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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

sah sich zu einem energischen Einschreiten gezwungen und bot die bewaffnete Macht auf. Mehrere Regimenter Infanterie und Cavallerie rückten gegen die empörten Bauern aus, deren Zahl auf mehrere Tausende angewachsen war. In der Nähe von Nicolai, wo sich jetzt das Waisenhaus jener armen Kinder befindet, welche durch den Typhus ihre Eltern verloren, kam es zu einem vollständigen Treffen. Anfangs hielten die Bauern tapfer Stand, da es ihnen jedoch an tüchtigen Anführern und vor Allem an der nöthigen militairischen Erfahrung fehlte, so mußten sie unterliegen. Bald löste sich der Haufen in wilder Flucht auf; die Rädelsführer wurden theils getödtet, theils gefangen genommen und ihnen der Proceß gemacht. Unter diesen befand sich der Actuar, welcher zu mehrjähriger Zuchthausstrafe von dem betreffenden Gerichte verurtheilt wurde. Er starb im Gefängnisse ohne Reue und mit einem Fluche auf seinen Lippen.

Die Ruhe war wieder hergestellt und die königliche Cabinetsordre, welche bald darauf in’s Leben trat, endete die Verwirrung, indem sie die Verhältnisse der Gutsherrn und ihrer Unterthanen regelte. Für beide Theile war der Segen ersichtlich.

Zwei Jahre waren seit jenen Ereignissen vergangen, als der Krieg gegen Napoleon und gegen die drückende Franzosenherrschaft ausbrach. Preußen erhob sich aus seiner Schmach, nachdem es die ihm vergönnte Zeit weise benutzt hatte, um sich auf dem Wege friedlicher Reformen zu verjüngen und mit Anspannung aller Kräfte zu rüsten. Der König hatte von Breslau aus jenen denkwürdigen Aufruf an sein Volk erlassen; aus allen Theilen des Landes strömten Jünglinge und Männer herbei, um mit ihrem Blute die Befreiung des Vaterlandes zu erkaufen. Auch die Frauen, von der allgemeinen Begeisterung ergriffen, blieben nicht zurück; sie opferten ihren Schmuck und widmeten sich den verwundeten und kranken Kriegern mit hingebender Liebe.

Nach der Schlacht an der Katzbach waren die Lazarethe in Breslau überfüllt mit Leidenden. Die Zahl der Aerzte und Krankenwärter reichte nicht mehr aus; da erboten sich freiwillig die edelsten Frauen und Jungfrauen zum Dienste in den Hospitälern. Ohne Scheu setzten sie sich der Ansteckung des furchtbaren Typhus und dem Anblick der gräßlichsten Verstümmelungen aus. Unter diesen Samaritanerinnen befand sich ein junges Mädchen, welches sich durch seine unermüdliche Thätigkeit auszeichnete. Tag und Nacht war sie unablässig beschäftigt, Wunden zu verbinden, die Kranken zu pflegen und selbst den Sterbenden noch durch ein frommes Wort zu trösten. – Es war die gute Veronika, welche mit ihrem Vater beim Ausbruche des Krieges nach Breslau kam.

Seit dem Tage des Ueberfalls war mit Veronika sichtbar eine Veränderung vorgegangen. Still und träumerisch ging sie im Hause umher und wenn ihr Vater, der jetzt seine Tochter wie einen Augapfel hütete, sie um den Grund ihrer trüben Stimmung fragte, lächelte sie nur und meinte, sie sei ganz zufrieden, wenn nur Papa mit ihr zufrieden sei. Gern erfüllte dieser auch ihren Wunsch, als sie bat, dem Beispiele vieler der edelsten Jungfrauen folgen und als Krankenwärterin in eins der überfüllten Breslauer Hospitäler eintreten zu dürfen.

Eines Tages, als eben ein neuer Transport von Verwundeten angelangt war, erblickte Veronika unter diesen einen jungen Krieger, dessen Brust mit mehreren Orden geschmückt war. Eine Kugel hatte ihm beide Beine zerschmettert. Der Arzt hatte keine Hoffnung, ihn zu retten. Mitleidig näherte sich Veronika, um dem Sterbenden eine Erfrischung zu reichen. Dankend hob er die vor Mattigkeit geschlossenen Augen zu ihr empor; sein Blick begegnete dem ihrigen; ein schwacher Schrei entschlüpfte ihren Lippen.

„Pawel!“ rief sie erschüttert.

