Seite:Die Gartenlaube (1858) 149.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

sind nun aber alte Leute vor Allem zu warnen, was Schlagfluß (s. Gartenl. 1855. Nr. 19.) veranlassen könnte.

Krankheiten, die meistens gefährlicher als in den früheren Lebensaltern sind, ziehen sich Alte vorzüglich durch Erkältungen der Haut, Einathmen kalter, unreiner Luft, Verstöße im Essen und Trinken, sowie durch zu starke körperliche und geistige Anstrengungen zu. – Arzneimittel sind hierbei möglichst selten anzuwenden; dringt aber ein Greis aus Altersdummheit auf Arzneien, dann nehme er homöopathische, denn diese sind ja = 0, d.h. gleich Nichts und für Dumme. Vorzüglich mögen sich alte Leute vor Abführmitteln, überhaupt vor Entziehungscuren, hüten; Greise befinden sich bei träger (aber nicht harter) Leibesöffnung am besten; sie ist durch Klystiere zu reguliren. – Schließlich will ich alten Leuten noch rathen, sich hübsch mit Ruhe und Verstand in die Beschwerden zu fügen, welche das Alter naturgemäß mit sich bringt. Leider haben aber Alte selten noch soviel Verstand, und anstatt sich zu fügen, wollen sie vom Arzte mit Gewalt jung curirt sein, und das läuft in der Regel schlecht ab.

Bock.





Vom alten Heim.

In seiner Wohnstube saß der alte Geheimrath Heim, der berühmteste und genialste Arzt zur damaligen Zeit. Man konnte sich keine ehrwürdigere und mehr Vertrauen einflößende Gestalt denken. Weiße Locken umgaben seine intelligente Stirn, die scharfen blauen Augen verriethen einen hohen Grad von Beobachtungsgabe, vereint mit einer herzgewinnenden Gutmüthigkeit. Trotz des vorgerückten Alters hatte er sich eine jugendliche Frische des Geistes und des Körpers bewahrt. Während er sprach, schwebte ein freundliches Lächeln um seine Lippen und seine Worte trugen den Stempel eines gesunden Humors, einer Heiterkeit, die aus einem zufriedenen Gemüthe und einem ruhigen Gewissen ununterbrochen wie ein reiner Quell hervorsprudelten. – Er war mit einem dunkeln Schlafrock bekleidet, den er jedoch bald wieder ablegte, um sich für seine Visiten umzukleiden. Während er sich anzog, standen mehrere junge Mediciner und seine Assistenzärzte um ihn, mit denen er sich unterhielt, ihnen seine Erfahrungen aus einer großen Praxis mittheilend oder ihre Berichte mit Aufmerksamkeit entgegennehmend. Er sprach mit ihnen wie ein älterer Freund mit seinen jüngeren Collegen. Da war nichts von Ueberhebung, Stolz oder Anmaßung in seinen Reden zu bemerken. Sie dagegen behandelten ihn wie treue Söhne einen Vater; sie leisteten ihm willig allerlei kleine Dienste; der Eine half ihm beim Anlegen der Weste und des Halstuches, der Andere brachte den blauen Rock herbei und unterstützte ihn beim Anziehen desselben. – Unterdeß hatte der treue Diener den bekannten Schimmel aus dem Stalle geführt, denn der alte Herr besuchte seine Patienten meist zu Pferde; das war eine Eigenthümlichkeit des originellen Mannes, die er bis in das späteste Alter beibehielt.

Eben schickte er sich an, seine täglichen Krankenbesuche abzustatten, als sein hochgestellter College, der Staatsrath Hufeland, in das Zimmer trat, um ihn zu einer Consultation bei einem vornehmen Patienten abzuholen. Beide Aerzte sprachen zuerst von dem vorliegenden Falle, worauf sie auf andere medicinische Gegenstände von Interesse übergingen. Wie es meist bei Aerzten zu geschehen pflegt, waren ihre Meinungen in vielen Punkten abweichend, und besonders konnte sich Hufeland nicht über eine neue Behandlung des Wechselfiebers zufrieden geben, welche Heim in der letzten Zeit eingeschlagen hatte. Man befand sich damals zur Zeit der bekannten, von Napoleon verhängten Continentalsperre. Durch diese Maßregel, welche den Handel mit England gänzlich lähmte, war der Preis aller ausländischen Producte und besonders einiger Arzneistoffe, wie der beim Wechselfieber bisher gebrauchten Chinarinde, um das Zehn- und Zwanzigfache gestiegen, so daß ihre Anwendung bei armen Leuten fast unmöglich wurde, weil sie den theueren Preis nicht erschwingen konnten. In dieser Noth hatte sich Heim um ein anderes Mittel umgesehen und dasselbe im Arsenik gefunden, den er natürlich in sehr kleinen Dosen fast in allen Fällen verabreichte. Hufeland scheute sich vor dem Gebrauche des Giftes und machte seinem Freunde und Collegen die eindringlichsten Vorstellungen.

