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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

nach dem Zusammenbruch eines alten sich sobald wieder herzustellen, hält eben in der Wirklichkeit eines großen Stadtlebens, wo Hunderttausende sich bewerben, viel schwerer, als man sich in Deutschland gewöhnlich einbildet. Es kann unter Umständen Monate, ja Jahre gehen, bis man wieder festen Sitz hat – wer weiß, auf wie lange! –

Nun kam zur Kränklichkeit die Zeit der Trübsal und Thränen, das Heimweh, ja die bitterste Leibesnoth. Der gutmüthige Vetter zahlte mehrere Male den Miethzins für die Unglücklichen, unterstützte sie nach Kräften und über seine Kräfte, bis er endlich aus Pflichtsorge für die eigene Familie genöthigt war, seine Verwandten ihrem Schicksal zu überlassen.

Als der Zins für die monatliche Hausmiethe wieder verfallen war, und die ehrliche Zahlangst die Armen auf’s Bitterste bedrängte, begab sich Wanda zum Hauseigenthümer, Herrn Black, und entschuldigte sich auf’s Allerdemüthigste damit: sie würden erst andern Tags ihren Arbeitslohn in Empfang nehmen, er möchte sich deswegen gedulden, sie wollten ihn dann redlich bezahlen.

Unterdessen war dem Herrn May folgender Brief von seinen Cousinen zugekommen, der wörtlich also lautete:

          „Werther Herr!
„Da wir die Vereinigten Staaten für immer zu verlassen beabsichtigen, so senden wir Ihnen hiermit Ihr Bildniß zurück. Sie würden uns verpflichten, wenn Sie nach unserer Abreise einige unserer Effecten für uns nach Europa senden wollten. Unsere Absicht mag Ihnen auffallend erscheinen, obwohl nichts natürlicher ist. Wenn Sie uns jene Gefälligkeit erzeigen wollen, so geben Sie meiner Schwester Wanda ein Zeichen durch Oeffnen und Schließen Ihres Fensters. Dieselbe wird Sie um 12 Uhr in Franklinstreet, zwischen Broadway und Churchstreet, erwarten. Wenn Sie nicht da sind, dann leben Sie wohl auf ewig!
Cäcilie.“ 
New-York, 3. September 1855.

Zum Unglück gelangte der Brief nicht rechtzeitig an seine Adresse, daher es Herrn May nicht möglich gewesen war, an dem bezeichneten Orte mit Wanda zusammenzutreffen. Deswegen schrieb Herr May einen Entschuldigungsbrief an seine Cousinen, und weil der Knabe, der den Brief übergeben sollte, die Thüre fest verschlossen fand, so legte er, einen Ausgang der beiden Schwestern vermuthend, den Brief in die Spalte zwischen Thür und Schwelle, damit sie ihn bei der Rückkehr in’s Haus fänden.

Als Herr Black, der Hausbesitzer, ein paar Tage weder die Schwestern noch den Knaben gesehen hatte, überkam ihn eine bängliche Verwunderung, da er sich zugleich eines neulichen Gesprächs mit Wanda erinnerte, die ihm sagte: „Wenn die Arbeitsstockung noch einige Zeit so andauern sollte, dann wüßten sie keine andere Hülfe, als den Knaben zu seinem Vater nach Frankreich zurückzusenden, und ihrem eigenen Leben durch Gift ein Ziel zu setzen.“

Mit schreckhafter Ahnung eilte der Hausherr nun zur Zimmerthür der beiden Schwestern, die er fest verschlossen fand, von welcher aus aber bereits ein böser Geruch sich verbreitete. Mit Hülfe herbeigerufener Nachbarn stieß er die Thüre ein – und unbeschreiblich – zum Erstarren war der Anblick, der den Eindringenden sich darbot!

