Stufen von Cityhall für ein Bett an, das die Houris des Paradieses gemacht haben. Der andere Morgen findet ihn wie zerschlagen, gerädert, zermalmt, seine Augen triefen, seine Zunge klebt ihm am Gaumen, seine Glieder zittern vor Frost und Hitze, aber – ein Glas Whiskey und Alles ist wieder im Blei, und er bringt die nächste Nacht eben so vergnügt im Hotel Park zu, als im Hotel Sanct Nicolas! –

Aber nicht Amerikaner und auch nicht Irländer sind die Hauptbesucher von Hotel Park. Deutsche sind’s, und zwar zu mehr als drei Vierteln Deutsche! Diese sind die eigentlichen Stammgäste. Und wie kann es anders sein? Sie kommen hinüber in’s ferne Land, ohne der dort herrschenden Sprache mächtig zu sein. Sie sind also die Letzten, auf die ein Amerikaner beim Beschäftigunggeben Rücksicht nimmt! Sie kommen hinüber zum Theil ohne ein praktisches Geschäft, ohne ein Handwerk zu verstehen, wie sollen sie sich fortbringen in einem Lande, das durch und durch praktisch ist, in einem Lande, wo Wissenschaft und Kunst erst anfangen, Wurzeln zu schlagen? Wißt Ihr, wie viel Professoren und Doctoren (nicht Medicinae, aber Philosophiae und Juris utriusque) in Newyork und Pennsylvanien an Canälen und Eisenbahnen arbeiten, weil es für sie unmöglich war, mit geistiger Beschäftigung ihr Fortkommen sich zu erwerben? Ihre Anzahl beträgt viele Hunderte und das Ende ihres traurigen Geschicks ist: Stammgast im Hotel Park zu werden! Nie erfahren ihre Verwandten und Angehörigen in Deutschland ihr Loos, denn sie schämen sich, die Wahrheit heraus zu berichten. Sie sterben unbekannt und unbeweint. „Es ist nur ein armer Dutchman, der auf dem Armenkirchhofe in Pottersfield eingescharrt wurde!“

Noch immer sehe ich ihn vor mir, den dicken Professor aus M. Er verstand Latein, Griechisch und Hebräisch. Er verstand Mathematik, Numismatik und noch vieles Andere. Er kam herüber, weil er sich drüben im alten Vaterlande mit seiner Behörde überworfen hatte; er wollte den Amerikanern Unterricht geben. Wie konnte es einem Manne mit so vielen Kenntnissen fehlen? Er hatte auch etwas Englisch gelernt, nach der Grammatik; aber wie er nach Newyork kam, sah er ein, daß er eigentlich gar nicht Englisch verstehe, denn er vermochte es nicht, auch nur den einfachsten Satz zu sprechen. Er glaubte Englisch zu verstehen, aber kein Mensch verstand ihn! Zwar gib er sich Mähe, unsägliche Mühe, und nach einem Vierteljahre konnte er sich erträglich ausdrücken und das Allergewöhnlichste auf Englisch verlangen, aber was nützte es ihm? Kein Mensch wollte Griechisch oder Lateinisch oder gar Hebräisch lernen; kein Mensch dachte daran, Mathematik oder Numismatik zu studiren. Er wandte sich an Dutzende von Instituts- und Collegien-Vorstehern. Alle Stellen waren besetzt und Viele, Viele hatten sich vor ihm gemeldet, die auf die erste vacante Stelle mit Schmerzen warteten. Vor Jahr und Tag war gar nicht daran zu denken, placirt zu werden, und wenn er sich in eine andere Stadt gewandt hätte, so hätte er hier wieder mit dem Suppliciren von vorn anfangen müssen. So blieb er, aber von Tag zu Tag wurde er magerer, von Tag zu Tag blässer. Er logirte so wohlfeil, als nur immer möglich; er speiste in dem gewöhnlichsten Eßhause, ja, am Ende schränkte er sich so ein, daß er nur noch einmal des Tages aß. Vom Trinken, d. h. vom Bier- oder Weintrinken war ohnehin schon lange keine Rede mehr. Diesen Luxus hatte er schon nach den ersten vier Wochen aufgegeben. Aber dennoch schrumpfte sein Geldbeutel immer mehr zusammen und er konnte den Tag genau voraussehen, wenn förmliche Ebbe eintreten mußte. Auf einmal war er verschwunden. Kein Mensch wußte, wo er Hingerathen sein konnte. Wer kümmerte sich auch viel darum? In einem so selbstsüchtigen Lande, wie Amerika, hat Jeder für sich selbst zu sorgen, und wenn man auch hier und da nach einem Andern fragt, so geschieht’s mit solcher Gleichgültigkeit, daß man wohl sieht, es kommt nicht vom Herzen. Plötzlich war er wieder da, aber, Gott im Himmel, wie sah er aus! War er vorher schon blaß und mager gewesen, so war er jetzt zum Skelett geworden. Er hatte am Canal gearbeitet, aber nur drei Wochen lang hatte er es ausgehalten, dann warf ihn die ungewohnte Arbeit und die ungesunde, sumpfige Luft in ein Fieber und mit dem Fieber in’s Spital, daß er nicht mehr hoffen konnte, lebendig davon zu kommen. Und doch kam er davon! Er schleppte sich nach Newyork, ohne Geld, ohne Hoffnung, mit gebrochenem Herzen. Das Hotel Park ward jetzt sein Boardinghouse (d. i. Kost- und Logishaus). So trieb er’s noch vierzehn Tage. Da fand man ihn eines Morgens halb erstarrt, halb verhungert, halb erfroren. Man brachte ihn in’s Spital. Einige Landsleute hörten von ihm und sammelten einige wenige Gaben. Noch einmal konnte er sich gütlich thun an deutschem Wein, aber nur noch einmal. Er starb schon den zweiten Tag; seine Kräfte, so wie sein Muth war gebrochen. Man schleppte seine Leiche nach Pottersfield, wo die „Lumpen und Selbstmörder“ liegen. Was kann ein deutscher Professor in Amerika mehr verlangen?

