Seite:Die Gartenlaube (1857) 521.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

der Mann das Wort. „daß Sie auf Ihrer Forderung bestehen, aber Sie sind wohl ungerechter in Ihrem Urtheil, als Sie selbst es vermuthen. Glauben Sie mir, man kann unverschuldet in Verhältnisse gerathen –“

„Niemals –!“ polterte der in Eifer gerathene, von reichlich genossenem Weißbier erwärmte Hausmann, „niemals darf ein honetter Mann, am Allerwenigsten ein königlicher Beamter in die Lage kommen, zu Wucherern und Halsabschneidern seine Zuflucht zu nehmen. Miethsleute, die Wechselreiterei treiben, passen nicht in anständige Häuser –“

Der Canzleidirector wollte nochmals etwas entgegnen, um dieser peinlichen Scene ein Ende zu machen, aber ein erneuerter Hustenanfall ließ ihn nicht zu Worte kommen. Das Gespräch hatte in der Zugluft zwischen zwei offenen Thüren stattgefunden, und der Husten des Directors wurde so heftig, daß die Frau es ihre nächste Sorge sein ließ, den fast Athemlosen von der unheimlichen Stelle fort und nach der Wohnung zu bringen.

Einen Augenblick hatte der Wirth sich durch das heftige, keuchende Husten seines Miethers in seinen Vorhaltungen unterbrechen lassen, als er aber das hartbedrängte Ehepaar die Treppe zur Wohnung hinaufsteigen sah, rief er dem Manne noch nach:

„Richten Sie sich danach, Herr Canzleidirector, habe ich bis morgen früh um neun Uhr nicht die rückständige Miethe, so reiche ich die Klage ein! – Lumpenvolk, hochmüthiges, weiter nichts,“ brummte der pünktliche Mann vor sich hin, indem er sorglich die Hausthür schloß und sich im Gefühl erhöhter Würde zur Ruhe begab.

Die Wohnung des Canzleidirectors lag im zweiten Stock und war für eine aus sechs Köpfen bestehende Familie eng genug, denn sie bestand nur aus drei verhältnißmäßig kleinen Zimmern, deren Miethpreis nichtsdestoweniger beinahe den vierten Theil des Gehaltes in Anspruch nahm.

In dem ersten Zimmer ließ sich der Director erschöpft nieder. Er fühlte sich von Fieberschauern geschüttelt und der erstickende Husten hatte ihm den hellen Angstschweiß auf die Stirn getrieben, von der die dicken Tropfen jetzt auf die krankhaft gerötheten Wangen niederrieselten. Die Frau brachte ihm eilig etwas lauwarmen Thee, der in der Ofenröhre stand; er machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand –.

„Sieh nach den Kindern,“ sagte er, „ich höre sie.“

Sie eilte in das Nebenzimmer, in dem die drei jüngsten Kinder schliefen, und hatte genug zu thun, das Kleinste zu beschwichtigen, das von dem Balle etwas mitgebracht haben wollte, die andern zuzudecken, welche über Kälte klagten, und das Dienstmädchen zu Bette zu schicken, welches sorglos bei den Kindern eingeschlafen war. Dann eilte sie wieder zu ihrem Manne, der die Hände fest auf die Brust gepreßt hielt, um einen wiederholten Hustenanfall zu unterdrücken. Er saß auf dem Rande seines Bettes, die Brust arbeitete schwer und die abgemagerten Hände waren eiskalt. Mit dem Ausdrucke der schmerzlichsten Theilnahme beugte sich die Frau über ihn, wischte ihm den Schweiß von der Stirn und suchte seine kalten Hände in den ihrigen zu erwärmen. Sie half ihm, sich zu entkleiden und als er zu Bette gebracht war, winkte er ihr, sich zu ihm zu setzen. Aber sie mußte sich ganz zu ihm hinunterbeugen, um seine leise geflüsterten Worte zu verstehen.

„Versprich mir, mich ruhig und gefaßt anzuhören …“

Sie rang in stummer Verzweiflung die Hände, denn sie ahnte das Schreckliche. Was sollte aus ihr, aus den vier unmündigen Kindern werden! Aber dieser Gedanke war es nicht, der sie zunächst mit grenzenlosem Jammer ergriff, sie dachte zunächst nur an den geliebten Mann, den Vater ihrer Kinder, der, ein Muster der Hingebung, sich unablässig für die Seinen gemüht und geplagt, bis die Frohnarbeit des Tages im Verein mit nächtlicher Arbeit seine Kraft aufgezehrt und aus der einst so blühenden Mannesgestalt einen Schwindsüchtigen gemacht hatte.

„Wilhelm, einziger, guter Mann, ich will zum Doctor laufen, der Anfall wird vorübergehen –“

„Wenn Du mich lieb hast, so thue nichts dergleichen, sondern füge Dich in’s Unvermeidliche. Laß den letzten und größten Liebesdienst sein, den Du mir erweisest, daß Du mir das Scheiden nicht noch bitterer machst, als es schon ist. Vertrau’ auf Gott, den Vater der Wittwen und Waisen …“

Sinke nur immer nieder auf Deine Knie, armes Weib! schmiege Dein thränenüberströmtes Antlitz an die keuchende Brust des Sterbenden und lehne Dein Ohr an seine zuckenden Lippen, um sein letztes Vermächtniß zu hören! Was Du in mancher Stunde banger Sorge zitternd ahntest, die Trennung für immer von ihm, mit dem Du Freud’ und Leid, mehr noch Kummer und Sorge lange Jahre hindurch getragen hast, – sie tritt jetzt in schreckensvoller Nähe an Dich heran, und Du darfst nicht laut jammern, um seine letzte Stunde nicht noch mehr zu erschweren.

