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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

innig geliebte Familie nicht zu verrathen. Selbst die sonst stumpfsinnigeren Vögel, wie Säbelschnäbler und Lappentaucher lieben ihre Brut auf’s Zärtlichste. Die Eiderente Islands und Norwegens, welche die fürstlichen Dunenbetten liefert, rupft sich, nur um den geliebten Jungen ein warmes Obdach zu bereiten, ihre weichen Brustfedern selbst zweimal weg, wenn die ersten Federn von beutegierigen Menschen genommen wurden. Sind aber gar für ein drittes Mal bei einer und derselben Brut Federn nöthig, so opfert auch das Männchen bereitwilligst seinen Brustschmuck und Schutz auf.

Aber nicht nur die Vögel bewachen die Brut; man weiß selbst von Fischen, daß sie sorglich ihre Nachkommenschaft bewahren. So die Kaulköpfe und Stichlinge. Die Weibchen legen den Laich in ein erst gescharrtes Loch des Grundes, worauf sie ihre Nachkommenschaft bis zum Auskriechen bewachen. Ja, die schwarze Meergrundel des Mittel- und atlantischen Meeres, die sich für ihre Fischbrut Furchen in den Meeresschlamm, am liebsten im Thonboden wühlt, weiß ihre Jungen, die sich bei Gefahr gern hinter Seepflanzen bergen, geschickt zu vertheidigen. – Selbst die plumpen, ekelhaften Amphibien oder Lurche wollen nicht zurückbleiben, und eine Kröte des heißeren Amerika’s macht sich bemerklich, indem sie gar ihre eigenen Jungen spazieren trägt, ähnlich den Beutelratten wärmerer Klimaten.

Aber auch hiermit schließt jener Zug der Elternliebe nicht ab; im Gegentheile wäre im Insectenreiche und unter den Spinnen noch viel Raum zur Beobachtung. Wollte doch Jeder nur seine Beobachtungen an einzelnen Thieren laut werden lassen, denn es fehlt noch gar sehr an Monographien! Zum Beobachten aber gehört eben keine Gelehrsamkeit, kein schwieriger Apparat, sondern nur redlicher Wille, Lust an der reichen Erdenwelt und strenge, wahre Ausdauer. Freilich muß man aber auch nüchtern bleiben und darf keinerlei Schmuck und Voraussetzung in solche Beobachtungen hineintragen. Ich kenne genug schlichte Leute, einfache Arbeiter, die solcher Weise Verdienst haben, und ein achtenswerther Verein hat mehrfach als Vorbilder solchen Strebens einen Schuhmacher und einen Fabrikarbeiter hingestellt. Andere kennen einen Koch, dem die Gelehrtenwelt Vieles dankt, und doch liegen solche Beobachtungen dem Berufe jener Männer eigentlich fern. – Namentlich dient die Insectenclasse wegen ihrer Farbenpracht und ihrer Verwandlungen als Gegenstand der Jagd, und gewiß gibt’s auch hier Beweise von seltener Elternliebe. Wie gewaltig ist nicht zuweilen der Kampf der Ameisen um ihre Brut, um die Puppen (fälschlich Eier genannt), die der Vogelliebhaber ihnen wegnimmt. Auch hat man erfahren, wie die Maulwurfsgrille ihre Jungen bewacht. – Vor wenigen Wochen fing Schreiber dieses eine Sackspinne, von der er die zärtliche Sorgfalt gegen die Brut rühmen hörte. Diese schwarzbraune, weißlinirte und an den Beinen gelblich geringelte Spinne, die ihren Eiersack mit sich umherträgt, fing ich unter einem Steine. Als ich ihr, der gehässigen, blutgierigen Spinne, den Eierbeutel entreißen wollte, regte sich alles Feuer der Mütterlichkeit in ihr. Sie schlug ihre Fußklauen heftiger in das Gewebe, und zog die Ihrigen unter ihren Leib, als wollte sie sagen: durch ihn geht der Weg zu meinen Kindern. Ich setzte die Spinne an den Rand einer Trichtergrube vom Ameisenlöwen; die Spinne rutschte im losen Sande hinab, und ahnte alsbald die drohende Gefahr. Kaum merkte der bis an die Greifzangen eingewühlte Räuber die Nähe des Opfers, so wurde er sichtbar und fing die Spinne, die ich augenblicklich wieder befreite. Dabei aber schleppte sie erschreckt das Eierbündel nach, und ich konnte nicht verhüten, daß der lauernde Räuber es zerriß, und etwa ein Drittel oder Viertel der Eier sein wurden. Den Rest packte die Spinne schnell, die, von mir unterstützt, den Rand des Trichters erreichte, aber da droben umherirrte, um die Verlorenen zu suchen. Ja, kaum konnte ich sie abhalten, daß sie nicht von Neuem in die Fallgrube hinabrutschte.

