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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

das warme Leben darin ausgehaucht, das ihr so kalt, so hart gewesen war. Der verwundete Fremdling lag darin. Er hatte das warme, frische Leben darin gewonnen. Er war noch blaß, aber die Züge zeigten nicht mehr die Erschlaffung jenes Abends, als das Mädchen ihn in den Weiden am Flusse gefunden hatte. Sie hatten wieder Spannkraft gewonnen.

Noch in derselben Nacht, als das Mädchen ihn aufgenommen, hatte eine heftige Krankheit ihn befallen. Als sie am Morgen wieder zu ihm kam, fand sie ihn in einem schweren hitzigen Fieber. Auf dem Lande, in der Einsamkeit des Fährhauses hatte sie allerlei Hausmittel gegen Krankheiten kennen gelernt. Wie oft hatte sie ihre einfache und vielleicht desto wirksamere und wohlthätigere Kunst bei der kranken Schwester ausüben müssen! Sie bereitete ihm kühlende, lindernde Tränke gegen die Hitze des Fiebers. Sie reichte ihm stärkende Mittel, als das Fieber nachgelassen hatte. Es war bald verschwunden. Die ursprünglich kräftige Soldatennatur hatte trotz aller Erschöpfung durch die Wunde, durch Anstrengungen, Entbehrungen und Leiden so vieler Art, die Krankheit schnell besiegt. Die Hülfe des Mädchens war ihm wunderbar entgegen gekommen. Seit zwei Tagen war er auf dem Wege der Genesung. Er lag in dem Bette mit geschlossenen Augen.

„Er schläft!“ flüsterte Felicitas dem Kinde zu. „Wir wollen uns setzen, bis er aufwacht. Dann muß er seinen Trank haben.“

„Den Du ihm bereitet hast, Muhme?“

„Ja.“

Dem Bette des Kranken gegenüber war zu einem bequemen Sitze ein Haufen Heu aufgeschichtet. Das Mädchen hatte manche Stunde in ihrer Sorge um den Kranken dort gesessen und gewacht. Sie ließ sich jetzt mit dem Kinde dicht vor dem Kranken, dem Genesenden, auf dem Heu nieder und konnte jeden Zug seines Gesichtes sehen, jeden Zug seines Athems hören. Der Athem war sanft und ruhig; man glaubte es ihm anzuhören, wie erquickend, stärkend der Schlaf sein müsse. Das Gesicht war noch bleich, noch ohne jeglichen Tropfen Blutes, aber es zeigte jene neu erwachte Spannkraft, das Zeichen der wieder erwachten Gesundheit. Und es war so schön. Felicitas mußte dem Athem lauschen, in das schöne blasse Gesicht schauen.

Das Kind auf ihrem Schooße lauschte und schaute mit ihr in einer stillen Andacht, um den Schlaf nicht zu stören, der dem Kranken so wohl that, wie die Muhme gesagt hatte. Felicitas wurde unruhiger. Ihr fielen auf einmal die Worte wieder ein, die der Blödsinnige zu dem Kinde gesprochen hatte. Das schöne Gesicht, das so ruhig schlummernd, um zu neuem, kräftigerem Leben zu erwachen, vor ihr lag, war ein fremdes Gesicht. Es war mehr, es war das Gesicht eines Feindes, der mit geholfen hatte, ihr Vaterland zu unterdrücken, so viele Tausende braver deutscher Herzen unglücklich zu machen. Der allgemeine Haß des deutschen Volkes, so lange ohnmächtig in der kochenden Brust verschlossen, verfolgte ihn jetzt dafür, blutig, mörderisch.

Wohl wußte das einfache Mädchen in dem einsamen Fährhause, was Vaterland, was Druck und Unglück des deutschen Volkes war. Von ihrem Vater, dem alten preußischen Invaliden, hatte sie oft genug die Klagen über das arme Vaterland und das unterdrückte Volk vernommen. Und sie? Sie hatte den Fremdling, den Feind dem Leben wiedergegeben. Sie hatte ihn nicht hassen können. Sie konnte ihn auch jetzt nicht hassen. Und wenn sie auch sterben sollte, wie der Vater und der Blödsinnige gesagt hatten? Nein, nein, sie konnte ihn nicht hassen. Wie hing ihr Auge an dem schönen Gesichte! Er war ihr Liebhaber, hatte schon der Blödsinnige gesagt. Liebte sie ihn wirklich? War er es, dem sie nur mit ihrem ganzen Herzen, mit ihrem ganzen Leben angehören konnte? Von dem sie dann aber auch, wenn sie ihn einmal gefunden hatte, nicht wieder loslassen konnte? Nie, nie? Von dem Fremden, dem Feinde nicht? Und gerade sie, deren Schwester von einem dieser fremden Feinde so unglücklich gemacht, so früh in das Grab gebracht war?

