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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Dann füllen sich alle Priölken mit fröhlichen Zechern, sämmtliche Tische zwischen den Oxthoften und Stückfässern sind besetzt, und ein dichtes Gewühl schiebt sich ununterbrochen durch die geräumigen Gänge des weiten Raumes. An solchen Markttagen kann oft selbst die Verlängerung des eigentlichen Kellers, welche unter der Börse fortläuft, und an ihren ebenfalls zwischen gewaltigen Fässern placirten großen viereckigen Tischen Platz für ein paar hundert Gäste hat, die Menge nicht fassen. Dann spielt ein Musikcorps früh und spät bis tief in die Nacht hinein mitten im Qualm der rauchenden und lärmenden Menge. National- und andere Lieder werden angestimmt, und Alles athmet Lust und Fröhlichkeit. Es ist ein echt Bremisches Fest, wo Jeder genießen will und selbst ein Ueberschreiten der üblichen Grenzen nicht gerügt wird. Der Bremer Freimarkt gleicht in dieser Beziehung ganz dem Lübecker Weihnachtsmarkt, der ebenfalls die einzige Zeit im Jahre ist, wo der ehrsame Bürger ein wenig schwärmen und – findet er Vergnügen daran – auch tolles Zeug treiben darf.

Am äußersten Ende der erwähnten Kellerverlängerung, die mit ihren blitzenden Gasflammen einen sehr angenehmen Eindruck macht, und einem endlosen erleuchteten Tunnel ähnelt, hat gegenwärtig Bacchus auf einem der größten Stückfässer seinen Sitz genommen. Der muntere Gott lächelt fröhlich jedem Gaste zu, und streckt ihm einladend den hoch erhobenen Becher entgegen. Ihm zu Füßen ist ein allerliebster Sitz zum Träumen, zum Schwärmen und zu heiterm Gespräch. Gestört wird man hier für gewöhnlich nicht. Die Stimmen der Gäste im übrigen Keller brechen sich an dem endlosen Gewölbe. Das Klingen der Gläser surrt wie fernes harmonisches Getön, das ein phantasiereicher Kopf leicht für Geflüster der Geister halten kann, die hier ihr geheimnißvolles Wesen treiben. Nur von oben herab schallt dann und wann ein lauter Ruf, und das Gepolter der Welt, die über unserm Haupte die profane Klapper des Materialismus handhabt, der uns Alle beherrscht, wenn nicht gerade die Geister des Weines uns über das Flach-Alltägliche emporheben, erinnert uns an die irdische Unvollkommenheit.

Die rein gefegten Straßen der Stadt waren menschenleer, als ich gegen Mitternacht leichten Fußes und froh gestimmt die Treppe wieder hinan stieg. Eine weiche, helle, duftige Mondnacht blitzte über den spitzen Dächern der Häuser am Markt, und der klare Himmel mit seinen Sternen faltete sich wie ein dunkeler Baldachin um Dom, Rathhaus und Rolandssäule. Ein kurzer Gang in solcher Nacht durch die Straßen einer fremden Stadt ist immer belohnend. Er lehrt sie uns kennen im Schlummer, wie der Tag sie uns zeigt in der Thätigkeit des Wachens. Ich umwandelte den Dom, dessen bunte Fenster der Mond mit flimmernden Silberfunken bestreute. Da hob sich vor mir eine dunkele, colossale Statue auf einfachem Granitsockel. Die vier Laternen um die Statue beleuchteten weniger als das helle Mondlicht das Erzbild. Ich stand auf Domshaide neben der Statue des protestantischen Glaubensstreiters Gustav Adolph. Die Bremer sind zu beneiden um dieses prächtige Standbild, das die stürmische Nordsee an Helgoland’s Küste warf und das, da Schweden den verlangten Bergungslohn nicht zahlen wollte, für einige Tausend Thaler ein Eigenthun, Bremens ward. Das eherne Bild, die Linke an den Schwertgriff gelegt, sieht offenen Auges hinüber nach der Johanniskirche, welche den Katholiken gehört, während die ausgestreckte Rechte mit dem Zeigefinger auf den alten Dom hindeutet, als wolle sie sagen: hier ist der wahre Glaube, die geistige Freiheit und das Leben! Das Gustav Adolph-Denkmal, obwohl es in keiner besonderen Beziehung zu Bremen steht, gehört doch zu den schönsten Zierden der Stadt, und wer einen recht angenehmen Eindruck mit fortnehmen will, der sehe zu, daß es ihm gelingt, in stiller Mondnacht sein Auge einige Zeit auf dem Meistergebilde ruhen zu lassen.