Wanda lag als Leiche auf dem Bett, aus ihrem Munde floß Blut und Schaum und benetzte ihre reichen und schönen Haare. Ein trübes Blauschwarz bedeckte ihr Antlitz, sowie ihre schön gerundeten Arme, die sich über die Brust gekreuzt hatten. Ihr todtes Knäblein lag an ihrer Seite, mit dem Gesicht gegen die Wand gewendet. Ihre Schwester Cäcilie lag unweit des Bettes der Mutter- und Kindesleiche auf dem bloßen Fußboden ausgestreckt; ein Stuhl war über sie gestürzt, den sie wahrscheinlich im Herabfallen vom gemeinschaftlichen Sterbebett und im Todeskampf mit sich niedergerissen hatte. Auf einem Tische nebenan standen noch Reste von zwei Fläschchen Blausäure.

Das ganze Zimmer verkündete schon in seinem Aeußern die bitterste Armuth – nur ein einziges Bett für drei Personen, eine elende, kümmerliche Lagerstätte – leere Ecken und öde Wände, schon längst durch Nothverkäufe, Pfandverleiher-Hülfe und derlei Tröster kahl gemacht und geplündert! – Wenige alte Bücher (wir bedauern, daß Titel und Inhalt nicht auch bekannt geworden sind) fanden sich im Zimmer, und ein Laib Brod, in dem noch das Messer steckte, zur Hälfte aufgegessen.

Die Gräber auf den Todtenfeldern der Armen und Verunglückten tragen keine Namen, blos Nummern, und wenn sich irgend ein Theilnehmender die betreffende Nummer nicht merkt, so hat er auch die Möglichkeit verloren, die Ruhestätte irgend eines Todten je wieder aufzufinden.




Blätter und Blüthen.


Eine seltsame Ahnengallerie. Die katholische Kirche von Szent-Ivanyi, einem Dörfchen in Nord-Ungarn, liegt in schmuckloser Einfachheit auf einem kleinen Hügel; ihr höchst verwittertes Aussehen, so wie der Umstand, daß sie mit einer hohen, dicken und kreisrunden Mauer umgeben ist, weisen darauf hin, daß sie zu den ältesten Gotteshäusern Ungarns gehört, und aus authentischen Dokumenten geht hervor, daß dieselbe schon unter der Regierung Andreas des Zweiten, 1205–1235, beraubt wurde; das eigentliche Jahr ihrer Erbauung ist unbekannt.

In jene das Gotteshaus umgebende Ringmauer ist auch ein thurmähnliches, feuerfestes Häuschen hineingezogen, welches der Familie Szent-Ivanyi, den Besitzern des Ortes – deren ehemalige Familiengruft diese Kirche enthält – von jeher als Archiv diente.

Innerhalb dieser Mauer und im Schatten derselben befindet sich der sogenannte Giftbrunnen. Ein rundes Becken, das einige Schuh im Durchmesser hat, enthält ein Wasser von dunkler Farbe – gleich einem fahlschwarzen Sumpfe. Blätter, Baumäste und andere Dinge, die darin herumschwimmen, sind mit einem schwarzen Schleime überzogen; fortwährend aus der Tiefe aufsteigende Blasen, welche an der Oberfläche des Wassers platzen und übelriechende Dämpfe verbreiten, erhalten den Spiegel in steter Bewegung. Die Tiefe des Brunnens beträgt nicht über zwei Schuh, und seine Ausströmungen sind bei längerem Verweilen schwindelerregend, jedoch an Stärke und Intensität nicht immer gleich; am kräftigsten vor Sonnenaufgang, es werden daher auch sehr oft des Morgens die Leichen kleiner Vögel im Brunnen schwimmend gefunden. Bemerkenswerth ist übrigens, daß einige Bewohner des Ortes das Wasser des Morgens zu trinken pflegen, und daß eine vor mehreren Jahren verstorbene Dame des Ortes, bei stetem Gebrauch desselben achtzig Jahre alt wurde. Schlicht und einfach, wie das Aeußere des Kirchleins, ist auch die innere Einrichtung, mit einem dem schmucklosen Altare gegenüberstehenden Chore und zwei Kirchstuhlreihen. Am Ende dieser Reihen, unter dem Chore, befindet sich das Grabgewölbe mit den unverwesten Leichen. Viele Lebende vom höchsten Range haben diese Todten schon besucht, unter andern auch der letztverstorbene Palatin von Ungarn. Die Erlaubniß dazu wird Personen, von denen zu erwarten steht, daß sie die geweihte Stätte mit andachtsvollem Ernste betreten, von dem Patron der Kirche und dem würdigen Pfarrer mit der rühmlichsten Bereitwilligkeit ertheilt, obwohl die Eröffnung der Gruft mit Mühe verbunden ist, da ein Theil der Kirchstühle weggeräumt, und der Boden aufgebrochen werden muß.

