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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

ich an die Herrscherin meiner Gedanken; auf keinen meiner glühenden Briefe erfolgte eine Antwort. Nach fünf Monaten begrub ich meinen Vater unter einer prachtvollen Thränenweide auf dem Friedhofe von Florenz. Der Schmerz um den Verstorbenen und die Sehnsucht nach der Geliebten nagten mit gleicher Bitterkeit an meinem Herzen. Auf den Flügeln der Liebe eile ich in meine Heimath zurück. Da erfahre ich, daß der Vater meiner Geliebten gestorben sei, daß sie selbst seit einiger Zeit die Besuche eines jungen Mannes angenommen und eines schönen Tages mit ihm die Stadt verlassen habe. So viel ich auch forschte – nirgends war eine Spur zu finden. Da stand ich nun allein, ganz allein in der Welt. Mein Vater war todt, und die, in deren Liebe ich Trost über den herben Verlust zu finden hoffte, war mit einem jungen Manne verschwunden, obgleich sie mir ewige Liebe geschworen hatte!“

„Das ist hart!“ murmelte der Consul. „Ja, das ist mehr als hart!“

„Ich verwünschte die Frauen, die Väter, die jungen Männer, die ganze Welt – Alles ekelte mich an, war mir lästig, verhaßt. Ich floh in diese Berge, um mir ein einsames Haus in einem einsamen Thale zu suchen. Da erblickte ich das öde Forsthaus – man nannte mir den Besitzer und ich säumte nicht, mich Ihnen vorzustellen. Mein Herr, verkaufen sie mir das Haus – Sie werden sich über mich nicht zu beklagen haben, ich lebe still wie ein Anachoret und werde mich nur damit beschäftigen, meine Erlebnisse zu Nutz und Frommen der Nachwelt aufzuzeichnen.“

„Herr von Windheim,“ sagte der Consul, indem er ihm gerührt die Hand reichte, „ich beklage Sie um so inniger, da ich mehr als jeder Andere Ihre Gemüthsverfassung beurtheilen kann. Nehmen Sie das Forsthaus und arbeiten Sie darin Ihre Memoiren.“

„Nennen Sie den Preis, Herr Consul!“

„Wir sprechen darüber später. Sind wir nicht Männer von gleichen Lebensanschauungen, von gleicher Gemüthsverfassung?“

„Ohne Zweifel!“

„Darum werden wir eine Beruhigung finden, wenn wir uns von Zeit zu Zeit sehen.“

Der Edelmann erhob sich.

„Halt!“ rief der Kranke. „Gehen Sie in das angrenzende Zimmer. Ich stehe auf; wir frühstücken zusammen, dann führe ich selbst Sie nach dem Forsthause.“

„Sie wollen mich führen?“ fragte der erstaunte Alexander.

„Eine Bewegung in freier Luft ist mir nützlich. Bleiben Sie, mein Herr, wir müssen heute noch eine nähere Bekanntschaft anknüpfen!“

Er ergriff die Glocke, die aus dem Tische stand, und klingelte lebhaft. Joseph erschien.

„Führe den Herrn in das Wohnzimmer! Bestelle in der Küche ein gutes Frühstück! Dann komm zurück und kleide mich an! Fort!“ Den langen Diener wunderte die Aufregung seines Herrn nicht; ruhig und gemessen öffnete er die Thür des Nebengemachs und ließ den Gast eintreten. Nachdem er in der Küche das Frühstück bestellt, half er seinen Herrn ankleiden. Eine Viertelstunde später saßen der Consul und Herr von Windheim beim Frühstück, und wiederum eine Viertelstunde später traten sie den Weg nach dem Forsthause an.




II.

Eine kalte Herbstnacht lag über Bremen. Es war drei Uhr Morgens vorüber, als ein Briefträger rasch durch die stillen Straßen der freien Stadt ging, vor einem eleganten Hause am Walle stehen blieb und heftig die Klingel zog. Es dauerte lange, ehe eine Magd die Thür öffnete. Der Postmann fragte nach dem Particulier Wilhelm Dewald.

„Herr Dewald wohnt im ersten Stocke!“ war die Antwort.

„Ich muß ihn sprechen.“

„Gleich?“

„Auf der Stelle!“

Dir Magd führte den Briefträger die Treppe hinan und bezeichnete ihm die Wohnung des Gesuchten.

„Ist denn das so eilig?“ fragte die in ihrem Morgenschlummer Gestörte.

„Sehr eilig; lassen Sie die Hausthür offen, ich werde sogleich zurückkehren!“

Er zog die Glocke. Eine zweite Magd öffnete im nächsten Augenblicke; sie war noch völlig angekleidet und trug eine Kerze in der Hand.