„Wie kannst Du,“ fragte er ihn in dem ihm eigenen salbungsvollen Tone, „bei Dem dort oben es verantworten, daß Du Deine Kranken mit einem so gefährlichen Gifte behandelst?“

Heim’s Mund verzog sich bei dieser Frage zu einem leisen, sarkastischen Lächeln.

„Wenn Der mich fragen wird,“ antwortete er schmunzelnd, „so werde ich ihm sagen: Alter, das verstehst Du nicht!

Dabei klopfte der lose Spötter gutmüthig seinem Collegen auf die Schulter, so daß dieser nicht zweifeln konnte, daß er selber eigentlich mit dem „Alten“ gemeint sei. Ein wenig empfindlich, aber doch nicht böse, entfernte sich Hufeland mit seinem Freunde, um den vornehmen Patienten zu besuchen. Sie fanden den Kranken in einem höchst gefährlichen Zustande und Beide hatten keine Hoffnung, ihn zu retten. Sie waren vollkommen darüber einverstanden und verschrieben mehr zur Beruhigung der Angehörigen eine Medicin, ohne sich die geringste Wirkung zu versprechen. Da Hufeland sehr beschäftigt war, so versprach Heim, nach einigen Stunden nachzusehen, obgleich er selbst nicht glaubte, den schwer Leidenden noch am Leben zu treffen.

Sein nächster Besuch galt einem eingefleischten Hypochonder, der ihm mit einem ganzen Heere von eingebildeten Klagen entgegenkam. Heim verordnete ihm eine an sich ganz gleichgültige Medicin mit dem Zusätze, nach jedem Löffel desselben mindestens eine halbe Stunde im anhaltenden Schritte zu gehen.

„Wenn Sie,“ fügte er mit ernstem Gesichte hinzu, „diese Verordnung nicht ganz pünktlich befolgen, so kann ich für nichts stehen, da das Mittel sonst Ihnen nicht allein nichts nützen, sondern geradezu sehr schaden kann.“

Der furchtsame Patient gelobte den strengsten Gehorsam, und Heim verließ ihn auch in dieser festen Ueberzeugung. Er hatte seine Absicht erreicht, und was ihm durch gütliches Zureden bisher nicht gelungen war, setzte er durch diese kleine List durch. Der Kranke, dem es einzig und allein an Bewegung fehlte, wurde auf diese Weise von seinen Leiden befreit.

Heim gehörte nicht zu den Aerzten, die mit dem „Verschreiben“ Alles abgethan glauben; er besaß einen hohen Grad von Lebensklugheit und Menschenkenntniß, woran es jüngeren Aerzten häufig fehlt. Das Wissen thut es nicht allein, sondern weit mehr noch der angeborene Scharfblick und der praktische Verstand.

Nachdem Heim noch eine Menge von Patienten besucht, kehrte er zu dem Kranken zurück, den er mit Hufeland am Morgen gesehen. Der Zustand hatte sich so bedeutend verschlimmert, daß keine Rettung möglich schien. Nach dem Glauben der Umgebung lag der Leidende bereits in den letzten Zügen, aber der schärfer sehende Arzt erkannte unter der Larve dieser drohenden Symptome ein gewaltsames Ringen der Natur, eine wohlthätige Krisis, welche er unterstützen zu müssen glaubte. Schnell entschlossen, verordnete Heim ein Brechmittel. Die Angehörigen waren nicht wenig betroffen, aber sie wagten nichts dagegen zu reden. Trotz ihres Vertrauens in den berühmten Arzt schickten sie aber heimlich nach dem Staatsrath Hufeland. Heim erklärte, die Wirkung seiner Verordnung abwarten und, bis diese eingetreten sei, dableiben zu wollen. Er selbst reichte dem Patienten das Brechmittel, sobald dasselbe aus der Apotheke kam. Wider Erwarten trat nach dem Einnehmen der Medicin eine auffällige Besserung ein, so daß der von allen Seiten aufgegebene Patient sich sichtlich erholte.

Unterdeß war der Staatsrath Hufeland in größter Eile angelangt, überzeugt, eine Leiche anzutreffen. Ohne sich nur den Kranken anzusehen, nahm er Heim bei Seite und überhäufte seinen Collegen mit Vorwürfen.

„Mein Gott,“ rief er erschrocken aus, „wie konntest Du es wagen, einem Sterbenden ein Brechmittel zu geben? Welche Gründe hattest Du für eine so unverantwortliche Handlungsweise?“

„Das kann ich Dir nicht sagen,“ antwortete der bescheidene Heim mit einer fast kindlichen Einfalt. „Wissenschaftliche Gründe weiß ich Dir auch eigentlich nicht anzugeben, aber der Mensch sah mir so aus, als ob er brechen müsse.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_149.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)