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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

An Menschenleben gingen allein 54 aus der Stadt zu Grunde, wie viel fremde, hat nie genau ermittelt werden können. Unter den Letztern waren Franzosen und Fuhrleute aus Gotha, ein Bürgerssohn und drei Knechte. Drei Handwerksbursche waren eine Stunde vorher in einem Gasthofe am Georgenthore eingekehrt, hatten gegessen und ihre Felleisen dem Wirthe übergeben, weil sie sich an dem schönen Abend in der Stadt umsehen wollten. Sie sind nie wiedergekehrt. Draußen in der Vorhalle der Gottesackerkirche lagen die gräßlich verstümmelten aus dem Schutt gegrabenen Leichen zur Recognoscirung ausgestellt, für mich, den weichherzigen Knaben, ein schrecklicher Anblick. Noch ist mir eine Leiche erinnerlich, an welcher ein Stück seiner seidener Hosenträger erhalten war. Sie konnte nicht erkannt werden; wahrscheinlich war es die eines französischen Beamten. Außer einem Bekannten, dem jungen Helmert, schmerzte mich am meisten der Untergang einer jungen Dame von wunderbarer Schönheit aus einer der ersten Familien der Stadt. Bekannt ist der eigenthümliche Eindruck, welchen hohe Frauenschöne auf empfängliche Knabenherzen hervorzubringen pflegen. Ich hatte dieses Mädchen einmal gesehen und war von ihrer ernsten erhabenen Schönheit wie berauscht. Man erzählte, sie habe wenige Minuten vor der Katastrophe einer Freundin, mit welcher sie zusammen bei der Tochter einer vornehmen Familie zum Besuch war, eine merkwürdige Todesahnung ausgesprochen. Die Freundin hatte noch eine Fremde, ein junges Mädchen, das bei ihr zum Besuch war, mitgebracht. Plötzlich empfand sie einen unwiderstehlichen Trieb, mit ihrem Besuch die Gesellschaft, in welcher es ihr wohl gefiel, zu verlassen. Als Ursache gab sie eine allgemeine Beängstigung an. Da soll die Schöne, deren Reize einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht, geäußert haben: auch ihr sei es, als müsse sie gleich in den Tod gehen.

Kaum hatte die Freundin mit ihrer Begleiterin ihre Wohnung erreicht, als die Explosion geschah. Die Zurückgebliebenen, die Hausfrau mit ihrer Tochter und eben der holden Schönen, waren die Beute des schrecklichsten Todes. Die liebenswürdige junge Dame war die zärtlich geliebte Tochter eines wegen seiner Verdienste allgemein verehrten Mannes. In der Parterrewohnung wurden der Hausbesitzer, dessen Ehefrau, ein Kind und eine Magd getödtet. In diesem Hause hatte der Tod allein acht Menschenleben als Opfer gefordert, und welch ein herrliches war darunter! Ich stand tief ergriffen dabei, als man aus dem Schutte dieses Hauses einige Häuflein weißgeglühter feiner Menschenknochen hervorholte. Die zartesten davon wurden als die der so hochgefeierten und nun so tief betrauerten Schönen erklärt. Viele Jahre habe ich eins dieser Knöchlein, das ich mir angeeignet, und das hell wie eine Glasröhre klang, aufbewahrt. Wahrlich, früh schon sah ich in die schauerlichen Tiefen des Lebens!

Bei weitem die Mehrzahl der der Stadt angehörigen Todten waren aus der vornehmern Classe und aus den angesehenern Bürgerfamilien. So wurde in einem andern Hause die ganze aus sieben Köpfen bestehende Familie, Vater, Mutter, vier Kinder und eine Magd, in das schwarze Verhängniß gerissen. In einem dritten wurde ein Brautpaar mit der Mutter und der Schwester der Braut durch den Einsturz getödtet. Eine Wittwe erfuhr dasselbe Schicksal mit ihrem Sohne und ihrer Magd; die eben abwesende Tochter blieb allein von der Familie am Leben. Ein junger Mensch, der in der Nähe der Explosion durch die Straße ging, wurde zerstückt weit fort geschleudert. Einem Kaufmannsdiener, der in einem der nächsten Häuser ausräumen half, raubte eine später entzündete scharfe Patrone noch das Leben.

Die Zahl der schwer Verwundeten und zum Theil schrecklich Verstümmelten betrug über 20; die der leicht Verwundeten wohl dreimal mehr. Einem jungen Manne, der sich in dem der Schreckensscene nahen Kaffeehause befand, wurden durch eine Kugel die linke Wange und beide Augen weggerissen; der furchtbare Blitz war das letzte Licht, das er sah. Eine der sonderbarsten und gewaltsamsten Beschädigungen war die, welche ein vor der Thüre seiner Herrschaft wenigstens hundert Schritte von der Explosion stehender Diener erfuhr, indem ihm der abgerissene Fuß eines Pferdes mit dem Hufeisen in den Unterleib geschlagen wurde.