Aber die Fürsorge der Eltern für erziehungsbedürftige Junge ihres oder eines verwandten Geschlechts erstreckt sich noch weiter; denn sie hat auch ein ordentliches Pflegeelternwesen ausgebildet, ohne daß es dazu eines Geheißes oder Adoptivbriefes bedürfe. Es gibt genug Waisenkinder in der Welt. Jeder Kukuk ist eigentlich ein solches; er, der uns so liebe, ist nicht von seinen Eltern erzogen worden; er kennt sie kaum, obgleich sie Reviervögel sind und keinen andern ihres Gleichen in ihrem Reviere dulden. Das Kukuksweibchen hat ihrer Zeit verschiedenen kleinen Vögelchen, z. B. Grasmücken (diesen besonders gern), Bachstelzen, Goldhähnchen, Zaunkönigen und Rohrsängern, also gerade der allerkleinsten Gesellschaft, die Eier einzeln in die Nester gelegt. Das Kukuksweibchen hat die Nester geschickt aufgefunden, legt das Ei darein oder trägt’s gar, bei zu engem Eingange, im Schnabel herzu und schiebt es hinein. Haben die, mir nichts, dir nichts erkornen Pflegeältern den Kukuk kommen sehen, so machen sie ihm ehrerbietigst Platz; denn er ist ja ein großer Herr. Nicht selten werden die Eier der eigentlichen Nestinhaber beschädigt, oder wegen Mangel an Platz hinausgeworfen, obwohl solch’ ein Kukuksei nicht größer als ein Sperlingsei ist; die Schale ist nur etwas fester und glänzender, grünlichweiß und mit närrischen bräunlichen Kritzeln und Zickzacks verziert. Der junge Herr wächst nun auf, seinen kleinen Pflegeeltern über den Kopf, die ängstlich vor ihm in der Entfernung sitzen und ihm sein Räuplein (meist Borstenraupen) hinreichen. Aber wenn er so recht hungrig „iß iß iß!“ ruft, da läuft auch die ganze Nachbarschaft ängstlich herzu. Ammern, Zaunkönige, Grasmücken, Sperlinge, Zeisige, Berg- und Edelfinken, Pieper, Steinschmätzer und Bachstelzen drängen sich; der bringt einen Schmetterling, der eine Made und der eine Fliege, so daß der junge Schnapphans gar nicht sogleich weiß, wohin? –

Woher das aber kommt, daß der Kukuk sein Ei stets in fremde Nester legt? – das wissen die wenigsten Leute zu sagen, und es geht so zu: das Kukuksei bedarf gewöhnlich ziemlich einer Woche (6–7 Tage) zu seiner Reife; nach einer Woche kommt das andre und so fort jede Woche eins, bis 4–6 Eier „in die Welt gesetzt sind.“ Da nun das Weibchen mit dem Legen allein 4–6 Wochen zubringt, würden die sogar verschiedenalten Jungen der verschiedensten Pflege und des größten Nestbaus, wohl auch mehrerer Ernährer bedürftig sein. Die Natur hat sich darum auf so merkwürdige Weise geholfen. Jedenfalls hat auch der gar große Magen und seine schnelle Verdaulichkeit Einfluß auf die Entwickelung der Eier. Aber das sehen wir deutlich, daß für das scheinbar Verlassenste in der Welt am reichlichsten gesorgt wird. – Auch daß Sumpfmeisen für Kohlmeisen gesorgt haben, hat man schon bemerkt. Möglich, daß auch diese Sumpfmeisen ihre Jungen verloren hatten. – Man hat ferner ein Rohrsängermännchen, wie R. Brehm erzählt, vom Neste weggeschossen; nach ein paar Tagen war ein anderes Männchen einer andern Art Rohrsänger beschäftigt, die Jungen mit aufzufüttern. – Wie ängstlich läuft die Henne als Pflegmama um den Teich, in der die von ihr ausgebrüteten jungen Enten wohlgemuth umherschwimmen! – Eben so wissen Jäger und Jagdliebhaber oft recht gut, daß verwaiste Eulen (Strix otus), Schneeammern und Eisvögel von fremden Weibchen und Männchen ihrer Gattung gepflegt wurden. – Tüchtige Kenner des Vogellebens, wie Naumann sen. und R. Brehm, versichern ebenso, daß oft Junge der ersten Brut die zweite mit aufziehen helfen. So ist’s von Kanarienvögeln und Meisen bekannt, daß die erste Brut, als das ältere Geschwister, den Eltern in der Erziehung treulich beistand. Der ältere Naumann hat sogar bei dem grünfüßigen Rebhuhne gesehen, daß die Jungen der ersten Brut die der zweiten führten. Ebenso fanden die beiden Brehms. daß einige alte Meisen von einem Jungen erster Brut auf’s Eifrigste in der Verfolgung einer nahen Eule unterstützt wurden. Auch gefangene Vögel zeigen Aehnliches. Nicht bloß die Gartengrasmücke, sondern auch Kanarienvögel füttern fast jeden gefangenen jungen Vogel auf. – Zuletzt erwähnen wir, daß auch die Insectenclasse genug der Pflegeeltern aufweist. Der Bienenstaat, selbst der Ameisenhaufen, in dem wohl ein Mandel ganz anderer Thierarten als Miethsbewohnerschaft wohnt, gelten hier als Beispiele. Vor allen Dingen fällt die Larve des Goldkäfers, unseres grünen und goldglänzenden Rosenzerstörers auf, die als grauer Engerling mehrere Jahre freie Kost und Wohnung im Ameisenhaufen fand. Sie ist also ein Waisenkind unter den Insecten. Ungestört, ja gehätschelt darf sie unter den kleinen bissigen Tyrannen nebst vielen andern „Geduldeten“ wohnen. Endlich bricht der Parvenu als goldiger Käfer durch den Bau hindurch, ohne daß er verfolgt wird. Nein, Eins brauchte das Andre und hat sich nun sattgebraucht. In Fried und Freud scheiden die ehrlichen Klausner. Einheit und strenge Ordnung wie in dem saubersten Räderwerk! Das aber ist eben der nicht immer verstandene Gedanke des großen Organismus auf weiter, schöner Erdenwelt.

H. Stiehler.



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