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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858)

eingeflochten habe. Um unsere Erörterung nicht zu weit fortzuspinnen, wollen wir nur einen Punkt hervorheben. Eine Lügnerin würde Adolf, dieses zweite Opfer, aus dem Spiele gelassen haben, einmal, um für ihre eigene Person das Interesse ungeschwächt zu erhalten, und dann, um nicht durch die Erzählung von einem Unglücklichen, der noch in der Waldwohnung schmachte, zu allzu eifrigen Nachforschungen anzureizen, also zu dem, was eine Lügnerin am meisten zu scheuen hätte, da diese Forschungen die wirkliche Wohnung, wo sie ihren Plan entworfen hatte, leicht an den Tag bringen konnten.

Entscheidend ist für uns, daß Caroline, wenn sie eine Rolle spielte, eine solche wählte, an deren unüberwindlichen Schwierigkeiten sie unfehlbar scheitern mußte. Sie spielte ein Mädchen, dessen Körper die jungfräuliche Reife hat, dessen geistige Entwickelung auf der kindlichen Stufe geblieben ist. Für eine solche Rolle gab es kein Vorbild, und nicht der erste Psycholog der Welt hätte ihr alles dazu Nöthige einstudiren können. Sie ist aber wirklich, eine Jungfrau mit dem Geiste eines Kindes, ihr Lehrer Eck bezeugt das ausdrücklich an vielen Stellen seines Buches und verspricht zum weitern Belege eine ausführlichere psychologische Erläuterung. Einiges von dem, was er beispielsweise mittheilt, wollen wir an dieser Stelle aufnehmen. Caroline hatte den Wunsch, über mancherlei Dinge zu fragen, sich zu offenbaren und die vielen Fragen, welche man hinsichtlich ihrer Vergangenheit an sie richtete, zu beantworten. Aber dieses bei ihr in hohem Grade vorhandene Bedürfnis; der Mittheilung konnte sie während der ersteren Zeit ihres Aufenthaltes hier in Offenbach beinahe gar nicht, später nicht so befriedigen, wie sie es wünschte, worüber sie oft weinte. Wurde Caroline nun gefragt, warum sie weine, so antwortete sie gewöhnlich: „Ich nicht sagen können, was ich denken; ich viel wissen und nicht sagen können.“ Spielte sie dagegen mit kleinen Kindern, welche in einem gewissen Sinne mehr ihres Gleichen waren (Caroline war, wie sich später ergeben wird, an Geist und Gemüth selbst noch ein Kind), so haben diese und jenes große Kind einander so ziemlich theils wirklich, theils auch nur eingebildet verstanden. Jedenfalls wurden hier auch nur solche Fragen gegenseitig vorgelegt, welche Caroline und die kleinen Kinder auf die eine oder andere Weise beantworten konnten, gleichviel ob richtig oder unrichtig. Es war also das Bedürfniß der Mittheilung und Unterhaltung auf beiden Seiten einigermaßen befriedigt und darum das große Kind, an seine traurige Lage nicht denkend, eben so heiter und vergnügt, wie die kleinen Kinder. Und hierin findet Carolinens Neigung, mit kleinen Kindern zu spielen, hauptsächlich ihre Erklärung. Daß Bertha ein Kind in Carolinens Stube brachte, muß diese sehr angenehm berührt und darum ganz ungewöhnlich angeregt haben. Nur selten hat Caroline Bertha nach Diesem oder Jenem gefragt. Kaum aber hatte ihr Bertha mitgetheilt, daß dieses Kind Adolf heiße, was alsbald geschah, nachdem sie dasselbe zu ihr in die Stube brachte, so fragte Caroline unmittelbar darauf, woher Adolf gekommen sei. „Ich habe ihn aus dem Wasser geholt“ – war Bertha’s Antwort. Nachdem dies Caroline mir mitgetheilt hatte, fragte ich sie einige Wochen darauf, ob ihr Bertha wohl gesagt habe, wie der Papa und die Mama von Adolf hieße. Caroline erinnerte sich noch, daß sie mir schon gesagt, Bertha habe Adolf aus dem Wasser geholt, und sah mich deshalb etwas befremdet an, als wollte sie mir mit ihren Blicken sagen, wie ich zu dieser von ihr bereits beantworteten Frage komme. Sie antwortete daher ungefähr mit folgenden Worten: „Adolf hatte kein Papa und keine Mama habt; Bertha hat den Adolf aus dem Wasser holt.“ Dies glaubt sie heute noch eben so fest, wie sie bis zur Stunde noch die ganz bestimmte Meinung hat, daß auch Henrik, der Sohn ihres Oheims, nie eine Mutter gehabt, weil sie dieselbe nie gesehen, auch nie etwas von ihr gehört habe. Solche Aeußerungen, von einem zweiundzwanzig- bis dreiundzwanzigjährigen Mädchen in allem Ernste gesprochen, lassen wohl den durchaus reinen, noch so ganz kindlichen Seelenzustand desselben leicht erkennen. Oft sehnte sie sich, besonders während der ersteren Zeit ihres Aufenthaltes hier in Offenbach, wieder zu Bertha in die Waldwohnung zurück. Daselbst sei es so ruhig, so still und so schön gewesen, sei nicht viel und nicht laut gesprochen, sie auch mit den vielen Fragen nicht so geplagt worden, wie dies hier der Fall ist.

