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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

füllte allein einen mäßigen Folianten. Ja und was für Bücher! Wie man sie nur in fürstlichen Bibliotheken zu finden pflegt. Die ausgezeichnetsten Ausgaben und Prachtwerke, die bis zum ersten Viertel unsers Jahrhunderts in den vorzüglichsten Werkstätten der europäischen Literatur erschienen. Von bedeutenden Kupferwerken der egyptischen, griechischen und römischen Alterthumskunde fehlt schwerlich eins. Ueberhaupt viel classische Literatur. Dann der französische Atheismus sehr stark vertreten (z. B. die große Encyklopädie von Diderot und d’Alembert, die bekanntlich Taufpathin der sämmtlichen Repräsentanten dieser Richtung und moderne Bibel ihres Cultus), allein eine Menge Schriften über Voltaire. Aber auch eine Masse der schlechtesten deutschen Romane aus dem Ende des vorigen und dem Anfange dieses Jahrhunderts. Wahrscheinlich war mit dem letzteren Literaturzweige für die geistigen Bedürfnisse der Dienerschaft gesorgt. Mit der Bibliothek ist ein Kunst-, Antiken- und Naturaliencabinet vereinigt, das ebenfalls einen bedeutenden Rang einnimmt. Mit Bewunderung sah ich hier Antiken von carrarischem Marmor von hohem Werth, z. B. einen Antinous- und einen Sokrateskopf.

Ferner eine große Anzahl in der Umgegend ausgegrabener slavischer Antiquitäten von Erz; Kunstwerke verschiedener Art aus neuerer Zeit, eine Bilderreihe sämmtlicher Ungarkönige, Familienportraits der Erdödy und verwandter Magnatenhäuser, Alles wohlerhalten und mit Geschmack placirt. Unter den Bildern erregte ein großes in Felder eingetheiltes Tableau mit den Portraits des Erdödy’schen Hauses (auch einige Frauen waren dabei) von alter Zeit (ich glaube, der erste war aus dem dreizehnten Jahrhundert) bis auf den vorletzten Grafen herab meine Aufmerksamkeit wegen des psychologischen Interesses, welches diese Köpfe gewährten. Diese Reihenfolge enthielt nämlich nicht nur die gemalte Geschichte der Grafen Erdödy, sondern die des ganzen Ungarreichs, ja gewissermassen die Weltgeschichte selbst. Zuerst diese trotzigen kühn blickenden Heldengestalten in Stahl und Eisen, die Hand am Schwertknauf, bärtig, sonnverbrannt, wahre Eisenfresser, aber ohne Geist und Seele in den Zügen; das waren die Abkömmlinge der asiatischen Horden, welche sich in Besitz des schönen Landes setzten; dann die Türkenschlächter und Grenzwächter der sich unter ihrem unwillkürlichen Schutze entwickelnden europäischen Cultur. Hernach kommt eine Reihe, in deren Zügen der erwachende Geist aufblitzt; die ungarischen Magnaten des 16. Jahrhunderts wurden fast alle von der „Blässe des Gedankens angekränkelt“; in keinem Lande machte die Kirchenreformation in allen Schichten der Gesellschaft größere Fortschritte. Nun zeigen sich die galanten glatt rasirten Generalsgesichter in rother Uniform aus der Zeit der letzten Habsburger und der ersten Lothringer, und die feinen, abgestandenen Prälatengesichter mit erlöschenden Augen im violetten Kleide. Zuletzt die überfeinerten blasirten toupirten und gepuderten Diplomatenköpfe mit den wirrgekräuselten Zügen um den Mund, im schwer mit Gold gestickten Hofkleide. Da ist nun alle Kraft fort, alle Originalität, alle Nationalität. Dieser Graf Josef Erdödy, 1824 als ein hoher Siebziger oder angehender Achtziger gestorben, einst der mächtige Hof- und Reichskanzler von Ungarn, und als solcher der Regent des Königreichs, ein in vieler Hinsicht sehr merkwürdiger Mann, sieht ganz aus wie ein französisch bourbonischer Minister. Auch seine zweite Gemahlin ist auf dem Bilde (die Dame lebt heute noch in hohem Alter), Elisabeth, geborne Mayer, die Tochter eines Wiener Fiacre’s. Die Geschichte des Grafen Josef und der Gräfin Elisabeth ist so originell und ein so treuer Sittenspiegel des österreichisch-ungarischen Adels zu Anfang dieses Jahrhunderts, daß sie wohl eine kurze Darstellung verdient. Doch kann sie in dieser Zeitschrift nicht gegeben werden.

