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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

sich im Bette wieder niedergelegt. Der Aufregung war die Abspannung gefolgt. Sie nahm die Laterne und zündete sie an der Lampe an.

„Was willst Du mit der Laterne?“ rief der alte Mann aus dem Bette, beinahe wieder heftig.

„Es rief von der andern Seite. Es will Jemand übergesetzt sein.“

„In dem Wetter? Und so spät noch?“

„Bei solchem Wetter kommt es immer.“

„Ist der Wilhelm noch nicht zurück?“

Er meinte den blödsinnigen Fährgehülfen, der mit der Leiche gezogen war.

„Noch nicht. Ich muß selbst herüberholen.“

„Vergiß nur das Ansagen nicht.“

„Nachher, wenn ich zurückkomme.“

Sie verließ mit der Laterne die Stube.

„Hol’ über!“ rief vom jenseitigen Ufer eine Mannesstimme.

Sie hatte schon vorhin gerufen. Sie hatte auch von dem Mädchen Antwort erhalten, daß sie gehört sei. Sie rief bei dem Erscheinen der Laterne vor dem Fährhause noch einmal, wohl nur, um sich zu vergewissern, man vergesse sie nicht.

Das Mädchen hob die Laterne hoch, zum Zeichen, daß sie komme.

Sie ging zum Ufer.

Es lagen dort drei Nachen zum Uebersetzen. Ein größerer Prahm für Pferde, selbst kleine Wagen; ein mittlerer für mehrere Menschen; ein kleinerer für weniger Personen. Die Nachen, Eigenthum des Staats, lagen angeschlossen. Sie löste den kleineren von seiner Stange ab und stieg hinein.

Das Wetter war noch naß und ungestüm, wie vorher. Der Wind strich kalt über den Strom und über den Nachen. Er jagte in dicken Tropfen den Regen in das Gesicht des Mädchens.

Sie befestigte die Laterne an den Vordertheil des Nachens. Am Hintertheil befanden sich zwei Ruder. Sie nahm sie und ruderte in das dunkle Wasser hinein.

Nachdem die Stimme drüben nicht mehr gerufen, war es ringsumher wieder völlig still, bis auf das Geräusch, das Wind, Strom und Regen machten.

Das Mädchen warf unwillkürlich ihre Blicke nach der Gegend, wo sie vorhin das Wehklagen und unterdrückte Hülferufen gehört hatte. Oder hatte sie nur gemeint, es zu hören? War es eine Einbildung ihrer aufgeregten Phantasie gewesen?

Sie glaubte mit ihrer Gegend an Gespenstergeschichten, an Vorgeschichten, Ahnungen, an die heilsame Kraft alter Gebräuche, an die nachtheiligen Folgen ihrer Nichtbeachtung. Aber nie hatte sie Furcht empfunden. Wie oft hatte sie, gleich heute, in dunkler Nacht, selbst Mitternacht, durch Wind und Wetter in ihrem Nachen allein über den Strom fahren müssen, allein hinaus oder allein zurück. Nie hatte auch nur ein leises Schauern oder Frösteln der Furcht sie ergriffen. Freilich hatte sie auch nie etwas von einem Gespenste gehört oder gesehen, und nichts war ihr begegnet, was sie als Vorgeschichte hätte ausdeuten können.

Warum heute dieses unheimliche Gefühl, mit dem sie nach jener Gegend blicken mußte? Sie hatte dort jene sonderbaren Töne vernommen. Aber hatte sie sie in der That vernommen? Sie wollte sich auch wohl einreden, daß sie nichts gehört habe. Aber immer kehrte die Erinnerung zurück, und mit der Erinnerung das unheimliche Gefühl und die Ahnung, wie eines schweren Unglücks.

Sie mußte wieder und wieder nach jener Stelle in den Weiden zurückblicken. Sie mußte immer wieder hinhorchen. Sie sah nichts, sie hörte nichts.

Als sie die Mitte des Stromes erreicht hatte, hörte sie auf einmal etwas. Aber es kam nicht aus jener Gegend. Es kam aus weiterer Ferne. Es klang, wie wildes Geschrei; man konnte glauben, gar Schüsse fallen zu hören. Das Brausen des Windes und der Wellen nahm aber die Töne wieder fort, bevor das Ohr sie deutlich hatte aufnehmen können.

Sie legte an dem jenseitigen Ufer an.

Ein einzelner Mann wartete auf das Uebersetzen. Es war ein Handelsmann aus der Gegend, der schon vor einigen Tagen den Strom passirt hatte. Das Mädchen nahm ihn ein und ruderte mit ihm zurück. Er sagte, daß er noch so spät nach Hause eile, weil es auf der Seite, von der er komme, überall unruhig sei.

