Seite:Die Gartenlaube (1857) 403.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Manche tragen z. B. noch ihre Kerzen in der Hand. Wäre die Luft rein gewesen, so wären die Kerzen ganz verbrannt; da sie aber also nur kurze Zeit gebrannt haben, so war in kurzer Zeit die Lebensluft verschwunden und die Arbeiter starben ebenfalls in kurzer Zeit den Tod der Erstickung am Kohlengas. Ein Stück Brod, das man in der Tasche eines der Verunglückten vorfand, zeigt wohl auch deutlich, daß sie nicht lange Zeit zu leiden hatten, indem ihn sonst der Hunger sein Brod wohl hätte verschlingen lassen. Aus dem ferneren Umstande, daß die Uhr eines der Verunglückten auf 2½ wies, glaubt man schließen zu dürfen, der Tod habe die Verschütteten bereits Donnerstags Nachmittags spätestens um die angegebene Stunde überrascht, indem angenommen wird, der Unglückliche hätte sonst die Uhr gewiß wiederum aufgezogen, da in solcher Lage jedes Zeichen über den Zeitverlauf hoch angeschlagen werden müsse. – Viele waren übrigens mit ihrem Werkzeuge versehen, hielten im Tode noch den Pickel, mit dem sie unzweifelhaft den Schutt hatten wegräumen wollen, der ihnen den Ausgang so unerbittlich verschloß. In der gemeinsamen Noth zeigten die armen Arbeiter überall die herrlichsten Züge von Bruderliebe. Denn auch hier trafen wir eine rührende Gruppe von fünf, die alle einander im Leben und Sterben fest und treu im Arme hielten. – Das mag ein wehmüthiges gemeinsames Schlagen der aneinander pochenden Herzen und ein gemeinsames Verstummen dieser feierlichen Stimmen der Seelen gewesen sein! – – Hier fand man auch den englischen Minirer todt, auf dessen Erfahrungen man Hoffnungen für die Verschütteten gegründet hatte – was mochte daher wohl aus den übrigen 21 hier nicht gefundenen geworden sein? Das war die peinliche Frage, welche die zahlreiche, vor der Tunnelmündung harrende Volksmenge bewegte. Die Einen schwiegen, die Andern jammerten, und viele glaubten durch lautes Schreien dem überschwenglichen Schmerze Luft machen zu können. Und wenn sie glaubten, in einem der hervorgebrachten Särge die Leiche eines lieben Bruders, eines theuren Sohnes zu finden – welch’ entsetzlicher Anblick bot sich ihnen dar! Keiner konnte mehr aus seiner Leibesbeschaffenheit wieder erkannt werden – so verheerend hatte die Verwesung bereits um sich gegriffen. – –

Nachdem zehn Leichen von den benachbarten Gemeinden in Empfang genommen und abgeführt worden waren, wurden die 21 gebliebenen auf 3 Wagen zur Ruhestätte begleitet. Unter Glockengeläute und dem Gebete des Geistlichen wurden die Leichen in dem einen großen Grabe beigesetzt, das bald auch ihre übrigen Brüder aufnehmen sollte.

– – Bis Samstag Morgens 7 Uhr wurde die Luft so weit gereinigt, daß man bis 1500 Fuß hinter den Schuttkegel vordringen konnte. Da man auf dieser langen Strecke nur 2 todte Pferde, aber keinen menschlichen Leichnam mehr fand, so erreichte die Spannung, was man die noch übrige Strecke von etwa 700 Fuß entdecken werde, einen grenzenlosen Grad! Noch 2 Stunden lang wurde auf Tod und Leben Luft gepumpt, bis man dann endlich zu hinterst im Tunnel die übrigen 21, den Erstickungstod gestorben, neben einander liegend todt fand. – Während jene zuerst aufgefundenen in den verschiedensten Stellungen, stehend und liegend und die Werkzeuge in der Hand haltend, vom Tode überrascht worden waren, und die gräuliche Entstellung der Leichen durch die Verwesung die Beruhigung gab, daß sie schon im Anfange gestorben, gaben verschiedene Umstände die Gewißheit, daß diese letzteren, in den innersten Raum Geflüchteten, noch einige Tage gelebt haben, einige wohl gar bis Mittwoch, also sechs Tage lang. Aller Wahrscheinlichkeit nach verließen sie die Feuerstätte, wo ihre Milch- und Theekannen stehen blieben, und wo noch frisches Fleisch auf dem Scheiterhaufen lag, und stiegen die Leiter hinan auf das mit Brettern belegte Gerüst der Mauer. Dahin nahmen sie Kerzen, Oel und etwas Pferdefleisch mit, ihre Lampen hingen sie symmetrisch auf. Ohne Zweifel dachten sie, in der Höhe sei die Luft etwas besser. Mehr und mehr entschliefen; die Uebrigen aßen endlich etwa vier oder fünf Pfund rohes Pferdefleisch, ordneten die Leichen in Reihen und setzten die Reihen selber fort. Es ist rührend, mit welch’ religiösem Sinn der Ordnung und Ergebung die sonst harten Arbeiter, selbst dem Tode verschrieben, ihre verstorbenen Brüder besorgten. In einer Reihe liegen Mineurs, in der andern die Maurer; beide Reihen hatten die Stiefeln ausgezogen und streckten die Füße gegen einander, sind aber noch so entfernt, daß man zwischen den Füßen beider Reihen hindurch gehen kann. Unter dem Kopfe liegt ein Brett und etwas Stroh, die Hände sind gefaltet. Die, welche bald ihren Geist aufgaben, konnten Gott danken, aber die, welche alle ihre Brüder so gesunden Herzens hinsterben sahen und dies ihr eigenes Loos sicher erwarten mußten, litten die Todesschmerzen in zehnfachem Maße. Ein Todter hielt in der einen Hand ein Stück Lehm, in das der Daumen gedrückt war, um die Kerze, die er in der andern Hand hatte, hineinzustecken. Auf allen Gesichtern lag eine stille Ruhe; sie waren schmerzlos eingeschlafen – für immer. Drei Jünglinge: Soland, Hunziker und Schrenk, noch in ungebrochener Blüthe ihrer Lebenskraft, vermochten dem Tode wahrscheinlich am längsten zu widerstehen. Sie müssen erst kurz vor der Auffindung verschieden sein, denn sie zeigten noch ein sehr gutes frisches Aussehen und ihre Glieder waren noch nicht steif. Die Untersuchung durch die Aerzte lieferte das Gutachten, daß sie letzte Mittwoch noch gelebt haben. Zwei hatten sich ausgezogen, ohne Zweifel denkend, ganz nackt fühlen sie den Luftmangel weniger und das Athmen sei leichter. Das letzte Opfer, das seinen Geist aushauchte, war wohl der 25 Jahre alte Schrenk aus Baden. Recht schön von Angesicht, wohlgestaltet und gut gesittet, war er allen ein guter, lieber Camerad. Als man ihn am Sonnabend auffand, waren seine Wangen noch blühend roth, seine Lippen noch frisch und vor dem Munde die Spuren eines kleinen Schaumes. Man wollte seinen Leib noch warm finden und vermuthete, er könnte seinen heißen Todeskampf nur wenige Stunden vorher erst ausgekämpft haben.

