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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Sie hielten sich lange und fest in den Armen und küßten sich so innig, so herzlich, so treu.

„In drei Monaten bin ich wieder bei Dir.“

„In drei Monaten!“

„Früher, früher! Ich werde es können!“

„Du würdest mich todt finden, wenn Du später kämst.“

„Lebe wohl!“

„Lebe wohl!“

Er ließ sie los; er eilte fort, auf der Landstraße, an der sie ausgestiegen waren, und die von dort sich in das Land hinein zog. Sie stand unbeweglich; sie sah ihm nach, sie lauschte. Er war in dem Dunkel der Nacht, in dem Regen und Schnee verschwunden; sein Schritt war verhallt in dem Rauschen des Sturmes und des Wassers.

„Ade – Felicitas!“ rief hinten im Wege seine Stimme noch zum letzten Abschiedsgruße.

„Alphons, Alphons!“ rief sie ihm grüßend nach.

Dann hörten sie Beide nichts mehr von einander.

Sie stand noch lange unbeweglich und sah hinein in die Finsterniß, und horchte hinaus in den Sturm; aber sie sah nichts als das undurchdringliche Dunkel; sie hörte nichts, als das Heulen des Windes und das Brausen des Wetters. Er war fort und sie war allein. Aber sie mußte noch immer blicken und lauschen. Sie ging in den Kahn zurück; sie stieß ihn von dem Ufer ab und blickte und horchte noch einmal in die Gegend, in der er verschwunden war; aber dann nicht mehr.

Sie fiel in dem Nachen auf der Ruderbank nieder; ihre Kraft war dahin; sie war getrennt von ihm; nicht einmal die Erde verband sie mehr mit ihm; er war drüben und sie allein auf dem Wasser.

Sie war allein, er war fort; die ganze Gewalt des Schmerzes der Trennung fiel auf sie. Laut mußte sie weinen, laut und bitter in die dunkle Nacht.

„Wird er wiederkommen? Es wäre mein Tod, wenn er nicht wiederkäme! Ich kann nicht von ihm lassen. Und der Vater und der Blödsinnige fluchten ihm! Er gehört zu den Feinden unseres Volkes, zu denen, die uns soviel Böses gethan haben! Ich muß ihn dennoch lieben, mein Herz kann nicht von ihm lassen. Was geht mich ihr Hader, was geht mich ihr Haß an? Aber der Vater fluchte auch mir!“

Sie sank nieder in den Kahn, auf ihre Kniee, die Hände gefaltet. Sie nahm in ihrer Herzensangst ihre Zuflucht zu dem Urquell alles Trostes für das fromme, reine, gläubige Gemüth; sie betete in jener edlen, großen und doch so einfachen, natürlichen Weise.

„O, Du Vater im Himmel, wenn es geschehen kann nach Deinem unerforschlichen Rathschlusse, dann laß ihn wiederkommen und uns glücklich werden!“

Das wahrhaft reine und fromme Gemüth wird durch das Gebet beruhigt; es sucht dann nach keiner Ahnung, nach keinem Zeichen des Versprechens, des Gewährens mehr; es hat sich seinem Gott nahen, es hat ihm seine Bitte sagen können, es vertraut, daß der Gott der Liebe und der Gnade nach seiner Weisheit Alles am besten ordnen und fügen werde, wie es nicht anders sein kann – es ist beruhigt.

Sie setzte sich auf die Ruderbank, nahm die Ruder und lenkte mit sicherem, kräftigem Arme das Fahrzeug durch die brausenden Wellen, durch den tobenden Sturm, durch Regen und die Dunkelheit der Nacht dem Fährhause zu.

Ihr Herz war so gottergeben!




IV.
Liebe, Glaube, Hoffnung.

Ihr Herz war so gottergeben! Alle ihre Gedanken waren nur auf den Geliebten gerichtet; aber mit dem ergebensten und dem ruhigsten Herzen. Sie liebte ihn so innig, so treu; sie hatte kein anderes Gefühl, als die Liebe zu ihm, keine andere Hoffnung, als seine Rückkehr; sie konnte nicht leben ohne ihn. Auch er konnte kein anderes Gefühl, keine andere Hoffnung, kein Leben ohne sie haben; so wartete sie seiner Rückkehr.

Träumend saß sie schon in der nämlichen Nacht, als sie ihn über den Strom gebracht hatte und nach Hause zurückgekehrt war, an dem Fenster der Stube, das auf den Fluß führte. Ihr Blick war nach dem jenseitigen Ufer gerichtet, ihr Ohr lauschte dorthin, nach der Stelle, wo die, welche herübergesetzt sein wollten, ihr „Hol’ über!“ riefen und warteten, bis der Fährnachen kam und sie hinüberholte. Sie träumte von der glücklichen Stunde, da sie auf einmal sein „Hol’ über“ hören, in den Nachen fliegen, wie mit Flügeln des Vogels die Wellen durchschneiden, in seinen Armen liegen, umfaßt von ihm ihn herüberholen werde. Kein Anderer holte ihn, nur sie, in dem nämlichen Nachen, in dem sie ihn hinübergebracht hatte; sie hatte es ihm versprochen.