Ernst Willkomm.


Blätter und Blüthen.

Geschichte Catya’s, einer russischen Leibeigenen. Ohne Catya zu kennen, haben Viele sie in den Bildern gesehen, in welchen sie als Modell diente. Guérin, der berühmte franz. Maler, hat ihren schönen Kopf in mehreren historischen Bildern verwendet. Der bezaubernde Frauenmaler Belloc hat sie für einen Pariser Pfarrer als heilige Cäcilie gemalt und die Sanftmuth ihres Blickes treffend wiedergegeben. Ihre frühreife Schönheit war ihr Unglück. Sie war bei ihrer Familie im Innern Rußlands, weit hinter Moskau. Die Famile war leibeigen, aber wohlhabend. Ihr Großvater, der sie unendlich liebte, handelte mit Pelz. Als das Kind in einem Alter von vier Jahren am Ufer eines Sees ganz nahe an der Straße spielte, kamen die Wagen einer großen Dame vorüber, der Frau des Gouverneurs von ***, die mit ihren Kindern und ihrem ganzen Hauswesen reiste. Catya’s Schönheit fiel ihr auf, und da ihre Kinder fast in gleichem Alter standen, so hatte sie die Laune sie zu haben und ihren Kindern als Spielzeug zu geben. Ohne alles Weitere, ohne die Familie, ohne den Herrn zu fragen, dem sie gehörte, nahm sie dieselbe wie eine Katze, die man auf der Straße findet, setzte sie in ihren Wagen und fuhr weiter.

Die Familie, die sehr beunruhigt war, erfuhr endlich die Entführung. Die Dame hatte in einer benachbarten Stadt Halt gemacht. Der arme Großvater läuft in Thränen hin und bietet ein Lösegeld, – sein ganzes Vermögen, wenn man es will – um sein Kind wieder zu erhalten. Er wird hart zurückgewiesen und vielleicht geschlagen. Die Dame lacht ihm in’s Gesicht und reist mit ihrer Beute ab.

Man kennt das Loos der Kinder der niederen Stände, die mit denen der vornehmen erzogen werden. Diese, in ihren egoistischen Launen geschmeichelt und verzogen, martern ihre lebenden Spielwaaren nach Herzenslust. Als Catya größer wurde, verwendete sie ihre Herrin zu ihrem persönlichen Dienste als Kammerfrau. Man sollte glauben, ihr Loos hätte sich dadurch gebessert. Es war das Gegentheil der Fall. Diese Damen, die Gebieterinnen der Sclaven, sind selbst große Kinder, eben so launisch wie die kleinen, und nur gewaltthätiger und grausamer. Catya, bereits ziemlich groß, ein hübsches Kind von ungefähr zehn Jahren, fing an von den Männern bemerkt zu werden, die ihrer Herrin ohne Zweifel Complimente darüber machten. Um so weniger liebte sie diese nun. Sie ließ keine Gelegenheit vorübergehen, ohne sie hart zu behandeln. Wenn sie zum Beispiel Madame etwas langsam die Schuhe anzog, so gab ihr diese einen Stoß mit dem Fuße, daß sie mit dem Gesichte auf die Erde fiel.

