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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Der Präfect, der kaiserliche Procureur, die Steuerrecepteure, die Douanen, Alle liefen zusammen. Die ganze Nacht wurde gepackt. Am frühen Morgen waren sie fort, all das fremde Gesindel. Eine Stunde nachher waren Kosaken da. Die alten Beamten und treu gebliebenen Anhänger des Königs haben sofort im Namen des Königs das Regiment wieder übernommen. Nach allen Seiten haben sie in das Land geschickt, um es den Leuten zu wissen zu thun. Und überall sind auf der Stelle die Patrioten aufgestanden und zusammengetreten, das französische Gesindel zu verfolgen. Kein Franzose darf lebendig aus dem Lande. Gegen Abend kamen sie in unser Dorf. Mit meinen Cameraden bin ich hierher aufgebrochen. Man hatte einen Trupp flüchtiger französischer Soldaten sich nach dem Flusse ziehen sehen. Wir suchen sie.“

Der Greis saß mit gefalteten Händen im Bette.

„Nach sieben Jahren! Endlich! Es waren schwere sieben Jahre. Für Alle! Und für die Arme, für mein armes Kind! Hätte sie nicht diesen Tag noch erleben können? Aber es ist wohl besser so. Es war vorbei mit ihr. Leben konnte sie nicht mehr, und hätte sie nicht wieder leben wollen? Aber ich sterbe jetzt in Frieden.“

Er sah betend zum Himmel auf, betend, daß sein Haß, seine Rache befriedigt waren. Das war sein Friede! Und er war ein braver Mensch, der in seinem Leben keinem Menschen Unrecht gethan, aber so viel Unrecht und Elend erlitten hatte! Der beste Mensch ist kein Engel.

Der junge Bauer schickte sich an, wieder zu gehen.

„Leuchtetst Du mir wohl hinaus, Felicitas?“ sagte er zu dem Mädchen.

Sie zündete die Laterne an, die neben der Lampe auf dem Tische stand, und verließ mit ihm die Stube. Sie ging in einiger Befangenheit mit ihm. Gleichwohl waren Gesicht und Wesen des hübschen, kräftigen jungen Menschen so unbefangen, offen und Zutrauen erweckend.

„Felicitas, drei Worte,“ sagte der junge Bauer, als sie draußen allein waren.

„Was willst Du, Ferdinand?“

„Dein Vater ist sehr elend.“

„Das ist er.“

„Ich fürchte, er folgt bald Deiner armen Schwester.“

„Auch ich fürchte es.“

„Dann bist Du ganz allein, nur mit dem kranken Kinde.“

„Das Kind wird noch eher sterben, als der Vater.“

„Du hättest dann gar nichts mehr.“

Das Mädchen mußte sich Gewalt anthun, um nicht zu weinen.

„Ich wollte Dich nicht traurig machen, Felicitas, ich wollte Dich aufrichten.“

„Du bist gut, Ferdinand.“

Der junge Bauer nahm die Hand des Mädchens.

„Felicitas, ziehst Du dann mit mir?“

Die Laterne zitterte in der Hand des Mädchens.

„Laß uns heute nicht davon sprechen, Ferdinand.“

„Gerade heute. So oft bisher, wenn ich Dir den nämlichen Antrag machte, hast Du mir geantwortet, Du könntest Deinen Vater und Deine Schwester mit dem Kinde nicht verlassen, und wenn ich Dir dann sagte, daß sie mit ausziehen sollten, dann erwidertest Du mir, es habe ja noch Zeit, Du könntest noch nicht recht klar mit Dir selbst werden.“

„Ich kann es auch heute noch nicht.“

„Doch, doch, Felicitas. Wenn man einen lieben Angehörigen zu seiner letzten Ruhe gebracht hat, dann fragt man sich selber: Wo wirst Du denn zuletzt Deine Ruhe finden? Was soll aus Dir werden? Du mußt über Dich nachgedacht haben.“

„Ja, ich habe es, Ferdinand.“

„Und was?“

Das Mädchen konnte ihre Thränen nicht mehr zurückhalten. Sie setzte die Lampe zur Erde, um mit beiden Händen ihre Augen zu trocknen.

Er legte auf die beiden Hände weich die seinigen.

„Nun, Felicitas?“

Die Thränen des Mädchens flossen durch die vereinigten Hände.