In einem dunkeln Grabgewölbe ohne Licht und Luft von außen stehen die Särge von Jahrhunderten bis an die Oeffnung des Eingangs aufgeschichtet. Die jüngste Leiche dieser ernsten Grabesstätte schläft sechzig Jahre in derselben, denn unter der Regierung des großen Kaisers Joseph II. erging ein Verbot, welches die fernere Bestattung von Leichen an diesem Orte untersagte, aus Gründen, die uns unbekannt sind.

Dieses Leichenhaus – mit seinen breternen Kammern, das die ihm anvertrauten todten Menschen auf so treue Weise bewacht, gewährt einen eigenthümlichen Anblick. Von den hölzernen Särgen hat die Zeit den Schmuck des umhüllenden Sammets größtentheils herabgerissen und nur einzelne Fetzen desselben flattern noch hernieder, festgehalten von den Messingnägeln, mit welchen der Name des todten Miethsmannes an der Außenseite seiner letzten Wohnung ausgeschlagen ist. Die Deckel liegen lose und leicht auf den Särgen und der Verfasser der „Nachtstücke in Callot’s Manier“ hätte sich bei diesem Anblicke kaum des Gedankens erwehrt, daß sich diese Todten um Mitternacht zuweilen zu einem feierlichen Familiencongreß in der Kirche über ihren Häuptern versammeln, wo ihre Wappentafeln von den Pfeilern auf sie herunterblicken. In dem ersten Sarge zunächst dem Eingänge schläft eine Ureltermutter der jetzigen erwachsenen Generation den Schlaf des Friedens. Die Leiche ist bis zur äußersten Magerkeit abgezehrt, aber nicht nur die Gesichtszüge, sondern selbst die Haare, Nägel, Augen vollkommen unverändert. Das Gesicht ist etwas dunkler, aber auffallend zart ist die Farbe der Haut an den gefalteten Händen geblieben, auch lassen sich die Glieder sämmtlicher Leichen in den Gelenken bewegen und sind daher nicht, wie an Mumien, zerbrechlich. Nicht nur diese erste Leiche, sondern auch ihr Anzug war vollkommen wohl erhalten, besonders an den seidenen Bändern nicht eine Spur von verbleichenden Farben oder moderndem Gewebe zu erblicken, während die wollenen und leinenen Stoffe dem Auge mehr angegriffen erschienen. Sie trug das moderne Nationalcostüm der damaligen Zeit, eine Haube mit blauseidenen Bändern, ein ungarisches Mieder mit Goldschnüren, ein grünseidenes Oberkleid mit Gold gestickt, und war in eine weiße gehäkelte Wollendecke, vielleicht ein letztes Andenken aus frommer Tochterhand, gehüllt. – Die zweite Leiche war die eines Kindes, zart, wie eine eben abgefallene Blüthe; dann kam ein junges Mädchen mit langem Haar und einem Blumenstrauße am todtwelken Busen, dessen einzelne Blumen vollkommen erkennbar sind; hierauf ein über sechs Fuß großer, stattlicher, alter Herr, mit langem grauen Schnurrbarte und unverändert freundlichen Gesichtszügen, in altungarischer Tracht. – Und so steht in langer Reihe Sarg an Sarg, Halm an Halm, die „Saat gesäet von Gott.“ W. B.     


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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