Aber auch Beispiele merkwürdiger und schier wunderbarer Rettung kamen vor. In dem oben zuerst erwähnten Hause, in welchem die junge Schöne das Ziel ihres Lebens fand, war im Seitengebäude eine Magd beschäftigt. Beim Blitz und Donnerschlag der Explosion und dem entsetzlichen Krachen der einstürzenden Häuser schlug sie vor Schrecken die Hände über dem Kopfe zusammen, und hielt dadurch einen herabstürzenden Balken davon ab, der ihn wahrscheinlich zerschmettert haben würde. Zur Thüre herausgesprungen, hörte sie in einer nahen, bereits brennenden Kammer das Geschrei zweier schon zu Bette liegenden Kinder. Sie eilt hinein, nimmt auf jeden Arm eins, und erreicht glücklich die Straße. Aus demselben Gebäude wurde auch die schon lange krank darnieder liegende Mutter des Hausbesitzers gerettet.

In dem uns befreundeten Hause des Glasermeisters Helmert ereignete sich Folgendes: der Mann war ausgegangen; die Frau war im Begriff, mit drei Kindern zu Bette zu gehen. In einem andern Zimmer wohnte ein Gymnasiast, bei welchem eben eine arme Frau war, um sich einen Brief von ihm schreiben zu lassen. Alle kamen um bis auf Frau Helmert, die in den Keller hinabstürzte, und zwischen zwei im Fallen angelehnte Balken zu liegen kam, die sie vor dem Erschlagen schützten. Durch eine Lücke sah sie das aufglühende Feuer und arbeitete sich hervor, mit der Sorge, wie sie nun aus dem zweiten Stock, wo sie noch zu sein wähnte, auf die Straße kommen möchte. Allein im Fortkriechen kam sie auf ein todtes Pferd, und wurde nun inne, daß sie sich schon im Freien befand. Sie raffte sich auf und sah sich von Menschen umringt, die ihr eine Hülle überwarfen, denn das Hemd war ihr bis auf einen Fetzen vom Leibe gebrannt. Man führte die Unglückliche in ein Haus am Markt. Hier traf sie auf ihren nach Hause eilenden Mann, dem sie zurief, die Kinder zu retten. Er fliegt an die Stätte seiner Wohnung, und findet sie von Flammen überloht. Da ist jede Rettung unmöglich. Der Mann zerdrückt die Thränen im Auge und spricht: „Gott hat mir meine Lieben genommen. Wohlan, so will ich für meine Mitbürger thun, was ich vermag!“ Und so eilt er an seinen Posten als Spritzenmeister und arbeitet die ganze Nacht unermüdlich, wodurch er nicht wenig zur Dämpfung des Feuers beiträgt. Ich sah später die Brust dieses edlen Mannes mit einem Ehrenzeichen Karl August’s, seines Fürsten, geschmückt. Wahrlich, hier war’s an der rechten Stelle, wie selten!

Ein Greis, der auf die löbliche Hausvatersitte hielt, jeden Abend seine Hausthür selbst zu verschließen, hatte dieses Geschäft eben vollbracht, als die Gewalt des entzündeten Pulvers das schwere Hausthor über ihn herwirft. In demselben Augenblicke stürzt aber auch von der Decke der Hausflur ein dicker Querbalken herab, auf welchen der obere Theil des Thores zu liegen kommt, so daß der in die Höhlung gedrängte Greis gerettet ist.

Ein junges Ehepaar sitzt kosend auf dem Sopha, als der fürchterliche Schlag geschieht, und der Boden unter den Füßen weicht, die Decke herabbricht. Die Gatten erfassen sich entsetzt, und sind plötzlich unter krachenden Trümmern unten auf der Straße, sie wissen nicht wie. Sie fahren empor, und finden sich vor der Thüre des gegenüberliegenden Hauses, dessen Bewohner eben mit blutenden Köpfen herausstürmen; denn Dach und Decke sind über ihnen zusammengefallen. Das junge Ehepaar erreicht, nur leicht verletzt, das Elternhaus des Mannes am Markt. Dort stand die Leiche des Tags zuvor verstorbenen Vaters auf der Bahre. Die Wittwe unterhielt sich mit ihrer Schwester daneben. Da zuckt der Blitzstrahl, der Schlag fällt, die Fenster zersplittern, Flammen schießen auf, Gekrach und Geschrei. Die Wittwe ruft der Leiche zu: „So werde ich heute noch mit Dir vor Gott stehen, der da kommt zu richten die Lebendigen und die Todten!“ – Als die Explosion endlich natürlich erklärt wird, schreit die arme Frau nach ihrem Sohne und dessen junger Gattin auf. Sieh, da öffnet sich die Thür, und beide treten herein.

Wären die Wagen in der Jüdengasse oder nur einige Schritte früher, vor dem Gasthofe zum halben Monde, explodirt, so wäre die Zahl der Todten weit stärker gewesen. In dem genannten Gasthofe waren nämlich über 30 der angesehensten Männer zu einem geselligen Mahle versammelt, und das ganze Haus voller Menschen.

Der Schaden, in Geld angeschlagen, war sehr groß; man schätzte ihn über 200,000 Thaler. Die zertrümmerten Fenster konnten allein nicht unter 10,000 Thaler wieder hergestellt werden. Die schöne Stadt war erst schon durch widrige Conjuncturen verarmt. Der entsetzliche Schlag traf sie sehr hart.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 691. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_691.jpg&oldid=- (Version vom 9.4.2017)