„Ich lebe noch,“ antwortete er mit matter Stimme, „obgleich mich alle Welt für todt gehalten hat. Ich wußte ja, daß ich nicht sterben würde, ohne Sie gesehen zu haben.“

Er wollte weiter sprechen, aber seine Erschöpfung hinderte ihn daran. Nachdem er einige Augenblicke geruht, machte er einen neuen Versuch, mit ihr zu sprechen. Er rang nach Worten, um all’ die verschiedenen Gefühle auszudrücken, welche ihn bei ihrem unerwarteten Anblicke bestürmten, aber plötzlich, wenn er einige Augenblicke geredet, hielt er wieder inne, als fürchtete er, zu viel gesagt zu haben. Aus seinen Mittheilungen erfuhr sie denn nun, daß er in jener Nacht über die polnische Grenze geflüchtet und in russische Kriegsdienste getreten sei. Ueber den Grund seiner heimlichen Entfernung beobachtete er ein räthselhaftes, hartnäckiges Stillschweigen. Beim Ausbruch des Krieges war er mit dem russischen Heer nach Preußen eingerückt und nach einem ehrenvollen Abschiede in die Reihen seiner Landsleute eingetreten, wo er bei mehrfachen Gelegenheiten sich ausgezeichnet hatte.

Allmählich folgten jedoch auf diese klaren Berichte die verwirrten Phantasieen eines starken Wundfiebers. Pawel verlor die Besinnung und sprach ohne Ordnung und Zusammenhang. Seine Reden trugen indeß den Stempel der höheren Bildung, die er sich in seinen neuen Verhältnissen erworben hatte; seine Gedanken nahmen einen höheren Aufschwung, wie ihn die Seele der Sterbenden zuweilen zeigt, ehe sie die irdischen Bande abstreift. Er schien Veronika nicht mehr zu erkennen und doch beschäftigte er sich ausschließlich mit ihr.

„Engel, Veronika!“ murmelte er mit vertrockneten Lippen. „Ja! Du bist der gute Engel, der mich von der Sünde erlöst hat. – Kannst Du mir verzeihen? – Ich liebe Dich. – Thorheit! Ich, der niedrige Knecht, der Verbrecher. – Du bist gut und wirst nicht zürnen. – Engel zürnen nicht – sie bitten für uns. – Im Himmel darf ich Dich lieben – da gibt es weder Herrn, noch Knechte. – Frei! – Wir sind Alle frei. – O! ich will gern sterben. – Der Tod ist so süß. – Hurrah! Die Feinde! – Vorwärts für Gott, König und – Veronika!“

Mit leisem Schauer vernahm sie die Geständnisse einer heißen, wunderbaren Liebe, welche sie nie geahnt; abwechselnd mit den rührendsten Klagen über sein vergangenes Leben. Zuweilen kehrte sein Bewußtsein zurück und dann sah er sie mit einem Blick an, der tief in ihre Seele drang.

„Ich bin gar nicht eines solchen Glückes werth,“ murmelte er mit ersterbender Stimme, als er sie weinen sah.

Sie reichte ihm die Hand, welche er mit seinen Küssen bedeckte und in den seinigen so fest hielt, daß sie ihm sie nicht zu entziehen wagte. Dann trug er ihr Grüße an seine Schwester auf.

„Verlassen Sie die arme Jadwiga nicht,“ bat er in rührender Weise.

Immer näher trat der letzte Augenblick, und mit ihm schien der Nebel zu weichen, der über seinen Geist sich ausgebreitet hatte. Der oberschlesische Bauer hatte sich in ein Wesen höherer Art verwandelt; er sprach von dem Vaterlande, von der Zukunft wie mit prophetischen Blicken; dann wieder wandte er sich zu Veronika, um ihr für immer Lebewohl zu sagen.

„Gott segne Sie,“ flüsterte er mit glänzenden Blicken, „Mein Engel –“

Er vollendete nicht; das Geheimnis seiner Liebe nahm er mit sich in’s Grab. Nur aus seinen wirren Worten hatte Veronika erfahren, welch ein Herz sie verloren.

Einige Monate später trat sie in den Orden der Elisabethiner-Nonnen, welche sich ausschließlich der Krankenpflege weihen. Sie übte ihren Beruf mit einer Hingebung, die ihr den Namen der „Engel der Kranken“ verschaffte. Der arme Pawel lebte fort in ihrer Erinnerung.




Rosa Heisterberg.
Vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“

Ich saß eines Abends auf dem Criminalgerichte in meiner Arbeitsstube mit Lesen von Acten beschäftigt. Ich war damals Verhörrichter, hatte sehr viele Arbeit, war fast den ganzen Tag mit Inquiriren geplagt – es war noch die Zeit des geheimen schriftlichen Inquirirens – und mußte die Abende dazu verwenden, mich auf den morgenden Tag zu neuer Arbeit wieder vorzubereiten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_059.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)