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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

gezeigt, nicht einmal irgend ein Gefühl, wenn nicht das jenes Spottes. Sie hatte mit mir gesprochen, etwa wie ihr amtlicher Vertheidiger für sie sich mit mir unterredet, mit mir unterhandelt haben würde. Auf einmal drangen jetzt Thränen in ihre Augen; ihre Lippen zuckten; sie konnte nicht weiter sprechen; es war, als wenn plötzlich in ihrem Innern etwas aufgebrochen, geplatzt sei. War es ein Gefühl der Schuld oder der Unschuld? Das Gefühl ihrer Vernichtung oder ihres Unglücks?

Gefühl zeigte sie jedenfalls, lebhaftes, inniges, starkes Gefühl, ein Gefühl, das sie überwältigte, diese vornehme, stolze, äußerlich so kalte Dame, deren Haltung und Benehmen das Leben in der besten Gesellschaft, deren Sprache und Bemerkungen einen klaren, gebildeten Geist verriethen, die schon in dieser Viertelstunde eine Bildung dargelegt hatte, die über die gewöhnliche Bildung unserer Damen hinauszugehen schien.

Ich ließ sie sich setzen. Erst nach einer Weile konnte sie wieder sprechen. Sie hatte ihre Thränen getrocknet; ihr Gesicht hatte wieder den Ausdruck der Ruhe und nur eines leisen Spottes, und mit diesem Spotte schien sie nur sich selber zu verfolgen. Sie erhob sich wieder.

„Ah, ich wurde schwach. Ich hoffe, Herr Criminalrath, Sie ziehen daraus keinen falschen Schluß gegen mich. Aber ich hatte eine Bitte an Sie. Es ist die, daß Sie mich nicht mit Diebinnen zusammen setzen wollen.“

Sie zitterte doch unwillkürlich wieder, als sie die Bitte aussprach, und es war in der That eine so einfache Bitte. Aber zeigte nicht gerade diese Einfachheit einerseits und dennoch ihre Aufregung über sie andererseits, daß sie keine Bitte eines schuldbewußten, wenigstens nicht eines verdorbenen Herzens sein konnte, daß sie jedenfalls die Bitte einer, schuldig oder unschuldig, Unglücklichen war?

„Sie werden zu keiner Diebin gesetzt werden,“ versicherte ich ihr.

Es schien ihr ein Stein vom Herzen zu fallen.

„Ach, mein Herr, ich bin Ihnen sehr dankbar.“

„Ich habe überhaupt vor,“ fuhr ich fort, „Ihnen eine Zelle für sich allein zu geben, Sie müßten mir denn besondere Umstände anführen, die mich veranlassen müßten, Sie in Gesellschaft zu bringen.“

Sie erröthete vor Freude, fast vor Glück.

„O, mein Herr, ich hatte kaum die Bitte an Sie gewagt.“

Diese innige, dankbare Freude über eine scheinbar so geringfügige Kleinigkeit!

War sie eine Schuldige?

Während ich noch darüber nachdachte, trat ein Diener des Criminalgerichts ein und theilte mir mit, auf dem Criminalgericht sei so eben ein junger Mensch erschienen, der mich dringend zu sprechen wünsche.

„Hat er gesagt, was er mit mir zu sprechen habe?“ fragte ich.

„Er sagte nur, er habe Sie in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen. Er war überhaupt sehr eilig und aufgeregt.“

„Ich komme.“

Der Diener ging. Ich wollte ihm folgen.

Ein zufälliger Blick, den ich vorher auf die Gefangene warf, zeigte mir deren Gesichtszüge auffallend verändert. Sie war sehr blaß geworden und sah mich mit einem Ungewissen, beinahe ängstlichen Blicke an; ihre Lippen waren halb geöffnet, wie zum Sprechen; eine Frage an mich schien darauf zu schweben, aber sie wagte nicht, sie auszusprechen.

„Haben Sie mir noch etwas zu sagen?“ fragte ich sie.

Sie schien heftig mit sich zu kämpfen.

„Werden Sie mich morgen früh verhören?“ fragte sie mich endlich.

Das war offenbar nicht jene Frage, die sie an mich auf den Lippen gehabt hatte.

„Gewiß,“ antwortete ich ihr.

Ich ertheilte dem Gefängnißinspector die Anweisung, ihr die comfortableste Zelle einzuräumen, die er zur Disposition habe, und ging dann. Vor meinem Arbeitszimmer wartete ein junger Mann; ich ließ ihn eintreten.

