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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

No. 10. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Das Schachtgespenst.
Von Ludwig Storch.


I.
Osterwasser.

Kaum ist die erste Stunde des Ostertags vorüber, der erste junge Lichthauch taucht eben am östlichen Horizonte über den Dächern einer süddeutschen Stadt auf, und sein schwacher Schein mengt sich mit den fliehenden Schatten der Mitternacht, da fährt ein junges Mädchen rasch aus dem ärmlichen Bette hoch oben im engen, auf der Hofseite des stattlichen Hauses gelegenen, freundlichen und friedlichen Dachkämmerlein, wirft das Röcklein über, stellt sich auf die nackten Füße, öffnet das kleine Fenster und schaut in die frische Frühe der Dämmerung hinaus. Die reine Luft der Höhe fluthet ihr um die warme keusche Brust. Es ist ein gar holdes, freundliches Bild, dieses Mägdlein von kaum sechzehn Jahren, mit den gesundheitblühenden Wangen, noch unberührt vom Giftbrodem der großen Stadt; ihr rundes blaues Auge schaut so rein und verwundert über die Firsten und Schornsteine der Dächer. Und welch einen ungewöhnlichen Hintergrund hat das reizende Bild! Das Dachkämmerlein ist so artig aufgeputzt und so blank, wie ein neuer Schrein. An der Wand ein Hangebretchen voll Bücher, daneben eine alte aber gute Guitarre, auf der Kommode Notenhefte. Es ist unverkennbar: ein paar Musen wenigstens besuchen dieses Kämmerchen. Die hübsche Bewohnerin faltet die Hände zu einem stummen Gebet. Denn sprechen darf sie bei Leibe kein Wort. Sie weiß ja, was sie vor hat: sie will Osterwasser schöpfen. Das hat ihr die Mutter, als sie von derselben in die Stadt in den Dienst der verwittweten Frau Kanzleiinspectorin gebracht wurde, auf die Seele gebunden.

„Versäume um Deines Heils willen nie, Osterwasser zu schöpfen, und Dich damit zu waschen, aber bevor Du Alles beendet hast, darf kein Laut über Deine Zunge kommen.“ So hatte ihr die Mutter anbefohlen und geheimnißvoll hinzugesetzt: „Du sollst sehen, es bringt Dir Glück. Wer sich aber verlocken läßt, zu sprechen, dem schlägt das Glück leicht in das größte Unglück um. So erging es meiner eignen Mutter – Gott hab’ sie selig! Sie hatte, wie mir ihre Freundin oft erzählt hat, in dem Augenblick, als sie aus dem Fluß schöpfen wollte, einen Wortwechsel mit einem Menschen und gerieth, Gott weiß, auf welche Weise, in’s Wasser, worin sie umkam.“

Unwillkürlich flog die Erinnerung an diese Worte durch des Mägdleins Seele; sinnend verweilte sie bei der räthselhaft verunglückten Großmutter.

„Du sollst sehen, es bringt Dir Glück!“ wiederholte sie unwillkürlich stumm in Gedanken die Worte der Mutter. Dann setzte sie mit einem Seufzer hinzu: „Wer kann denn Glück besser brauchen, als ich, die arme verwais’te Schullehrerstochter! Ach, wenn mein guter Vater hätte ahnen sollen, daß sein Liebling als Magd dienen müßte, er hätte mir nicht so viel Schönes gelehrt! Was hilft mir nun mein Wissen, meine Musik, mein Zeichnen, ich bin – eine arme Magd!“ Und wieder seufzte sie.

Da war’s ihr, als zittere ein anderer banger Seufzer oder vielmehr leis gestöhnter, halb unterdrückter Klagelaut durch die Stille der Nacht von unten an ihr Ohr; sie bog Haupt und Brust aus dem Fenster und überschaute, so weit es das ungewisse Zwielicht zuließ, den nebenan gelegenen geräumigen Hof des großen Gasthauses „zum grünen Baum.“ Sie vernahm Fußtritte und sah einen Mann langsam und schwer über den Hof dem Vordergebäude zuschreiten, in welchem sie den reichen Besitzer des prächtigen Hotels, den Herrn Senator Kahlert, zu erkennen glaubte. Dann war’s ihr, als höre sie das Hausthor des Gasthofs öffnen.

„Der arme reiche Mann!“ dachte das Mädchen mitleidig. Der hat’s nun in Hülle und Fülle und ist doch nicht glücklich. Was ihn nur drücken mag? Er kann keine Nacht schlafen, und schleicht am Tage wie ein Schatten umher. Und hat doch so sehr viel Geld und Gut, daß die Leute sagen, er sei einer der reichsten Männer in der Stadt. Pah! gegen den gehalten, bin ich ein glückliches Menschenkind!“

Schnell waren die düsteren Bilder aus dem leichten, lichten Sinne der Unschuld verschwunden. Die flüchtigen Gedanken an Glück und Unglück des reichen Mannes machten wieder denen an ihr eigenes mit dem Osterwasser zu erzielendes Glück Platz.

„Ob ich’s in der Donau schöpfe oder am Marktbrunnen?“ fragte sie sich. „Das Donauwasser soll kräftiger sein; aber wer kann’s denn beweisen? Wenn mir der liebe Gott Glück bescheeren will, wird er’s auch im Marktbrunnenwasser. Es ist näher, und ich laufe nicht Gefahr, in der Donau zu ertrinken, wie die Großmutter.“

Rasch warf sie Jacke und Halstuch über, band das Kopftuch um, schlich auf den Zehen aus der Kammer, die Treppe hinab in die Wohnstube der Herrschaft, nahm den Hausschlüssel vom Haken, holte dann den Wasserzuber in der Küche, und schlüpfte wie ein Kätzchen die Stiegen aus dem dritten Stockwerk hinab. Nach wenigen Minuten wandelte sie barfüßig, den Zuber an der Hand, quer über den großen reinlichen Markt dem mächtigen Brunnen zu. Die hohe mit Sculpturen geschmückte Säule desselben tauchte aus der Dämmerung auf, sie hörte das aus vier Röhren in den umfangreichen tiefen Steintrog sich ergießende Wasser rauschen, und sie stieg eben die wenigen Stufen zu einer dieser Brunnenspenden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_129.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2018)