„Ja, Ferdinand, ich muß mir ein Herz fassen und Dir Alles sagen. Ich habe so nachgedacht, wie Du sagtest, und es ist klar in mir geworden. Es wurde Alles klar in mir. Ich soll kein Glück auf der Welt haben, Ferdinand. Warum nicht, ich weiß es nicht. Aber zuerst sah ich die kleine Anna sterben, dann den Vater und ihm folge ich, bald, sehr bald. Ich glaube, sie tragen mich mit ihm zusammen zum Kirchhofe.“

„Felicitas,“ sagte der junge Mann, und er wurde so blaß, wie das traurige Mädchen. „Welchen häßlichen Traum hast Du da gehabt?“

„Es war kein Traum. So wird es kommen.“

„So wird es nicht kommen, mein braves Mädchen. Du warst angegriffen. Du bist es noch. Es ist auch kein Wunder. Was hast Du in den letzten Tagen ausgestanden! – Morgen komme ich wieder. Du wirst Dich erholt haben. Heute wollen wir nicht weiter sprechen. Schlage Dir nur die traurigen Gedanken aus dem Kopfe. Bis morgen, Felicitas. Gott tröste Dich.“

Er drückte noch einmal ihre Hände. Er ließ sie sanft los.

„Tröste Dich Gott, Felicitas!“

Er sprang fort. Er sprang auf sein Pferd, das er an der Thür angebunden hatte, und sprengte seinen Gefährten nach, den Weg zum Dorfe hin. Sie sah ihm lange gedankenvoll und still weinend nach. Dann trocknete sie ihre Thränen, nahm die Laterne von der Erde auf, löschte sie aus und kehrte in die Stube zurück.

Das Kind war eingeschlafen. Der Vater saß noch aufrecht und aufgeregt im Bette.

„Wir sind frei, Felicitas! Sie sind fort, verjagt, verfolgt. Jetzt kommt es an sie. Sieben Jahre lang haben sie uns mißhandelt. Unser Land, uns Alle. Mich; das arme Kind, das jetzt auf dem Kirchhofe liegt. Gerade heute! Das hat Gott gefügt. – Jetzt büßen sie. Würden sie doch Alle gefangen! Käme Keiner lebendig aus dem Lande!“

„Vater, wie sprecht Ihr so?“

„Was willst Du?“

„Ihr sagt, Ihr wolltet in Frieden sterben, und Ihr habt nur Haß und Zorn im Herzen.“

„Sollte ihnen nicht vergolten werden? Ist denn der Himmel nicht gerecht? Heißt es denn nicht, mit welchem Maße Du ausmissest, mit dem soll Dir zugemessen werden?“

„Vater, der liebe Gott liebt alle Menschen und kein Mensch soll den andern verdammen.“

„Nein, nein. Sie haben mich mißhandelt, sie haben mich verspottet, verhöhnt. Ein schändlicher Bösewicht unter ihnen hat mein Kind verführt und unglücklich gemacht und frühzeitig unter die Erde gebracht. Sie müssen ihren Lohn haben; Keiner von ihnen darf verschont werden. Man muß sie verfolgen, sie müssen niedergestoßen, sie müssen gequält und dann getödtet, zu Tode gequält werden, wie sie uns mißhandelt haben. Sie, ihre Brut, Alle.“

Die Augen des geisterhaften Greises stachen und glühten, wie im Wahnwitze.

„Vater, das Kind, das hier schläft – gehört sein Vater nicht auch zu ihnen?“

„Auch er!“ rief der Greis.

„Versündigt Euch nicht. Wenn er, der Vater des armen Kindes, nun auf einmal hier ankäme, flüchtig, verwundet, krank, verhungert, um Hülfe, um Obdach gegen das Unwetter, um ein Stück Brod gegen den Hunger bäte, würdet Ihr ihn zurückweisen, würdet Ihr ihn seinen Verfolgern ausliefern?“

„Er müßte sterben. Er hat mein Kind verführt. Er hat mich verhöhnt –“

„Und wenn er sich auf das Bettchen seines Kindes flüchtete, in seine Aermchen –“

„Er hat mein Kind unter die Erde gebracht!“ rief der wahnwitzige Greis.

Das Mädchen erschrak von Neuem.

„O Gott, und er war auf der Verfolgung, und ich habe nicht daran gedacht, ihn um Mitleid für die Armen zu bitten. – Aber er ist so gut. Auch der Vater! Es ist ja nur der Irrsinn, der so aus ihm redet. – Ich gehe jetzt, dem Nachbar die Todte anzusagen.“

„Geh,“ sagte der alte Mann noch heftig.

Sie nahm ein Tuch und wickelte sich hinein gegen das Unwetter. Dann ging sie. Die Laterne durfte sie nicht mitnehmen. Nach dem Brauche mußte sie im Dunkel gehen.

Nach einer halben Minute kehrte sie zurück. Der Greis hatte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 611. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_611.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)