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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Er sah sich um und erblickte mit Entsetzen statt des Fremden, der ihnen bis dahin Schritt für Schritt gefolgt war, eine Oeffnung durch den Schnee in den Ferner hinein und nebenbei seinen Stock liegen. Schauder ergriff auch den ersten Führer, dem der Schreckensschrei des anderen das Unglück kund gab. Beide legten sich auf den Schnee nieder und riefen durch die grause Eiskluft hinab nach dem Fremden, den sie jedoch nicht erblicken konnten, weil, wie es sich in der Folge zeigte, die Kluft Anfangs bei sieben Klafter senkrecht hinab, dann schief einwärts lief. Der Fremde rief aus der tiefen Spalte zu den Führern empor, ob keine Hülfe möglich sei; jene entgegneten, daß sie das Aeußerste versuchen wollten, und fragten, ob er sich im Wasser oder wo er sich befinde. Er antwortete, daß er trocken, aber ganz eingezwängt in der Spalte des Eises stecke. Die Führer nahmen hierauf den Strick, mit welchem sie sich verbunden hatten, und senkten ihn in die Tiefe. Da aber dieser nicht zureichte und der Fremde versicherte, er sehe keinen Strick, so riefen sie ihm zu, daß er unter solchen Umständen nicht allsogleich gerettet werden könne, daß sie aber um andere Hülfe nach Hause eilen wollten und daß er sich inzwischen gedulden möge. Da ein Einzelner aus Besorgniß eines gleichen Schicksals sich nicht fortwagen durfte, so entschlossen sich beide Fübrer, rasch nach Hause zurückzueilen. Sie banden sich also wieder zusammen und sprangen bis zum steinernen Tisch zurück. Von dort ab war kein Eis, also keine Gefahr des Versinkens in die Klüfte; daher blieb Santer zurück und Scheiber lief nach Gurgl; um zwei Uhr Nachmittags langte Simon Santer, der Knecht des ganz erschöpften Angelus Scheiber, und Wendelin Santer, Bruder des obigen, mit Stricken bei dem steinernen Tisch an. Alle drei eilten nun vorwärts an die Stelle des Unglücks und schrieen hinab in den fürchterlichen Schlund des Eises. Nur mit äußerst schwacher Stimme erwiderte ihnen der Fremde, daß er noch lebe. Nun begannen die Versuche, den von halb zehn bis vier Uhr eingeklammerten Fremden zu retten, mit einer Aufopferung, einer Verachtung der Gefahr, wie solche wohl selten vorkommen dürfte. Nikodemus Santer band vorzüglich den mitgebrachten Strick seinem 24 Jahre alten Bruder Wendelin um die Leibesmitte und so wurde dieser in die Tiefe gesenkt. Nach sechs bis sieden Klaftern stieß er auf einen kleinen Eisvorsprung und faßte hierauf Fuß. Von dort schrie er zurück, daß er den Fremden nicht sehe und daß die Eisschlucht weiter hinab so eng sei, daß er dieselbe kaum zu befahren vermöge. Auf den Zuruf, beberzt vorwärts zu dringen, da es ja ein anderes Mittel zur Rettung nicht gebe, ließ sich Wendelin weiter in die Tiefe senken. Nach einer Versenkung von etwa funfzehn Klaftern (neunzig Fuß) schrie er, daß er den Fremden erfaßt habe; das Seil wurde hierauf angezogen, allein die Last war dem Retter zu schwer, der Unglückliche entfiel seinen Händen und Wendelin selbst prallte dabei mit beiden Knieen der Art an die Eisrisse an, daß ihm das Eis durch das Fleisch an die Knochen drang. Unfähig gemacht die Rettung auszuführen, langte er oben wieder an. Nun entschloß sich Simon Santer, das Wagestück zu bestehen: auch er ließ sich in die Tiefe senken und gelangte zu dem Fremden. Er band ihn am Arme an, allein beim Anheben hielt der Strick nicht fest. Simon wurde deshalb bis zu jenem Eisvorsprunge herausgezogen, wo er ausruhete; dann senkte man ihn noch zwei Mal hinab, allein vergebens. Auch er mußte zurückgezogen werden und brachte nur die Kunde mit, daß der Fremde zwar noch am Leben, aber schon ganz bewußtlos sei.