Wie ein Hund schlief sie auf einer Strohmatte an der Thüre, und es war ihr Unglück, wenn man sie Nachts weinen hörte. Obwohl so früh entführt, hatte sie doch ein lebhaftes Bild mitgenommen von dem väterlichen Hause, von dem Dorfe, von den Wäldern, vom See, von ihren kleinen Gefährten, von jener guten Zeit der Milde und Freiheit und von den Liebkosungen ihres Großvaters, in dessen Armen sie oft eingeschlafen war. Diese Erinnerung begleitete sie überall hin und war ihr bis zu Ende der vierziger Jahre gegenwärtig. – Sie war kaum zwölf Jahre alt, als ihre Herrin im Jahre 1815 nach Frankreich reiste und sie mitnahm. Die Dame, die mit ihrem Manne gekommen war, ließ ihn mit der russischen Armee zurückkehren und blieb in Paris. Durch irgend eine Leidenschaft oder religiöse Laune zurückgehalten, von irgend einem Bekehrer vielleicht beherrscht, blieb sie hartnäckig in Paris und wollte von Rußland nichts mehr hören. Ihr Mann, der des vergeblichen Schreibens, Bittens und Befehlens müde wurde, schickte ihr endlich kein Geld mehr, indem er glaubte, daß die Noth sie am ersten zurückbringen würde. Sie harrte jedoch aus, ließ sich für eine kleine Pension in einem Kloster nieder und entließ ihre Dienstboten. Die kleine Catya wurde davon nicht ausgenommen. Roh und barsch, wie ihre Herrin sie genommen hatte, jagte diese sie nun weg. Sie sandte sie buchstäblich in’s Verderben. Aus der Nähe des Pantheons, wo die Herrin wohnte, wurde sie nach Marais, Rue du Chaume gebracht und beim Anbruch der Nacht unter einem Thore allein gelassen. Es war bereits dunkel und regnete. Eine vorübergehende Dame hört ein Kind weinen und nähert sich. Groß ist ihre Ueberraschung, als sie dieses Mädchen sieht, das schon groß und engelschön ist und das nur weinen kann und nicht spricht. Kaum konnte sie zwei Worte französisch. Gott hatte Mitleid mit ihr. Die Frau war Madame Leroy, die Schwester des Malers Belloc. Sie nimmt sie zu sich, sorgt für sie, erzieht sie, lehrt ihr französisch und leitet sie mit einer Sanftmuth, die sie seit dem Vaterhause nimmer gefunden hatte.

Als Madame Leroy Paris später verließ, überließ sie dieselbe zwei geliebten, hochverehrten Frauen, der achtzigjährigen geistreichen Frau von Montgolfier, der Gattin des Erfinders der Luftballons, und ihrer würdigen Tochter, einer bedeutenden Schriftstellerin, die nur um des Guten willen, nicht um Ruhm schrieb, und sich fast nie unterzeichnete. Man kann denken, daß diese mit ihren zärtlich warmen Herzen gut gegen Catya waren. Das Mädchen bedurfte der Schonung und hatte fast nöthig gehabt, selbst bedient zu werden. Sie war sehr gewachsen und sehr schwach. Die geringste Last zu tragen, Stiegen zu steigen, versetzte sie außer Athem. Man fürchtete, sie möchte ein Aneurysma des Herzens haben.

Obwohl sie in so gute Hände gefallen und gleichsam das Kind dieser Frauen, ihr Kleines war, war es doch leicht zu sehen, daß ihre Familienerinnerungen ihr überall hin folgten, daß sie immer noch in Rußland, immer noch am Ufer des heimathlichen Sees war, wovon man sie entführt hatte. In der That schien sie kaum ihr Vaterland verlassen zu haben. Ihr Geist hatte sich nur mäßig erweitert, obwohl sie französisch mit bemerkenswerther Eleganz sprach; aber ihr Herz hatte sich nur zu sehr entwickelt, doch nur zum Gewinne ihrer Erinnerungen aus der Kindheit; sie mußte immer weinen, wenn sie vor ihrer Seele schwebten.

Vergebens bemühten sich diese Damen, ihre Familie wiederzufinden. Die Andeutungen, die Catya geben konnte, waren unbestimmt und verwirrt.

Es war im Jahre 1823, als ich sie bei diesen Damen sah. Ich erinnere mich des Eindruckes noch sehr gut, den sie auf die Fremden machte, die im Salon waren. Es war anfänglich eine Bewegung der Bewunderung,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 539. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_539.jpg&oldid=- (Version vom 14.10.2022)