Es war ein anständig gekleideter Mann von etwa vier- oder fünfundzwanzig Jahren. Er war von großer Gestalt, die Brust etwas eingedrückt; sein Gesicht war bleich, mit einem krankhaften Ausdrucke. Er schien an der Brust zu leiden. Daher auch wohl seine hastigen und heftigen Bewegungen, die zugleich etwas Eckiges hatten, und seine Aufgeregtheit, die indeß unter einem schüchternen, verlegenen Wesen nicht recht zum Ausbruch kam. Er folgte mir hastig in mein Arbeitszimmer.

„Herr Criminalrath, können Sie mir eine Frage beantworten, auf welche der Gerichtsdiener, wie er mir wenigstens sagte, keine Auskunft geben durfte?“

„Es kommt auf die Frage an,“ erwiderte ich ihm. „Darf ich Sie vorher um Ihren Namen bitten?“

„Sollte mein Name etwas zur Sache thun?“

„Ich weiß das nicht, weil ich Ihre Frage noch nicht kenne. Allein, mein Herr, schon die allgemeine Verkehrs- und Gesellschaftssitte fordert, daß man sich demjenigen nennt, mit dem man irgend eine Angelegenheit abzumachen hat.“

Er besann sich einen Augenblick.

„Sie würden mir einen Gefallen erzeigen, wenn Sie mich anhörten, ohne vorher meinen Namen zu verlangen.“

„Es sei. Was wünschen Sie?“

„Ist Ihnen am heutigen Abende eine Gefangene eingeliefert worden?“

„Es sind heute mehrere Gefangene eingebracht.“

„Am Abend?“

„Auch noch am Abend.“

„Ich erlaubte mir, nach einer Gefangenen zu fragen.“

„Auch Frauenspersonen.“

„Mehrere?“

„Mehrere.“

„War eine –?“

Er zögerte, doch sprach er zuletzt die Frage aus.

„War eine Dame darunter?“

Ich antwortete nicht sogleich.

Nachdem er einmal die Frage vom Herzen hatte, kannte er weniger Zurückhaltung.

„Eine junge Dame?“ setzte er schnell hinzu.

Ich war unschlüssig, ob ich ihm antworten dürfe.

„Sie ist verhaftet,“ fuhr er fort, „weil sie einen Diebstahl begangen haben soll.“

Der junge Mensch war mir völlig unbekannt. Er hatte sich sogar geradezu geweigert, mir seinen Namen zu nennen. Er hatte zwar das Aussehen eines anständigen, ehrlichen Menschen; aber es konnte dennoch bedenklich erscheinen, ihm seine Frage zu beantworten, zumal da mir die Nebenumstände der der Gefangenen schuld gegebenen Verbrechen, so wie die Verhältnisse und Beziehungen der Gefangenen selbst völlig unbekannt waren. Es konnte die Verfolgung von etwaigen Theilnehmern der Verbrechen, von Diebshehlern und manches Andere dadurch erschwert werden. Konnte nicht der junge Mensch selbst, trotz seines unverdächtigen Aeußern, ein Mitschuldiger sein, der je nach dem Inhalte meiner Antwort seine Vorsichtsmaßregeln einrichtete?

„Sie ist verhaftet,“ fuhr er lebhafter, dringender fort, „ich weiß es ja. Warum frage ich Sie noch? Und Sie haben sie auch schon gesehen, gesprochen. Sagen Sie selbst, Herr Criminalrath, haben Sie in ihr eine Verbrecherin gesehen? Hat sie das Gesicht einer Diebin?“

Er hatte zuletzt leidenschaftlich gesprochen. Die kranke Brust des jungen Mannes wogte auf und nieder; seine Stimme war heiser geworden; in seiner Leidenschaft, in seiner Frage lag so viel Wahrheit; meine Menschenkenntniß konnte mich nicht täuschen. Er war kein Verbrecher, kein Mitverbrecher, denn er nahm den lebhaftesten Antheil an der Gefangenen; durch welche Beziehungen veranlaßt, war mir zwar für den Augenblick ein Räthsel, aber immer nur, indem er sie zugleich für völlig unschuldig hielt. Zudem war er jedenfalls überzeugt, daß die Dame, nach der er fragte, wirklich verhaftet sei; eine Bejahung seiner Frage konnte also schon aus diesem Grunde jene befürchteten Nachtheile nicht mit sich führen.

„Ja, mein Herr,“ erwiderte ich ihm, „eine Dame, wie die, von der Sie gesprochen, ist vor etwa einer halben Stunde zum Gefängnisse abgeliefert. Welchen Namen soll sie führen?“

Er war einen Augenblick leichenblaß geworden, so griff die Bestätigung der Wahrheit, die er schon kannte, ihn an.

„Rosa Heisterberg,“ antwortete er auf meine Frage.

„Wünschen Sie etwas weiter, mein Herr?“

„Es ist dies ihr Name?“

„Ja.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_062.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)