„Ich habe ein Testament errichtet und Dich zur befreiten Vormünderin der Kinder ernannt. Das ist Alles, was ich Dir hinterlassen kann … mein Vertrauen und meine Liebe, über’s Grab hinaus …. Du wirst keine Weitläufigkeiten mit dem Vormundschaftsgericht haben und hast über die Zukunft der Kinder zu bestimmen. Du wirst sie zu tüchtigen Handwerkern erziehen oder zu sonst einem anständigen Gewerbe bestimmen, … das Elend des Beamtenthums möge ihnen, so Gott will, erspart bleiben … Du wirst mit den paar Thalern Wittwengehalt nicht fertig werden, aber Ihr werdet Euch einschränken können, wenn ich … wenn Ihr allein seid, werdet Ihr eine kleine Wohnung vor dem Thore beziehen, und Du wirst als arme Beamtenwittwe mit den Mädchen getrost arbeiten können, ohne daß es Deine bürgerliche Stellung schändet … Ich habe heute früh ein Schreiben an den Präsidenten aufgesetzt … das gib ihm … morgen … segne Dich Gott! … mir wird mit einem Mal so leicht … Deine Hand …!“




Zur Mittagsstunde des nächsten Tages ließ sich ein bleiches, abgehärmtes Weib bei dem Präsidenten der Behörde anmelden, an welcher der Canzleidirector angestellt war.

„Was bringen Sie mir, liebe Frau?“ sprach der Präsident, indem er theilnehmend in das blasse Antlitz der Supplicantin blickte, „ist Ihr Mann etwa erkrankt? Er soll sich ja schonen, seine Gesundheit ist nicht die beste, und ich werde Bedacht nehmen, daß ihm zum Sommer eine Unterstützung zu einer Badereise bewilligt wird –“

„Er leidet nicht mehr, Herr Präsident!“ war Alles, was die Wittwe zu antworten vermochte.

Der Präsident war sichtlich betroffen und sprach in herzlichen Worten seine Theilnahme, sein Bedauern aus. Sie reichte ihm das Schreiben und er las mit lebhafter Bewegung:

„Da ich meinen Tod herannahen fühle, so mag ich nicht scheiden, ohne Ihnen, innigst verehrter Herr Präsident, ein letztes Lebewohl und den innigsten Dank für die vielen Beweise des Vertrauens und der Theilnahme auszusprechen, deren ich mich während meiner ganzen Dienstzeit zu erfreuen hatte. Leider vermochte alles mir unverdient gespendete Wohlwollen nicht, mich der nagenden Sorge zu überheben, die mich frühzeitig elend gemacht hat und meine unversorgten Kinder bald zu Waisen machen wird. So weit es einem vor Gott demüthigen Herzen ansteht, sich von wissentlicher Schuld freizusprechen, so weit darf ich von mir sagen, daß ich mein Unglück nicht verschuldet habe. Erst seit einigen Jahren habe ich durch Ihr Wohlwollen eine Stelle erhalten, von deren Besoldung ich meine Familie hätte ernähren können, wenn nicht das frühere, ganz unauskömmliche Gehalt, von dem ich eine zahlreiche Familie bei immer zunehmender Theuerung aller Lebensbedürfnisse zu erhalten hatte, mich in Schulden gestürzt hätte, die mir die Früchte einer vermehrten Einnahme nicht zu Gute kommen ließen. Und so gehe ich meinem Ende entgegen, ohne den Meinen etwas Anderes zu hinterlassen als den, wie ich hoffe, unbefleckten Namen eines pflichttreuen Beamten. Ich weiß, daß mir von Ihrer Gnade eine Unterstützung zu einer Badereise zugedacht war – möge diese Unterstützung meiner Frau zu Theil werden, damit sie in ihrem Schmerze wenigstens der Sorge überhoben sei, wie sie den Todten geziemend zur Erde bestatte …“

Der Präsident las nicht weiter, er reichte der Wittwe liebreich die Hand und sprach ihr mit herzlichen Worten Trost zu, Hülfe verheißend, so weit es in seinen Kräften stand. Sie schied mit strömenden Thränen des Dankes.

Drei Tage darauf bewegte sich an einem hellen Februartage ein stattlicher Leichenzug vom Sterbehause die Straße entlang, zum Thore hinaus. Der majestätische Hauswirth selbst folgte in einem eleganten Trauerwagen, und aus der Art und Weise, wie er sich mit dem Präsidenten begrüßte, schien hervorzugehen, daß sie unlängst eine Conferenz gehabt hatten, welche die Gesinnungen des strengen Mannes in Beziehung auf die Familie des Canzleidirectors

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 521. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_521.jpg&oldid=- (Version vom 2.10.2022)