Träumend saß sie so am andern Morgen, und alle Tage, alle Morgen, alle Abende, bis tief in die Nacht hinein. Wenn das Wetter hell war und sie stromabwärts das jenseitige Ufer sehen konnte, dann schweifte ihr Blick weiter, von der Landungsstelle bis dort hinunter, wo sie von ihm Abschied genommen, wo sie zum letzten Male seine Hand, seinen Kuß, das Schlagen seines Herzens gefühlt hatte; immer träumte sie glücklich, von ihm glücklich.

Mitte November war er fortgegangen und Mitte Februar waren die drei Monate um; wenn der Winter abging, mußte er wiederkommen.

Noch vor Neujahr starb die kleine Anna; noch vor dem Vater, wie jener Traum es dem Mädchen vorher gesagt hatte. Der Lebenskeim des in Unglück und Gram geborenen, von der Milch einer kranken Brust genährten Kindes war fast schon in seiner Geburt zerstört gewesen.

Der Tod des Kindes ergriff die Muhme, die das Kind so sehr geliebt, die an ihm die einzige Vertraute gehabt hatte. Aber so sehr war ihr Herz von der Liebe zu dem Geliebten erfüllt, daß sie mitten unter ihren Thränen nur an ihn und an seine Rückkehr denken konnte.

Sie sagte den Tod des Kindes gewissenhaft dem Nachbar an; ihr Vater lebte ja noch. Aber wie sie den Strom entlang ging und an der Stelle vorbei kam, wo sie den Geliebten so elend gefunden, mußte sie doch erst in die Weide treten, und als sie weiter ging, konnten ihre Augen nur wieder die Stelle am jenseitigen Ufer suchen, wo sie Abschied von ihm genommen hatte.

Gegen Ende Januar starb auch ihr Vater. Auch dieser Tod war ein Glück für den Sterbenden, eine milde Erlösung des alten, an Körper und Geist kranken Mannes von langen Leiden. Felicitas mit aller ihrer Liebe, mit aller ihrer Zärtlichkeit und ihren Sorgen, die sie so viele Jahre treu und unverdrossen dem Vater gewidmet hatte, konnte seine Leiche zum Grabe geleiten nur unter dem Gedanken an die Rückkehr des Geliebten.

Auch seinen Tod hatte sie gewissenhaft angesagt. Sie selbst zwar konnte nicht mehr in dem Hause bleiben. Andere, fremde Fährleute mußten hineinkommen; aber auch den fremden Leuten wollte sie den Tod fern halten.

Sie mußte das Haus verlassen. Wo einem „zwölf Jahre gedienten Unterofficier“ eine „Civilversorgung“ gegeben werden kann, da sind die Behörden und die Unterofficiere schnell bei der Hand. Der alte Fährmann Rose lag kaum in Ruhe auf dem Kirchhofe, als schon sein Nachfolger eintraf.

Felicitas mußte das Haus verlassen, in dem sie geboren war, in dem sie das Leben, das Glück und die Leiden des Lebens, in dem sie die Liebe kennen gelernt hatte. Sie wollte auch bei den fremden Leuten in dem Hause nicht bleiben. Sie konnte es ruhig; ohne Gram verlassen. Der junge Bauer Ferdinand bot ihr ein Unterkommen an, bei seiner Schwester, seiner Mutter, die sie liebten. Sie schlug es aus.

Konnte sie auch in dem Fährhause nicht bleiben, die Fähre hätte sie nicht verlassen können, ihr Geliebter kam dahin zurück. Sie mußte da sein, wenn er kam. Sie zuerst mußte sein „Hol’ über“ hören; sie zuerst mußte ihn sehen; sie selbst mußte ihn von drüben herüberholen.

Sie bat den neuen Fährmann, bleiben und mit dem Blödsinnigen tauschen zu dürfen. Er genehmigte es. Der Blödsinnige wurde in das Haus genommen; sie bezog seine Hütte am Wasser, und versah den Dienst des Uebersetzens nach wie vor.

Der Januar ging vorbei, der Februar kam. Jetzt konnte er bald kommen. Sie sah nur nach der Landungsstelle am jenseitigen Ufer hinüber. Sie horchte bis Mitternacht an dem schmalen, niedrigen Fenster der Fährhutte nach seinem „Hol’ über.“ Wenn eine Stimme rief, so zuckte sie bei dem ersten Laute, der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 655. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_655.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)