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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

allen Seiten grinst dich hier der Tod mit hohlen Augen an; und die Streiflichter, die von dem Schein der Kerzen auf die Gebeine fallen, lassen das Schreckliche der Umgebung nur noch greller hervortreten. Dann und wann gewahrt man, bald rechts, bald links, mehr oder minder tiefe Aushöhlungen, Senkgruben, unterbrochene und aufgegebene Gänge, deren Finsterniß durch das spärliche Kerzenlicht in den Händen der Besuchenden nicht verscheucht werden kann. In einige dieser Höhlungen hat man ungeheuere Haufen von Gebeinen geworfen, deren morscher Zustand nicht erlaubte, sie symmetrisch zu ordnen. Von Zeit zu Zeit hielten wir einen Augenblick an, um einige Schädel genauer zu betrachten. Unter unserer Gesellschaft befand sich nämlich ein Kranioskop, ein hoch aufgeschossener Engländer, der jeden Augenblick, wenn er gerade sich zu ducken vergessen, mit dem Kopfe an die Decke stieß und dann wie ein Taschenmesser zusammenklappte. Er suchte die Aufmerksamkeit seiner Landsleute auf sonderbare Schädelbildungen zu lenken, zeigte mit der Spitze seines Stockes bald auf diesen, bald auf jenen Schädel und rief in abgebrochenen Sätzen: „Sehr entwickeltes Wohlwollen! – Entschiedener Ortssinn! – Starkausgesprochener Aneignungstrieb!“ worauf einer oder der andere seiner Landsleute ein „very curious!“ oder „very remarkable!“ entgegnete.

Obgleich man im Interesse der Wissenschaft aus den unzähligen zusammengerafften Schädeln und Knochen die merkwürdigsten herauslas und ein besonderes osteologisches Cabinet damit bildete, so sind unter denselben gar viele, welche eine ganz besondere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. So z. B. gewahrt man an gar manchem Schädel die Stelle, die von einem Säbelhieb verletzt worden oder das Loch, welches eine Kugel hineingerissen und den Tod herbeigeführt. Diese Schädel rühren aus der Revolutionszeit. Einige andere sind an verschiedenen Stellen trepanirt. Wahrscheinlich hat irgend ein Gelehrter daran herumexperimentirt, um zu erfahren, wie dick das knöcherne Gewölbe sei, unter welchem der Mensch seine Gedanken schmiedet. Man kann sich beim Anblick dieser unzähligen Todtenköpfe gewisser Betrachtungen durchaus nicht erwehren. Wie viele großartige, wie viele riesige Pläne sind in diesen Werkstätten des Geistes entworfen worden! Wie viel Ehrgeiz, wie viel Stolz, wie viel Hochmuth hat in diesen Schädeln einst gewühlt und gearbeitet! Wie manche dieser Köpfe haben einst durch Anmuth und Schönheit geglänzt und süße Sehnsucht und heiße Liebe erweckt! Nun liegen sie hier, in der Rumpelkammer der Vernichtung, und du weißt nicht, ob der Schädel, den du eben betrachtest, einem Dichter oder Gewürzkrämer, einem eroberungssüchtigen Feldherrn oder einem bescheidenen Gelehrten, einem Biedermanne oder einem Schurken angehört.

Nachdem man etwa zehn Minuten durch die Todtengewölbe gegangen, gelangt man an eine Doppeltreppe, die zu einer andern, etwa sechs Fuß tiefer liegenden Abtheilung führt. Zwischen den Wangen dieser Treppe befindet sich ein mit einer hohen halbbogenförmigen Mauer eingefaßter Brunnen, die sogenannte Fontaine de la Samaritaine. Man wird, wenn man in diesen Brunnen blickt, unwillkürlich an den Höllentrichter der göttlichen Komödie Dante’s erinnert. Das Wasser, das niemals durch einen Sonnenstrahl beleuchtet wurde und auf welches nur ein oder zwei Mal des Jahres das Dämmerlicht einiger Talgkerzen fällt, hat ein schwarzes Ansehen, so daß man in eine Pechgrube zu blicken glaubt. Man hat versucht, dieses Wasser zu beleben, indem man einige Goldfische hinein that; aber diese anmuthigen Thierchen kamen bald um. Der Tod herrscht hier als unumschränkter Gebieter und duldet nichts Lebendiges. Und dennoch haben auch diese schauerlichen Gemächer ihre komische Seite und es scheint fast, als ob der Mensch nichts berühren könnte, ohne etwas Lächerliches zu thun und Stoff für den Humor zu liefern. Um nämlich die Todtengebeine so vieler Generationen zu ehren, hat man überall, wo es nur irgend thunlich war, Inschriften angebracht, die sich natürlich alle auf den Tod beziehen. Sie sind theils aus der heiligen Schrift und den Kirchenvätern, theils aus den Dichtern und Schriftstellern des Alterthums und der Neuzeit gezogen. Nun haben sich aber auch viele Leute, die sonst die Poesie nur von Hörensagen kennen, von der Localität anregen lassen. Sie haben sich gewaltsam die poetische Ader geöffnet und die Katakomben mit Epitaphen und Aufschriften bereichert, die wahrhaft lächerlich sind. Aufschriften wie:

Arrète! C’est ici l’empire de la mort.

gehören noch zu den besseren. Die Worte des weisen Königs Salomo: „Eitelkeit der Eitelkeiten! Es ist Alles eitel!“ sind auf einer Tafel in französischer, italienischer, englischer, lateinischer und griechischer Sprache zugleich zu lesen. Mehrere dieser Inschriften sind schon halb verwaschen. Das Wasser sickert hier und dort in dicken Tropfen durch die Decke und fällt dann auf die Denkmäler und auf die Gebeine, deren Verwitterung es beschleunigt.