Aber war er denn der Verführer gewesen? Hatte er zur Unterdrückung ihres Vaterlandes beigetragen? Der Verführer war er nicht. Und wenn er gegen Deutsche gekämpft hatte, war er nicht einem Zwange gefolgt, dem der Einzelne nicht widerstehen konnte und der ihn außer Verantwortlichkeit setzen mußte? Er hatte bei Leipzig gefochten, das wußte sie. Er war vielleicht mit in Rußland gewesen. Aber hatte nicht ihr eigener Bruder, der Sohn des alten preußischen Soldaten, mit nach Rußland ziehen müssen und hatte er nicht vielleicht ebenfalls bei Leipzig gekämpft, gar der Deutsche gegen den Deutschen? Und dennoch. Er war ein Fremdling, er war ein Feind, den der ungetheilte Haß, die bitterste Rache des Volkes, ihres Volkes verfolgte. Und sie sollte ihn lieben? Er sei ein Fremder und darum müsse sie sterben, hatte der Blödsinnige gesagt. Sterben? Sie schauderte. Aber, indem es ihr eiskalt über den Körper lief, konnte sie den Blick, den innigen, den sehnsüchtig träumenden Blick von dem Gesichte des Schlummernden nicht wegwenden.

Der Genesende schlief ruhig und fest.

„Hast Du Dir den Mann angesehen, Anna?“ fragte Felicitas leise das Kind.

„Er sieht so krank aus, Muhme,“ flüsterte das Kind zurück.

„Er war krank auf den Tod. Ich habe ihn gepflegt. Jetzt hat er wieder den Schlaf des Gesunden.“

„Und zu ihm bist Du immer gegangen?“

„Zu ihm.“

„Ist er denn wirklich Dein Liebhaber, wie der Wilhelm sagt?“

„Mein Kind, der liebe Gott hat befohlen, daß alle Menschen einander lieb haben sollen.“

„Aber warum hast Du ihn denn so heimlich hier auf den Boden gebracht?“

„Hast Du gehört, welche Worte in der letzten Zeit der Großvater sprach?“

„Er wollte alle Franzosen tödten, die jetzt aus dem Lande liefen.“

„So sprach er! Es war sein Ernst wohl nicht; er redet nur so, weil er krank ist.“

„Und er kann auch nicht einmal aufstehen,“ sagte das Kind.

„Aber die meisten Leute sprechen jetzt so, und weun sie einen armen kranken Franzosen finden, da fallen sie über ihn her.“

„Die Franzosen haben uns aber auch viel Böses gethan, Muhme Felicitas.“

Das Kind des Franzosen mußte so sprechen! Sie hatte es so oft gehört von dem kranken Großvater und dem blödsinnigen Wilhelm.

„Auch unsere Feinde sollen wir lieben, hat der Herr Jesus gesagt.“

„Aber sie haben es an uns verdient, Muhme,“ plauderte das Kind den irrsinnigen Männern nach, „an dem Großvater und an meiner Mutter. Der Großvater selbst hat es gesagt.“

Felicitas seufzte, auch mit einem traurigen Blick auf das Kind.

„Anna, vorgestern – ein Mann, den ich heute über das Wasser fuhr, erzählte es mir – vorgestern hat eine Bauersfrau jenseits des Stromes in ihrem Kartoffelfelde einen verwundeten französischen Soldaten gefunden, der vor den verfolgenden Bauern sich dort verborgen hatte. Der arme Mensch war vor Hunger und Müdigkeit halb todt. Er bat die Frau um ein Stück Brod und um Barmherzigkeit. Was that das Weib? Bei dem Kartoffelfelde war ein Graben. Sie allein konnte den Menschen nicht hineinwerfen. Sie lief in das Haus, wo ihre Tochter war, die rief sie herbei, und die Beiden warfen den hülflofen Menschen in den Graben, daß er sterben mußte. Hättest Du mir geholfen, Anna, wenn ich Dich so gerufen hätte?“

Das Kind schüttelte sich vor Entsetzen. Es drückte sich fest an den Busen des Mädchens.

„Nein, Muhme.“

„Und das dauert nun schon über acht Tage in der Gegend fort. Eine schreckliche Wuth ist in die Leute gefahren. Und die Menschen sind doch alle Brüder, alle die Kinder des lieben Gottes im Himmel.“

„Die armen Franzosen!“ sagte das zitternde Kind.

„Und sieh, Anna, so wäre auch das Loos des kranken Mannes gewesen, der jetzt hier wieder so gesund schlafen kann. Sie hatten auch ihn verfolgt, als ich ihn fand. Er war am Sterben.“

„Da brachtest Du ihn hierher?“

„Und pflegte ihn und sorgte für ihn. Und kein Anderer weiß von ihm, als Du und ich, und kein Anderer darf auch von ihm wissen, wenn er nicht noch sterben soll.“

„Kein Mensch soll es erfahren, Muhme.“

„Ich weiß, wie verschwiegen Du bist, mein liebes Aennchen. Darum nahm ich Dich mit hierher.“

(Fortsetzung folgt.)



 

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