Seite:Die Gartenlaube (1857) 475.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Verbrechen begegnet war. Sein Herz wurde kalt unter diesen Wahrnehmungen, und sein Benehmen nahm eine herbe Schroffheit an.

„Ich habe vorhin, wider meine bessere Einsicht, Ihrem Willen nachgegeben,“ begann er gemessen und forschend, „aber es sind Umstände eingetreten, die es erheischen, daß ich Ihre Frau Mutter secire.“ – Lucilie fuhr erschrocken in die Höhe und starrte ihn verstört an.

„Wie –? Verstehe ich Sie recht?“ stammelte sie schaudernd, „Sie müssen, Sie wollen durchaus –?“

„Ja, ich muß, mein Fräulein,“ setzte er fest hinzu, von dem sichtlichen Entsetzen der Dame ungerührt, Lucilie sank zurück in ihren Sessel und verhüllte ihr Gesicht mit beiden Händen. Es entstand eine peinliche Pause, in welcher der Arzt mit sehr schmerzlichem Gefühle die furchtbare Möglichkeit einer Schuld näher in’s Auge faßte. Plötzlich richtete sich das Fräulein auf. Ihr Auge strahlte in dem Glanze verzweiflungsvoller Festigkeit und ihre Wangen rötheten sich unter der Heftigkeit, mit der sie ausrief:

„Und ich hätte nicht die Macht, dieser unheilvollen Section zu widerstreben, Herr Doctor? Wer kann mich zwingen, darein zu willigen, daß die theure Leiche zum Besten der Wissenschaft preisgegeben werde? Ich versage meine Einwilligung – ich will es nicht! Wagen Sie einmal, gegen meinen Befehl meine Mutter mit dem scheußlichen Messer zu berühren. Wagen Sie den Versuch. Nur über meine eigene Leiche geht der Weg zu dem leblosen Körper, der Ihre Wißbegierde reizt. Was nützt Euch armen kurzsichtigen Aerzten denn die Erfahrung, die Ihr durchaus sammeln wollt? Könnt Ihr den Organismus wieder beleben, wenn er nun seine Functionen eingestellt hat? Oder könnt Ihr vorbeugen, daß die Blutwellen nicht stillstehen, wenn sie einmal still stehen sollen? Ihr armen Sterblichen, Ihr vermögt kein Leben zu retten, das dem finstern Grabe verfallen ist! Euer Wissen wird bereichert von Tage zu Tage, aber Eure Geschicklichkeit bleibt dennoch auf der Grenze menschlicher Vollkommenheit. Ich werde nie, nie dulden, daß –“

„Sie werden sich der gerichtlichen Verfügung unterordnen müssen, mein Fräulein,“ unterbrach sie der Doctor kaltblütig.

Lucilie sah ihn groß an, ihr Blick verlor alles Leben und allen Glanz.

„Gerichtliche Verfügung?“ wiederholte sie tonlos. Der Arzt seufzte tief auf bei dieser furchtbaren Veränderung ihres Wesens. Sie war ihm ein Beweis für des Gerüchtes Wahrheit.

„Ja,“ erwiderte er hart. „Man hat Verdacht gefaßt, daß der Genuß irgend einer Speise oder eines Getränkes den Tod der Frau von Kurow veranlaßt hat.“

Lucilie legte mit sprechender Ergebung ihre Hände zusammen.

„Thun Sie also, was Sie nicht lassen können,“ flüsterte sie. „Mein Wort darauf, daß meine Mutter nur genossen hat, was ich sowohl, als unser Gast, Herr von Schlabern, gegessen hat –“

„Sie erlauben,“ fiel der Arzt voreilig ein, „haben Sie auch von der Limonade getrunken, die Ihrer Frau Mutter verabreicht worden ist?“

Das Fräulein blickte sinnend und träumerisch auf. Ihr bleiches Gesicht erschien einen Augenblick von Verwunderung belebt.

„So viel ich mich erinnere, hat meine Mutter gar keine Limonade getrunken.“

Der Doctor erhob sich entrüstet. Eine Gegenrede wäre nicht statthaft gewesen, deshalb ließ er das Gespräch fallen. Aber welche Wirkungen eine Ableugnung von Thatsachen, die nach seiner Meinung vom Criminalbeamten schon festgestellt waren, hervorbringen mußte, ist unnöthig, zu erörtern. Fräulein Lucilie schien die veränderte Stimmung ihres Arztes gar nicht zu bemerken. Als er Miene machte, aufzubrechen, rang sie sichtlich mit ihrer Schüchternheit, die sie verhindern zu wollen schien, eine Frage an ihn zu richten. Endlich nahm sie ihren Muth zusammen.

„Haben Sie Herrn von Schlabern gesprochen?“ flüsterte sie stockend.

Der Arzt sah sie fest an, als er entgegnete: „Ja. Sein Zustand ist bejammernswerth! Trägt dieser junge Mann eine Schuld in sich, so wird er sich niemals darüber beruhigen. Er ist von so hervorstechend sanguinischem Charakter, daß er sich zu den extravagantesten Schritten verleiten lassen könnte, um ein Unrecht zu sühnen. Ich möchte wohl die Gründe einer so überwältigenden Trauer, die an Unmännlichkeit grenzt, kennen,“ fügte er mit einem lauernden Blick auf Lucilie hinzu.