Die Katakomben von Paris bilden einen Theil der Steinbrüche auf der südlichen Seite der Stadt. Wann die Ausbeutung dieser Steinbrüche begonnen, ist schwer zu bestimmen; gewiß aber reicht sie in ein hohes Alterthum hinauf, da die Thermen des Kaisers Julian von den aus diesen Brüchen gezogenen Steinen gebaut worden. Man weiß, daß zu allen bis zum zwölften Jahrhundert errichteten Palästen, Kirchen, Klöstern und öffentlichen Monumenten der Stadt diese Brüche die Steine geliefert, so wie denn überhaupt das Material, welchem die riesige Lutetia ihr Entstehen verdankt, aus den Pariser Steinbrüchen am nördlichen und südlichen Ende der Stadt gezogen worden sind. Paris steht auf einer Erdkruste, die kaum einem schwachen Erdbeben widerstehen würde. Sie ist an einigen Stellen so dünn, daß sie oft zusammenbrach und eine Menge Häuser in den Abgrund zog. Diese Unglücksfälle rührten besonders daher, daß die Arbeiten in den Brüchen ehedem nicht wissenschaftlich betrieben und keiner Aufsicht unterzogen wurden. Der Erste, Beste grub, wo es ihm beliebte und holte sich die Steine heraus. Man kann sich die Folgen eines solchen Mißbrauches leicht denken. Ein großer Theil der Erträgniß ging verloren; der Boden von Paris wurde unnütz ausgehöhlt, das Leben sehr vieler Arbeiter gefährdet und manche in jenem Stadttheil stehende Häuserreihe fortwährend vom Einsturze bedroht. Nach und nach überließ man diese Brüche ihrem eigenen Schicksal. Die Ausbeutung war unmöglich geworden und man vergaß am linken Seine-Ufer, daß man sich über einem Abgrunde befand. Man wurde indessen 1774 durch häufige Einstürze so sehr daran erinnert, daß die Regierung sich endlich genöthigt sah, die entschiedensten Maßregeln zu ergreifen, damit das Uebel nicht überhand nähme und ein großer Theil der Einwohner im strengsten Sinne von der Erde verschlungen würde. Durch eine 1776 veranstaltete Untersuchung erfuhr man zum allgemeinen Entsetzen, daß, wenn man die Arbeiten nicht sofort begänne, eines Tages halb Paris zusammenstürzen könnte. Der Staatsrath ernannte daher ein Jahr darauf eine besondere Commission, an deren Spitze der Generaldirector der Bauten und der Generallieutenant standen. Unter ihrer Leitung wurden die Arbeiten in Angriff genommen. Um diese Zeit wurde auch die Generalverwaltung der Steinbrüche ernannt. Gerade an dem Tage, als der Director dieser Verwaltung installirt wurde, stürzte ein Haus in der Rue d’Enfer in einen achtundzwanzig Meter tiefen Abgrund, gleichsam als ein schlagender Beweis von der Nothwendigkeit schnell zu ergreifender Maßregeln. In der That machte man sich auch auf’s Lebhafteste an’s Werk. Die ersten Arbeiten waren der genauesten Untersuchung der Brüche gewidmet und man überzeugte sich bald, daß es außer den alten bekannten Brüchen noch viele andere gab, von deren Dasein man bisher nichts gewußt hatte. Man theilte nun die Arbeiter in den Brüchen in zwei Classen ein, von denen die eine mit der Ausbesserung und Stützung der alten bekannten Gänge sich beschäftigte, während die andere unablässig thätig war, Verbindungsgänge mit den entdeckten neuen Brüchen herzustellen und die noch unbekannten aufzusuchen.

Seit jener Zeit, seit achtzig Jahren, sind diese Arbeiten ohne Unterbrechung fortgesetzt worden und werden wohl, bei der wahrhaft ungeheueren Ausdehnung dieser unterirdischen Bauten, niemals ohne Gefahr unterbrochen werden können.

Aus dem eben Gesagten ergibt sich, daß die Katakomben von Paris nicht immer ihre jetzige Bestimmung gehabt. Diese datirt vielmehr erst von 1786 und ist besonders durch den Cimetière des Innocents veranlaßt worden. Dieser im lebhaftesten Theile von Paris gelegene Kirchhof hatte fast während eines Jahrtausends zum Begräbnißplatze gedient und er mußte im Laufe der Zeiten, bei der fortwährend zunehmenden Bevölkerung der Stadt, bedeutend vergrößert werden. Indessen beklagten sich doch schon früh die Bewohner jenes belebten und gewerbtreibenden Viertels über die bösen Ausdünstungen des Friedhofs und die dadurch veranlaßten Krankheiten; und schon in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts drangen zwei berühmte Aerzte der Universität auf die

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 670. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_670.jpg&oldid=- (Version vom 6.12.2022)