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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Ufer in die Weiden, sie küßten ihn. Zurückgelassen hatten sie ihm nichts, nicht einmal eine Kruste Brod, nur ihre Thränen, die auf sein bleiches, sterbendes Antlitz fielen. – „Gott gebe Dir einen sanften Tod, Bruder!“ – Sie stürzten sich in das Wasser. Die Sinne schwanden ihm; als er erwachte, erschrak er; er hatte im Erwachen noch unwillkürlich laut gejammert; gewiß aber auch im unruhigen Schlummer des Fiebers. Aber er konnte nicht lange darüber nachdenken; das Fieber warf ihn in den bewußlosen Zustand zurück. Er erwachte wieder mit lautem Klagen; der Hunger, der Durst, der Schmerz hatten sie ihm wider seinen Willen ausgepreßt. Er vernahm Schritte, er sah einen Lichtschimmer. Schritte und Licht naheten sich ihm. Er glaubte, es sei um ihn geschehen, er hielt sich für verloren. Da öffnete sich die Weide, in der er lag, und er sah einen Engel, der sich über ihn beugte.

„Ja, Felicitas, einen Engel, meinen Engel!“

Er zog den Engel sanft an seine Brust. Das Mädchen konnte nur weinen. Er küßte die Thränen aus ihren Augen.

„Und nun, Felicitas, erzähle mir von Dir. Engel haben die schönsten Geschichten.“

Was sollte sie ihm erzählen? Die Geschichten der Engel sind die schönsten, denn sie sind die Geschichten der Liebe und der Unschuld; aber sie sind auch die einfachsten.

Sie war in dem einsamen Fährhause geboren und groß geworden, unterrichtet von ihrem Vater, der früher Unterofficier gewesen, und von ihrer Mutter, einer nicht ganz ungebildeten Lehrerstochter. Sie hatte leider die Mutter früh verloren. Der Vater war darauf von einem schweren Leid betroffen, er war kränklich geworden; durch den Bau neuer Wege, sowie neuer Brücken über den Strom war er in seiner Einnahme zurückgekommen. So hatte sie stets in dem väterlichen Hause bleiben müssen, den alten Vater nicht verlassen dürfen. Das erzählte sie ihm einfach, wie es war.

„Und welches war das schwere Leid, das Deinen Vater betroffen hatte?“

Das Mädchen schwieg erröthend.

„Das Kind dort hat es mir angedeutet. Du hast es verschwiegen, um mich nicht zu kränken, Du edle Seele. Aber ich muß es wissen; erzähle es mir.“

Sie erzählte ihm auch das. Es war wieder eine einfache Geschichte; aber keine von jenen, in denen gebrochene Herzen vorkommen. Ihre ältere Schwester, ein bildschönes Mädchen, war in einer benachbarten größeren Stadt bei einer Dame als Kammerjungfer in Dienst getreten. Ein junger französischer Officier hatte dort sich in ihr Herz zu schleichen gewußt und sie verführt. Verführt, entehrt, von der Dame aus dem Hause gestoßen, ohne Muth, dem strengen Vater unter die Augen zu treten, war sie mit ihrem Kinde in Elend gerathen. Ein Zufall hatte dem Vater ihre Schande, ihr Elend entdeckt. Er war zu der Stadt gereist, hatte den Verführer aufgesucht, zur Rede gestellt und zu seiner Pflicht anhalten wollen, hatte aber nur Hohn gefunden. Er hatte den Elenden in Gesellschaft von Cameraden angetroffen, die den Greis verspotteten, mißhandelten, übermüthig verspotteten, gemein mißhandelten; nur die Tochter mit ihrem Kinde und ihrer Schande und der Beschimpfung hatte er nach Hause bringen können.

„Und ein Franzose war es, Felicitas, der Deine Schwester entehrt, Deinen Vater beschimpft, Euch Alle unglücklich gemacht hat?“

„Es war ein Franzose.“

„Felicitas, Du hassest darum nicht alle Franzosen?“

„Wäre es nicht gegen das göttliche Gebot?“

„Nicht auch gegen das Gebot Deines eigenen Herzens?“

Er sah ihr tief forschend in das Auge. Sie mußte verwirrt das Auge niederschlagen.

„Aber, wie kann ich fragen? Du hast ja einem Landsmanne jenes Elenden das Leben gerettet. – Felicitas, ich verdanke Dir das Leben; laß mich noch mehr Dir verdanken, das Glück meines Lebens.“

Er hatte mit seiner gesunden rechten Hand ihre beiden Hände gefaßt; er drückte sie gegen den Stumpf seiner linken Hand, dann gegen sein laut klopfendes Herz. Sie zitterte heftig und konnte es ihm nicht wehren.