„Morgen kann man da seines Lebens nicht mehr sicher sein. Das ist eine schlimme Zeit jetzt im Lande.“

„Was gibt es?“ fragte das Mädchen.

„Ist es denn bei Euch noch ruhig? Von Eurer Seite kommt es ja.“

„Wir haben noch von nichts gehört. Man sagt nur, daß die Franzosen überall aus dem Lande laufen.“

„Wo sie weglaufen können, da mögen sie es gewiß thun. Aber wohl die wenigsten kommen fort.“

„Die armen Menschen!“

„Habt Ihr auch noch nichts von der großen Schlacht bei Leipzig gehört?“

„Die Franzosen sollen sie verloren haben.“

„Sollen nur? Vernichtet sind sie. Das war eine Völkerschlacht. Sechsmalhunderttausend Menschen standen gegeneinander im Kampfe. Drei Tage stritten sie gegen einander. Ueber hunderttausend sind gefallen. Am dritten Tage hatten die Unsrigen den Sieg erfochten, und während unser König und die Kaiser von Oesterreich und Rußland ihre Häupter entblößten und auf der nassen Erde niederknieten, um Gott zu danken für die Befreiung des Vaterlandes, für die Niederwerfung des hochmüthigen Erzfeindes, unterdeß lief schon der Bonaparte schmählich dem Rheine zu und alle seine Franzosen, die laufen konnten, liefen mit ihm. Aber sie sind dennoch nicht Alle ihrem Schicksale entlaufen. Sie hatten weit vom Sachsenlande bis an den Rhein, und die Sieger setzten ihnen nach. Und mit den siegenden Soldaten hat sich überall das Volk im Lande verbunden, um Rache zu nehmen für all das Unglück und Wehe, das dieses freche Franzosenvolk sieben Jahre lang über unser armes Land gebracht hat. Das ist eine wahre Hetzjagd im ganzen Lande gegen Alles, was Franzosen heißt. Mit Sensen und mit Mistgabeln, mit Aexten und mit Knitteln haben die Leute sich bewaffnet, selbst Weiber und Kinder. So ziehen sie einher, in großen Haufen, wo die flüchtigen Franzosen sich haufenweise zeigen. Einzeln verfolgen sie den Einzelnen. Und Keiner findet Gnade vor den Verfolgern. Es ist eine Wuth in den Leuten, sie stoßen den Verwundeten nieder, sie erschlagen den Kranken.“

„Das ist ja entsetzlich,“ sagte das Mädchen. „Das ist abscheulich, niederträchtig.“

„Was wollt Ihr?“ sagte der Handelsmann. „Sieben Jahre lang ist unser Volk von den Franzosen gedrückt und geknechtet und mit Füßen getreten. Was wir erwarben, mußten wir ihnen an Abgaben zahlen; unsere Söhne schleppten sie fort nach allen Weltgegenden in den Tod. Unsere Frauen und unsere Ehre verhöhnten sie. Kein freies Wort durfte gesprochen werden. Wer es wagte, wurde erschossen. Mußte da nicht die Wuth, der Ingrimm des Volkes gegen seine Unterdrücker immer höher und höher steigen? Und was wollt Ihr? Wenn der Strom, so viele Jahre eingedämmt und zurückgehalten, endlich seinen Damm durchbricht, soll er dann gleich still und glatt und ruhig dahin fließen? Muß er nicht im ersten Augenblicke zerreißen und zerstören, was ihm im Wege steht?“

„Aber entsetzlich ist es!“ rief das Mädchen.

„Entsetzlich, aber durch wessen Schuld? Aber nicht niederträchtig.“

Sie hatten das Ufer erreicht. Der Handelsmann verließ den Kahn, bezahlte sein Fährgeld, sagte gute Nacht und schlug den Weg landeinwärts zu seiner Heimath ein.

Das Mädchen schloß den Kahn wieder an und wollte in das Haus zurückkehren. Wieder mußte sie nach den Weiden blicken und lauschen, in denen sie die Klagetöne vernommen hatte. Es waren vielleicht zwei Stunden seitdem vergangen und sie hatte unterdeß nichts weiter gehört. Aber die Erzählung des Handelsmannes hatte sie von Neuem aufgeregt.

Sie horchte lange; sie vernahm nichts. Sie kam in’s Träumen. Die Vergangenheit ging an ihr vorüber. Es war so viel mehr Leid als Freude darin. Sie ging schnell an ihr vorüber, wie alles Leid in der Erinnerung. Die Zukunft stand vor ihr. Versprach sie ihr mehr Freude? Was sollte aus ihr werden? Sie hatte wohl an der Leiche der Schwester darüber nachgedacht. Aber der brave junge Bauer hatte die Frage wieder angeregt.

(Fortsetzung folgt.)



 

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