Die vielen für sie ganz neuen und darum ungewohnten Eindrücke in der zweiten Welt (indem Bertha mit Carolinen die Waldwohnung verließ, wurde diese gleichsam zum zweiten Male, freilich erst im Alter einer Jungfrau, geboren) verursachten ihr oft eine große Unbehaglichkeit, ja sogar, wie bereits im Eingänge erwähnt, zuweilen Schmerzen im Kopfe. Der Unterschied zwischen ihrer früheren und jetzigen Welt ist wohl auch so groß, daß die mächtigen Eindrücke der letzteren ihr ganzes inneres Leben in eine Art von Bestürzung bringen, ich möchte sagen, gleichsam blenden mußten. Sehr natürlich daher, daß Caroline oft gewünscht hat, jetzt noch so leben zu können, wie sie in der Waldwohnung mit Bertha gelebt hat. Alsdann nur würde sie sich, wie sie zuweilen ebenfalls zu erkennen gab, glücklich fühlen, nicht so viel über ihre Vergangenheit nachdenken, und dieses Nachsinnen sie nicht so traurig stimmen, wie dies hier in Offenbach schon sehr oft der Fall gewesen sei. „O wie unglücklich bin ich; ich wünsche bei Bertha wieder zu sein“ – sagte sie mir noch vor ganz kurzer Zeit.

An einem Tage, als Caroline noch im Gefängniß war, zweifelte die Familie des Aufsehers an ihrer Aufrichtigkeit. Die Veranlassung war folgende. Am Abend eines der ersteren Tage ihres Aufenthalts bei der Familie des Gefängnißaufsehers sollte Caroline auf dem Hofe etwas besorgen. Sehr schnell und mit nicht geringem Erstaunen kam sie, ohne sich des ihr gegebenen Auftrags entledigt zu haben, wieder zurück in die Stube, und gab ihrer Deutschmama zu verstehen, daß sie mit ihr gehen möchte, sie wolle ihr etwas zeigen. Frau Lemser ging mit ihr in den Hof. Hier zeigte Caroline Das, was dieselbe, wie sie später sagte, noch nie gesehen hatte, nämlich – den Mond und die vielen Sterne; eine Thatsache, die zu mancherlei Vermuthungen, ganz besonders aber wohl zu der Frage Veranlassung geben mußte: Wie ist es möglich, daß ein erwachsenes Mädchen noch nie den Mond und die Sterne gesehen hat? Ihr Lehrer beseitigt diese Frage durch folgende Berechnung: „Nach den vorstehenden Mittheilungen verließ Bertha mit Carolinen am 27. October 1853 Morgens früh die Waldwohnumg, um welche Zeit der Mond bereits zwei Tage in’s letzte Viertel getreten war. Am 8. November gegen Abend wurde Caroline von Bertha ausgesetzt, und an diesem Tage, 45 Minuten nach Mitternacht, trat der Mond in’s erste Viertel. Hiernach ist Bertha mit Carolinen beinahe nur zur Zeit des Neumondes gereist. Am 15. November um 6 Uhr 33 Minuten Abends hat die Zeit des Vollmondes begonnen. Von dem Tage der Aussetzung Carolinens bis zu dem ihrer Ankunft in Offenbach (vom 8. bis 15. November) stand also der Mond im ersten Viertel. So lange Caroline in der Waldwohnung lebte, war sie auch nicht einmal Abends oder Nachts außerhalb derselben. Ferner hat sie vom 8. bis 12. November Tag und Nacht in einem Walde größtentheils weinend oder schlafend, sodann auch den 13. und 14. November und die Nacht zwischen diesen beiden Tagen theils im Felde, theils im Walde beinahe immer weinend zugebracht, während sie in den beiden Nächten vom 12. auf den 13. und vom 14. auf den 15. November in einem Bette schlief. Am 15. Nov. kam sie hier zu Offenbach in’s Bezirksgefängniß, in welchem sie wohl das Licht des Mondes, aber nicht den Mond selbst sehen konnte. Hieraus, wie auch aus ihrem ganz eigenthümlichen Sein und Wesen, welches in vorstehenden Zeilen angedeutet ist, erklärt sich wohl zur Genüge, warum Caroline hier zu Offenbach, wie in der Einleitung in Nr. 2 mitgetheilt wurde, in einem Alter von 22 Jahren zum ersten Mal den Mond und die Sterne gesehen hat.“

Ihre sonstigen geistigen Eigenschaften und alle ihre Gewohnheiten legen für sie das günstigste Zeugniß ab. Sie ist bescheiden, fleißig und strebt sichtbar, sich Fähigkeiten, mit denen sie sich ihren eigenen Unterhalt verschaffen kann, möglichst bald zu verschaffen. Um so weit unterrichtet zu werden, daß sie in die Lage versetzt wurde, sich als Dienstmagd, oder mit Nähen und Bügeln ihr Brod zu verdienen, brauchte sie keinen Roman zu erfinden; das konnte sie einfacher haben. Daß sie reinlich ist und im Stricken eine Fertigkeit besitzt, die das Erstaunen erfahrener Hausfrauen hervorrief, wolle man nicht übersehen. Da die Aufforderungen und Nachforschungen der Behörden zu keinem Resultat geführt haben, so bleibt, hält man ihre Geschichte für erfunden, kein anderer Ausweg, als sie aus einer Familie von Umherstreichern hervorgehen zu lassen. Entfernte sie sich mit oder ohne Einwilligung ihrer Angehörigen aus einer Familie mit einem festen Wohnsitze, so fiel ihr Verschwinden auf. Auch stimmt ihre Fertigkeit im Stricken bei gänzlicher Unkenntniß aller andern Hausarbeiten, wie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1858). Leipzig: Ernst Keil, 1858, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1858)_051.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)