„Beurtheilen Sie ihn nicht falsch,“ bat diese mit sanftem Tone. „Freilich liegt nur eine eingebildete Schuld zu Grunde, allein die seltsame Fügung der Verhältnisse rechtfertigt seine Seelenstimmung. Die Pläne, die meine Mutter mit ihm vereint entworfen zu haben scheint, stürzten zu jähe darnieder, um nicht selbst eine männliche Fassung erschüttern zu können. Es wird gewiß noch Alles gut, wenn er sich nur vor übereilten Schritten hütet.“

„Für jetzt ist er aller Handlungsfähigkeit enthoben,“ entgegnete der Arzt. „Er liegt zu Bette, und wenn die Pein seines Zustandes nicht durch zufriedenstellende Nachrichten gemildert wird, so ist eine Nervenkrankheit zu fürchten.“

Lucilie, schon lange wieder auf der Stufe der Trauer stehend, wo Thränen unausbleiblich sind, brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus, und preßte die Hände gefaltet, gegen ihre heiße Stirn, indem sie flüsterte: „Was soll ich thun? Was soll ich thun? O, meine Mutter, daß Du hast sterben müssen mit dem unerfüllten Wunsche im Herzen, der mein Glück bezweckte!“

Der Doctor, kühl geworden gegen die leidenschaftlichen Ausbrüche eines Schmerzes, welcher ihm jetzt erheuchelt vorkommen mußte, verbeugte sich schweigend und verließ sie. Seine Zweifel waren nicht geschwunden nach dieser Unterredung, sondern gewachsen. Die Kraft des Vorurtheils ist dämonisch, sie steigt, unter dem Einflusse einmal geweckten Mißtrauens, mit Riesengewalt und erdrückt jeden guten Gedanken.


Während der Doctor Müllendorf mit seinem finstern Schweigen das Emporwallen einer verdienten Verachtung zu bezeichnen für gut befunden hatte, saß Lucilie nach seiner Entfernung so tiefsinnig betrachtend und in sich versunken da, daß sie kaum ihr Alleinsein bemerkte. Ihre Seele war nur von einem Gedanken eingenommen, und in diesem concentrirte sich der Schmerz des erlittenen Verlustes und die Furcht, ein Glück zu verlieren, das ihr kaum geboten, aber in der flüchtig süßen Erwartung von unbeschreiblicher Einwirkung geworden war. Die Stunden des peinlichen Grames hatten das Gefühl ihres Verlassenseins geschärft und dadurch dem Bilde des Mannes, welchen sie mit gläubiger Zuversicht als den zu betrachten berechtigt zu sein glaubte, den ihre Mutter für sie bestimmt hatte, einen sichern Eingang in ihr unbewachtes Herz eröffnet.

Die Sonderbarkeit der Trauer, der sich Clemens von Schlabern hingab, schien dies Glück im Keime zerstören zu wollen: er betrachtete sich allen Ernstes als die Ursache einer tödtlich gewordenen Gemüthsbewegung und hatte in diesem Wahne Worte fallen lassen, die einen überspannten Entschluß und eine ewige Entsagung vollständig verriethen. Was Lucilie dabei empfand, trug so sichtlich den Charakter eines leidenschaftlichen Kummers, daß sie sich nicht unklar über die Empfindungen bleiben konnte, die Clemens gewaltsam in ihr erweckt hatte. Aber da er seinen schreckhaften Plänen keine ausgedehnteren Erklärungen hinzufügte, so mußte sie schweigend über ihr junges Glück das ergehen lassen, was dasselbe wieder in sein Nichts zurückwarf.

Sie verlor also mit ihrer Mutter zugleich einen Freund derselben, der nach ihrer Meinung unersetzlich war und der einen Werth für sie gewonnen hatte, welcher alle anderen Freunde in den Hintergrund drängte.

Wäre sie in ihrem sonst klar besonnenen und ungetrübten Seelenzustande gewesen, so würde sie von den unangemessenen Selbstanklagen des jungen Mannes betroffen geworden sein und ein ruhiges Nachdenken ihr Urtheil so weit erkräftigt haben, um ihr die Augen über die frühere Verbindung, die solche Selbstanklagen statthaft machte, zu öffnen, allein da ihr jetzt jeder leitende Fingerzeig fehlte und sie, von den Schrecknissen der Gegenwart umflort, keiner Reflexion fähig war, so legte sie die übernatürliche Zartsinnigkeit des Herrn von Schlabern, die ihn einer unmännlichen Verzweiflung überlieferte, auf echt weibliche Art entschuldigend aus und wünschte nur zu seiner Beruhigung beitragen zu können.

Dieser Wunsch steigerte sich nach der Berichterstattung des Arztes, der ihn, auf ihre Bitte, hatte besuchen müssen. Sie fühlte sich ergriffen, überwältigt und hingerissen zu einem Entschlusse, der freilich gewagt war, da sie seinen Herzenszustand in Bezug auf sich nicht feststellen, sondern nur ahnen konnte.

Daß ihre Mutter die Absicht gehabt haben könnte, etwas Anderes zum Schlusse ihrer begonnenen Eröffnung zu sagen, als: „Was würdest Du sagen, wenn ich Dir den Herrn von Schlabern

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 475. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_475.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)