Nun entschloß sich auch Nikodemus Santer, das Möglichste zu versuchen; auch er passirte die gefahrvolle Schlucht, zwängte sich mit großer Anstrengung durch die enge Kluft. und es gelang ihm, den Fremden zu erreichen. Er schlang ihm ein Seil um einen Arm, schob das andere Ende um dessen Oberleib und bemeisterte sich seiner. Nun wurde der Strick auf den erfolgten Zuruf bis zum Vorsprunge angezogen. Dort angelangt, ließ Nikodemus den Fremden etwas mehr in die Höhe ziehen, um ihn erfassen und den Strick fester um seinen Leib schlingen zu können. Nunmehr wurde der Fremde allein in die Höhe gezogen, allein gerade an der Mündung der Kluft steigerte sich die Gefahr auf den höchsten Grad, denn die zwei Männer, welche den Strick anzogen und festhalten mußten, vermochten lange nicht, den Verunglückten auf die Oberfläche des Gletschers schaffen, und denselben am Rande der Schlucht zu erfassen. So schwankte er noch eine ewig lange Viertelstunde 7 Klaftern tief wie eine angezogene Glocke gerade über Nikodemus Santer, und drohete mit jedem Augenblicke sich abermals sammt diesem in die schauerliche Tiefe zu stürzen. Nach vielen Versuchen gelang es endlich den beiden Cameraden, den Körper des Fremden zu ergreifen, und auf die Oberfläche des Eisberges zu ziehen. Nun gelangte auch Nikodemus Santer herauf in Gottes freie Welt; der Zweck der Befreiung aus der Schlucht war erreicht und die Hoffnung, das menschenfreundliche Unternehmen durch den Erfolg belohnt zu sehen, war noch nicht geschwunden. Diese drei beherzten Männer begannen nun aber (es war beiläufig vier Uhr Nachmittags) den Fremden näher zu besichtigen, und fanden ihn zu ihrem Entsetzen ganz blau an den Händen und im Gesichte, beinahe erstarrt; nur ein leises Athmen war noch bemerkbar, er bewegte die Arme und die Augen in krampfhaften Zuckungen. Alle Versuche zur größeren Belebung blieben fruchtlos. Nach einem Aufenthalte von einer Stunde mahnte die Zeit zur Rückkehr. Nikodemus trug den Fremden auf seinem Rücken so fest gebunden, daß er sich in sitzender Stellung befand, um 61/2 Uhr erreichten sie den steinernen Tisch. Dort stellten sich bald die Vorboten der nahen Auflösung ein. Schon während der letzten Momente seines Lebens zog sich ein dichter und finsterer Nebel über die weiten Eisfelder herauf, die Führer waren noch vier Stunden weit von der Heimath auf dem hohen, lebensgefährlichen Gletscher. Unmöglich und bei unvermeidlichem Tode zwecklos war es, den Unglücklichen noch bei Nacht bis Gurgl zu bringen. Die Führer mußten nun auf ihre eigene Rettung denken, wenn sie nicht durch längeres Verweilen auf diesen unwegsamen Höhen dem sicheren Tode entgegengehen wollten. Sie hüllten daher den Entseelten in seinen Mantel und in ihre Mäntel sorgsam ein, und legten ihn neben einen großen Stein hin. Erst um 11 Uhr Nachts kamen sie ganz erschöpft zu Hause an.

Des anderen Tages, am Morgen, gingen 13 Mann von Gurgl an die bezeichnete Stätte, von wo sie den Verunglückten erst am Abend zurückbrachten. Bedauert von der ganzen Gemeinde, wurde er dort am 13. Juli beerdigt. – Solche Anstrengungen, Aufopferungen und Nächstenliebe hätte mit der Belebung des Verunglückten belohnt zu werden verdient. Es ist einem glücklichen Zufalle zuzuschreiben, daß sich gerade zur Zeit des erfolgten Unglückes der Beamte des 15 Stunden entlegenen Landgerichts Silz, Joseph Hörtnagl, in Gerichtsangelegenheiten nahe bei Gurgl aufhielt, durch welchen der vorerwähnte Thatbestand ganz umfassend aufgenommen wurde.

Nikodem, Wendelin und Simon Santer haben wegen ihrer Verdienstlichkeit bei der versuchten Lebensrettung des Dr. Bürstenbinder von ihrem Kaiser die große silberne Civil-Ehrenmedaille am Bande erhalten. Auch der König von Preußen hat sie durch ein Geschenk von je 20 Stück Ducaten belohnt.




Urtheil einer deutschen Königin über Napoleon I. Heute, wo „der Neffe“ Besuche an deutschen Höfen macht, mit einem zweiten Kaiser Alexander von Rußland auf deutschem Boden zusammenkommt und deutsche Interessen verhandelt, von deutschen Fürsten begrüßt und bewirthet, heute, wo die St. Helena Medaille von Napoleon III. alten deutschen Kriegern dafür als Belohnung angeboten wird, daß sie einst Napoleon I. gegen Deutschland dienten und die Schmach und Knechtung Deutschlands mit ihrem Blute förderten, heute dürfte es an der Zeit sein, ein ungemein treffendes Urtheil einer edlen und hochgefeierten deutschen Fürstin, der unvergeßlichen Königin Louise von Preußen, über den Kaiser Napoleon I. wieder zu veröffentlichen, einem ihrer schönen und gemüthlichen Briefe an ihren Vater, den Großherzog Friedrich Franz von Meklenburg-Schwerin, vom Jahre 1808 entnommen. Es ist wahrlich gut gethan, dann und wann an solche orakelmäßige Aussprüche zu erinnern, sie werden im rastlos wilden Treiben der Gegenwart gar zu leicht vergessen.