Am Samstag Mittag besichtigte eine ärztliche Commission die Todten und sprach sich dahin aus, daß einige am Mittwoch noch gelebt haben dürften. Die von unserm Freunde vorgenommene Section ergab: „Hyperämie des Gehirns, der Lungen und der Leber, mit allen Zeichen der Folgen von Einathmung einer irrespirablen Gasart. Im Magen wurden Speisereste gefunden, also nicht Hungertod. – Die Consistenz der Organe, der Mangel an Zersetzungsgeruch bei der Section und andere Umstände lassen auf kürzlich erfolgten Tod des secirten Individuums schließen. Der Secirte lag übrigens allein, getrennt von den Andern, unterhalb des Gerüstes, und scheint entweder als Ueberlebender sich bei den vielen todten Cameraden unheimlich gefühlt zu haben, oder als Wachtposten zum Aufpassen auf allfälliges Geräusch – während des Schlafes der Anderen – aufgestellt gewesen zu sein.

Nachmitttags 4 Uhr fuhren 35 Arbeiter in den Tunnel, um die Leichen einzusargen und herauszuschaffen, mit welcher sehr schwierigen Arbeit sie erst gegen 8 Uhr Abends fertig wurden. Es war eine ergreifende Scene, als die Rollwagen mit den Särgen bis an die Mündung des Tunnels herausfuhren, wo die amtliche Commission im Scheine mehrerer Fackeln, welche das Gewölbe schauerlich erhellten, die Identität der Todten constatirte. Der Mond war eben aufgegangen und schien durch die Wipfel der Bäume auf die traurige Stätte. Außen stand eine große Volksmenge, darunter viele Angehörige der Verunglückten, deren Jammern und Wehklagen schmerzlich durch die stille Nacht drang. – Die Beerdigung ward der späten Abendstunde wegen auf den folgenden Morgen angesetzt. – – –

Es war ein ergreifender Zug, der am Sonntag die Verunglückten zum großen gemeinsamen Grabe geleitete, das die ersten Opfer des Unglücks bereits aufgenommen hatte. Die Bezirksbehörden von Olten, alle Bauangestellten, sämmtliche Arbeiter und eine ungeheuere Menschenmasse folgten den drei großen Leichenwagen, voran, von 31 Knaben getragen, die schmucklosen hölzernen Kreuzchen, die einzige Zierde für das einzelne Grab, bis alle Namen auf dem gemeinsamen Denksteine eingegraben sind, der diese letzte Ruhestätte bezeichnen wird. Hier angekommen, hielt Herr Professor und Kaplan Bläsi von Olten eine treffliche und ergreifende Grabrede. Sie entsprach der Bedeutung des Momentes und wirkte beruhigend und versöhnend, um so mehr, als er beauftragt war, Namens des Directoriums der Centralbahn die Erklärung abzugeben, daß dasselbe zu Gunsten der Wittwen und Waisen der Verheiratheten und zu Gunsten der Eltern der unverheiratheten Arbeiter, die im Tunnel den Tod gefunden haben, Beschlüsse gefaßt habe, welche der eigentlichen Noth derselben auch für eine entfernte Zeit vorzubeugen im Stande seien. Gleichzeitig mit den Beschlüssen hatte das Directorium und hatten bereits die öffentlichen Blätter die Sammlung von Liebesgaben mit Erfolg angeregt. In Folge dessen ist für die ökonomische Zukunft der Hinterlassenen auf angemessene Weise gesorgt. – –

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 403. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_403.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2017)