„Antworte mir, Felicitas, kannst Du mich lieben?“

Sie konnte nicht antworten.

„Sieh mich an und laß mich die Antwort in Deinen Augen lesen.“

Die Augen konnte sie zu ihm erheben. Er sah die helle Liebe des Mädchens darin. Er drückte sie an sein Herz. Sie legte sich leise und weich selbst daran. „Du liebst mich, Felicitas?“

„Ueber Alles.“

„Aber nicht mehr, als ich Dich. Als Du an jenenn Abende zu mir tratst, da meinte ich, der Tod nahe mir, und das Leben, das Glück, die Liebe waren zu mir getreten. Ich fühlte es mitten in den Schauern des Fiebers, das mich auf diesem Lager schüttelte, wenn die heißbrennenden Augen sich mir öffneten und ich Deine Engelsgestalt vor mir sah. Ich erkannte es, als die Krankheit mich zu verlassen begann, und mein Geist wieder hell wurde. Ich liebte nicht mehr das Leben, ich liebte nur Dich, Dein mildes, Dein treues, aufopferndes, Dein edles Herz. Und eins wußte ich nicht einmal, mußte ich erst von den Lippen dieses Kindes erfahren. Wie viele Ursache hattest Du, mich zu hassen, und Du hattest doch nur Liebe in Deinem Herzen! – Sie soll Dir vergolten werden, Deine Liebe; was meine Landsleute an den Deinigen verbrochen, ich werde es an Dir wieder gut machen. Felicitas ist Dein schöner Name, ja, Dein Leben soll fruchtbar werden an Glück.“

Er küßte sie und sie küßte ihn wieder, sie kosten glücklich miteinander, bis das Kind erwachte und der Abend in den verschwiegenen Raum hineindämmerte.

Dann nahm sie das Kind auf den Arm und verließ den Boden, stieg die Leiter hinunter und verbarg sie wieder. Das kluge Kind aber sagte: „Du bist doch bei Deinem Liebhaber gewesen, Muhme Felicitas. Aber ich werde es keinem Menschen sagen.“




III.
Die Trennung.

Wieder waren acht Tage vergangen. Es war Abend; der Herbst war rauher geworden, der Winter nahete, der Wind war schneidend und in den Regen mischten sich schon Schneeflocken.

So strich der Wind, beinahe stürmend, um das einsame Fährhaus; so schlug der Regen an die Mauern und Fenster. Draußen war es dunkel. Kein Stern leuchtete durch die dicken schwarzen Wolken, die am Himmel hingen. Die weißen Schneeflocken, die durch den Regen flogen, man fühlte sie, aber das Auge konnte sie nicht sehen.

Auch in der Stube des Fährhauses war es dunkel und man konnte nur hören, daß sich Menschen darin befanden. In dem Bette schlief der Greis unruhig; in seinen Kissen auf der Bank hörte man den sanfteren Athem des Kindes; neben dem Kinde hörte man leise, lang angehaltene Seufzer einer weiblichen Brust.

Felicitas saß dort am Fenster. Sie blickte träumend in das stürmische Wetter hinein. Ihre Träume waren glückliche, das zeigten die selbst in der Dunkelheit glänzenden Augen; auch jene leise heraufzitternden, lang angehaltenen Seufzer waren die Verräther ihres glücklichen Herzens.

Ihr glückliches Träumen wurde unterbrochen. Sie hatte schon seit einer Weile gehört, wie draußen unter dem Fenster ein Mensch hin und her ging. Sehen konnte sie ihn in der Finsterniß nicht, hatte ihn aber, trotz dieser Finsterniß, an seinem Gange erkannt, an einem manchmal wiederholten Räuspern; es war der blödsinnige Fährknecht Wilhelm.

Warum ging der schwachsinnige Mensch, der sonst um diese Zeit ruhig zu schlafen pflegte, in dem Unwetter dort umher und, wie es schien, absichtlich leise, als wenn er nicht bemerkt werden wolle? Das Mädchen wußte es nicht; sie bekümmerte sich auch nicht darum. Der Blödsinnige hatte zuweilen unruhigere Tage, ohne daß man einen äußeren Grund dafür auffinden konnte.

Aber zu dem Schritte des Schwachsinnigen hatte sich ein anderer Schritt gesellt; er war frei und laut vom Dorfe her näher gekommen, und der Blödsinnige hatte ihn angehalten.

„Ferdinand, bist Du es?“

„Ja.“

„He, he, Du willst zum Liebchen! Armer Ferdinand! Bleib’ hier, ich habe Dir etwas zu sagen.“

„Was willst Du, Bursch?“

„Laß uns leiser sprechen.“

Er sprach leiser; das Mädchen konnte aber dennoch seine Worte vernehmen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 639. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_639.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)