Sodann das Archiv der Grafen Erdödy mit höchst merkwürdigen Actenstücken. Das Interessanteste davon gedenke ich später in Auszug mitzutheilen. Der Archivar, Herr Franz von Zmertych, erwies mir viel Freundschaft. Vergebens fragte ich aber nach einem Bibliothekar und Aufseher des Kunst- und Antiquitätencabinets. „Wozu ein Bibliothekar?“ war die Antwort. „Niemand benutzt die Bibliothek.“ – „Nicht die Grafen Erdödy?“ fragte ich verwundert. – „Niemand.“ – „Nicht die gebildete Einwohnerschaft von Freistadtl und Umgegend?“ – „Niemand.“ – „Man verweigert wohl das Ausleihen der Bücher?“ – „Im Gegentheil, man würde sie mit der größten Liberalität zum Lesen verabfolgen lassen.“ – Heiliger Apollo und alle neun Musen! Da stand die kostbare, große, ausgezeichnete Bibliothek schlafend wie Dornröschen im Märchen oder wie der Rothbart im Kyffhäuser. Keine Menschenseele machte von diesem herrlichen Schatze Gebrauch, und mir blutete das Herz. „Es ist halt die Slowakei unserer Tage!“ sagte mir ein verständiger Mann seufzend.

Unter den Nebengebäuden des Schlosses sind der ungeheure Pferdestall, die eben so großartige Reitbahn und das kleine allerliebste Theater – alle drei grauenhaft verödet, wie das Schloß selbst, – zu erwähnen. Und wie belebt waren vor vierzig bis siebzig Jahren diese Gebäude! In diesem Stalle war eine Elite von ungarischen, spanischen und arabischen Pferden – mehre Hunderte – zu finden; in dieser Reitbahn hielt die Blüthe des ungarischen und österreichischen Adels ihre Reitübungen; in diesem Theater saßen höchste und hohe Herrschaften, die Frauen und Töchter der zur französischen Cultur durchgedrungenen Magnaten und hörten die Lustspiele französischer Dichter und die Operetten französischer Componisten in der Ursprache. Auf dieser Bühne entfaltete der Atheismus sein buntes Panier, in diesen Corridors drängten seine Anhänger, in diesen Sälen und Zimmern debauchirte seine Tochter, die Frivolität, in dieser Bibliothek suchte sein Enkel, die Blasirtheit, nach neuer Nahrung.

Nun erzählt ein ungarischer Schriftsteller, Stephan von Sándor (sprich: Schahndor, zu deutsch: Alexander), der in derselben Gegend an der Waag geboren und aufgewachsen, ein artiges Schloß, Luka, nur wenige Meilen oberhalb Freistadtl besaß, in einem seiner Bücher „Sokféle“ (Allerhand) 1808, wie er in seinem Knabenalter, welches in das letzte Viertel des vorigen Jahrhunderts und mit dem Beginn der Glanzperiode auf dem hohen Grafenschlosse zusammen fiel, eine eigenthümliche Execution mit angesehen habe. Die anhaltende Dürre eines Sommers schrieben die slowakischen Bauern des sonst so fruchtbaren Waagthals den Hexen in ihren Dörfern zu, und fingen mit Vorwissen der Dorfrichter, des Stuhlrichters und des Plebans alle armen alten Weiber ein, schleppten sie an die Waag, wo sie ins Wasser getaucht wurden, und erklärten diejenigen, welche nicht sogleich untersanken, als der Hexerei und der Ursache des Regenmangels schuldig.

Ins Comitatgefängniß gesperrt, und mit Hunger und Peitschenhieben zum Geständniß gezwungen, wurde die arme Hexe auf einen Holzstoß gesetzt und jämmerlich verbrannt.

Merkwürdiger Weise, schreibt Sándor, fing man nur die armen alten Weiber ein; die Frauen und Mütter vermöglicher Bauern ließ man ungeschoren. Nun gehörten die Dörfer in dieser Waaggegend den Herren Grafen von Erdödy.

Ist es nicht ein pikantes Bild: oben auf dem prächtigen mit aller Eleganz und allen Culturmitteln ausgestatteten Magnatenschlosse steil über der Waag das fröhliche Treiben der vornehmsten Gesellschaft, deren geistiges Leben und Glauben nach den Grundsätzen und Lehren Voltaire’s und der Encyklopädisten gemodelt ist, französisches Theater und jener frivole Lebensgenuß der haute volée, die in der ersten französischen Revolution in zweifacher Bedeutung die Köpfe verlor, Leute jener praktischen Philosophie, welche die Grundlage der Gesellschaft wie ätzende Säuren zersetzte – und unten an der Waag Hexenschwimmen und Hexenverbrennen wegen Wettermacherei!

Wo wäre ein zweiter schneidender Contrast wie dieser? Aber was wird man erst sagen, wenn ich beibringe, daß der weise Ungarkönig Coloman im Jahre 1100, sage Eintausend Einhundert nach Christi Geburt, ein Reichsdecret erließ, worin es wörtlich heißt, „daß über Hexen keine Untersuchung stattfinden solle, weil es überhaupt gar keine Hexen gäbe.“ Was mußte mit einem Lande geschehen sein, wo fast siebenhundert Jahre später unter der Herrschaft eines so aufgeklärten und feingebildeten Herrn, wie der Reichskanzler Graf Josef Erdödy, noch Hexen verbrannt wurden?



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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 631. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_631.jpg&oldid=- (Version vom 15.11.2022)