Einem Andern ging’s besser, ja, das Hotel Park wurde der Gründer seines Glückes. Er war zwar kein Professor, auch kein Doctor, wohl aber ein Kaufmann, und noch dazu ein sehr junger und sehr geschickter, der verschiedene lebende Sprachen verstand und sogar ziemlich viel vom Englischen. Seine Eltern waren reiche Leute in Deutschland, und somit wurde er im Reichthum erzogen und lernte Ansprüche machen, wie es die Reichen thun. Da starb sein Vater und es zeigte sich, daß der Reichthum desselben auf einem hohlen Grunde gestanden hatte. Man sprach den Bankerott über seinem Grabe aus und die Mutter folgte ihm dahin in kurzer Zeit nach. Der reich erzogene Sohn schämte sich, im alten Vaterlande eine Stelle anzunehmen; er glaubte, man deute dort mit Fingern auf ihn. So ging er nach Amerika. Natürlich dachte er, es könne ihm bei seinen kaufmännischen Kenntnissen nicht fehlen. Allein der Mensch denkt, Gott lenkt. Er fand keine Stelle, wie er eine ansprechen zu dürfen glaubte, und als er einmal einen geringeren Platz auf einem Comptoir, der ihn doch wenigstens ernährt hätte, erhalten konnte, schlug er ihn als „zu gering“ aus. Der deutsche Hochmuth war ihm noch nicht vergangen! Aber bald verging es ihm. Das mitgebrachte Geld verschwand, ein Kleidungsstück nach dem andern verschwand ebenfalls, und als Nichts mehr zum Versetzen da war, wurde das Hotel Park sein Nachtquartier. Wie da sein Rock, der einzige, den er noch hatte, bald aussah, kann man sich denken! Eines Abends, als er sich eben in sein „Hotel“ zu früherer Stunde als gewöhnlich – er konnte vor Hunger kaum mehr gehen – zurückziehen wollte, begegnete ihm ein Mädchen. Es war die Tochter seiner Amme und fast mit ihm aufgewachsen.

„Sind Sie’s, Herr Wilhelm?“ rief das Mädchen erschrocken, denn der Jüngling, den sie sich nur als den Sohn des reichen Fabrikanten denken konnte, sah gar zu herabgekommen aus. Zwar hatten sie sich in Newyork schon öfter gesehen, – das Mädchen

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