„Ich suche Herrn Dewald!“

„Und ich erwarte ihn, er ist mit Madame auf einem Balle.“

In diesem Augenblicke ließen sich Schritte und fröhliche Stimmen auf der Treppe vernehmen.

„Da kommt meine Herrschaft!“ rief die Magd, indem sie mit dem Lichte an die oberste Stufe der Treppe trat.

Ein Herr und zwei Damen, tief in Mäntel gehüllt, erschienen. Sie waren erstaunt, den Briefträger um diese Zeit zu sehen.

„Herr Wilhelm Dewald?“

„Ich bin es.“

„Hier ist ein recommandirter, expresser Brief. Ich bitte, quittiren Sie!“

Die Ballgäste sahen sich verwundert an. Wilhelm Dewald ging rasch in sein Zimmer, quittirte den Empfang in einem Buche und sandte das Buch mit einem Trinkgelde für den Bringer zurück. Die Thür schloß sich, der Postbote verließ das Haus und die Ruhe der Nacht trat wieder ein. Der Particulier, ein junger Elegant von sechs bis siebenundzwanzig Jahren, warf rasch seinen Mantel ab, trat zu der Kerze, sah erschreckt das schwarze Siegel, riß das Couvert auf und begann begierig zu lesen. Das in seiner Hand zitternde Blatt enthielt folgende Zeilen:

 „Mein lieber Neffe!
Ich fühle, daß mein letztes Stündlein naht. Gegenwärtigen Brief schreibe ich auf meinem Schmerzenslager. Du bist mir stets ein guter Neffe gewesen, darum darf ich hoffen, daß Du meinem letzten Befehle treulich nachkommst. Ich befehle Dir nämlich, Louise Bronner, für die Du stets eine innige Neigung gehegt, auf der Stelle zu heirathen, damit Du sie mir als Deine Gattin vorstellen kannst, ehe ich diese Welt für immer verlasse. Louise ist ein schönes, gesittetes Mädchen, und ihr Vater, mein alter Geschäftsfreund, hat mir wichtige Dienste geleistet, ich kann wohl sagen, daß ich ihm die Grundlage zu meinem Vermögen verdanke. Der arme Mann hat viel Unglück gehabt, und als er vor drei Jahren starb, versprach ich ihm auf dem Todtenbette, für die Zukunft seiner einzigen Tochter zu sorgen. Freund Bronner hat sein Versprechen mit sich in das Grab genommen und ich muß es halten. In spätestens acht Tagen erwarte ich Dich mit Deiner Frau. Die gewöhnlichen Formalitäten einer Verheirathung kannst Du durch Geld beseitigen, darum beseitige sie, ich zahle alle Kosten. Jedenfalls gib mir sofort Nachricht von Deinem Entschlusse. Schließlich benachrichtige ich Dich, daß ich das Gericht bestellt habe, und daß die Fassung meines Testamentes von Deinem Entschlusse abhängt. Es erwartet Dich mit Sehnsucht

Dein Onkel 
Leberecht Dewald, Consul.

 Post scriptum:
„Sollte ich zufällig vor Deiner Ankunft schon gestorben sein, so beunruhige Dich nicht, ich habe an Alles gedacht, Alles vorgesehen. Du wirst mit mir zufrieden sein.“

Verwunderungsvoll lächelnd betrachtete der junge Mann noch das Blatt, als die beiden Damen in das Zimmer traten. Sie befanden sich in Balltoilette; die Ungeduld trieb sie, zu erfahren, was für Nachrichten der expresse Brief gebracht habe.

„Ein schwarzes Siegel!“ rief die Brünette, indem sie das Couvert ergriff.

„Wer ist gestorben?“ fragte die Blondine, ein reizendes junges Mädchen von zwanzig Jahren.

„Niemand!“ antwortete Wilhelm lächelnd. „Lies den Brief laut vor, liebe Albertine, damit Fräulein Louise den Inhalt, der auf sie Bezug hat, kennen lernt.“

Die junge Frau – Albertine war Dewald’s Gattin – las den Brief. Dann sah sie die Freundin an, die tief erröthete.

„Das ist ein origineller Onkel!“ rief Albertine.

„Ohne Widerrede!“ fügte Dewald hinzu. „Meine liebe Frau, wir befinden uns in einer sehr verhängnißvollen Lage. Der alte Onkel ist ein guter Mensch, aber er hat einen eigensinnigen, verschrobenen Kopf. Man muß ihn eigenthümlich behandeln.“

„Was ist zu thun?“ fragte die junge Frau.

„Ja, was ist zu thun?“ fragte auch Louise.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 543. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_543.jpg&oldid=- (Version vom 13.8.2020)