Die hochsinnige Königin schreibt: „Es wird mir immer klarer, daß Alles so kommen mußte, wie es gekommen ist. Die göttliche Weltordnung leitet unverkennbar neue Weltzustände ein und es soll eine andere Ordnung der Dinge werden, da die alte sich überlebt hat und in sich selbst als abgestorben zusammenstürzt. Wir sind eingeschlafen auf den Lorbeeren Friedrich des Großen, welcher, der Herr seines Jahrhunderts, eine neue Zeit schuf. Wir sind mit derselben nicht fortgeschritten, deshalb überflügelt sie uns.

Gewiß wird es besser werden: das verbürgt mir der Glaube an das vollkommenste Wesen. Aber es kann nur gut werden in der Welt durch die Guten. Deshalb glaube ich auch nicht, daß der Kaiser Napoleon Bonaparte fest und sicher auf seinem, jetzt freilich glänzenden Throne sitzt. Fest und ruhig ist nur allein Wahrheit und Gerechtigkeit, und er ist nur politisch, d. h. klug: und er richtet sich nicht nach ewigen Gesetzen, sondern nach Umständen, wie sie nun eben sind. Er meint es nicht redlich mit der guten Sache und mit den Menschen. Er und sein ungemessener Ehrgeiz meint nur sich selbst und sein persönliches Interesse. Man muß ihn mehr bewundern. als man ihn lieben kann. Von seinem Glück geblendet, meint er Alles zu vermögen. Dabei ist er ohne alle Mäßigung, und wer nicht Maß halten kann, verliert das Gleichgewicht und fällt. Ich glaube fest an Gott, also auch an eine sittliche Weltordnung. Diese aber sehe ich in der Herrschaft der Gewalt nicht; deshalb bin ich der Hoffnung, daß auf die jetzige böse Zeit eine bessere folgen wird.“

Welche goldnen Worte, werth, daß man sie in Stein und Erz grabe und auf Märkten und Straßen, an Palästen und Hütten in Deutschland aufstelle! So wahr, so herrlich, so prophetisch schrieb vor einem halben Jahrhundert eine deutsche Frau, eine deutsche Königin, und wie Vieles davon klingt, als wär’ es in unsern Tagen und auf unsere Zustände geschrieben!




Literarisches. Von dem Gebiete der naturwissenschaftlichen Volksliteratur haben wir wieder einige neue Erscheinungen empfehlend anzuzeigen. Aus dem auf diesem Gebiete besonders thätigen Verlage von Meidinger Sohn u. Comp. in Frankfurt a. M. gingen zwei Werke hervor: Ende und Ewigkeit von G. H. Otto Volger, eine geistvolle und auf eine Fülle von lehrreichen Thatsachen sich stützende Bekämpfung der „Geologie der Revolutionen und Katastropben.“ Das Buch wird Widerspruch erfahren und die herrschende Lehre von der Erdgeschichte nöthigen, sich ihrer Haut zu wehren. Louis Büchner, der bekannte Veranlasser der „Kraft- und Stoffliteratur“ führt in „Natur und Geist“ in allgemein verständlicher Form und mit Wärme und Entschiedenheit den Kampf in Gesprächsform fort. – Bei Meyer u. Zeller in Zürich erschien von R. Clausius über das Wesen der Wärme ein „Akademischer Vortrag“, welcher dieses schwierige Capitel der Physik in klarer und dem neuesten Stande der Wissenschaft folgender Darstellung schildert. – Das Süßwasser-Aquarium von E. A. Roßmäßler (Leipzig, bei H. Mendelssohn), mit 50 Illustrationen, gibt eine sehr ausführliche Anleitung zur Einrichtung und Pflege der so beliebt gewordenen Aquarien, die bei dem bevorstehenden Winter ein Stückchen freien Naturlebens im Zimmer fesseln wollen. – Auch auf dem Gebiete der schönwissenschaftlichen Literatur wird es lebhaft und der herannahende Winter wird manche interessante Erscheinung für eifrige Leser bieten. Otto Ludwig, der geniale Dichter des Romans: Zwischen Himmel und Erde hat den ersten Band seiner „Thüringer Naturen“ erscheinen lassen, ein Buch, das wieder vortrefflich ist: R. Heller eine Erzählung: der Reichspostreiter; Brachvogel, der Dichter des Narciß, einen dreibändigen Roman: Friedemann Bach. Mit Recht wird dieser Roman von der Kritik als ein vollständig verfehltes geistloses Machwerk hingestellt, das sich durch Nichts über den gewöhnlichen Leihbibliothekskram erhebe. Schon die Widmung ist eine abgeschmackte widerliche Speichelleckerei.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 584. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_584.jpg&oldid=- (Version vom 26.10.2022)