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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

No. 29. 1857.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.   Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Herr Referendarius.
Erzählung vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“
(Fortsetzung.)

Kurz vorher hatte ihre Tochter Emma etwas Anderes gewonnen, wovon die Mutter allerdings nichts wußte und nichts wissen durfte, wenn zu ihren schweren Sorgen sich nicht auch noch schwere Angst gesellen sollte. Es war das die Liebe eines hübschen jungen Mannes, den sie jeden Mittag um zwölf Uhr, wenn sie von ihrer Arbeit in der Leipziger Straße nach Hause zurückkehrte, an der Spittelkirche traf, der bald mit ihr den nämlichen Weg ging, bald kürzer, bald länger, und ihr erzählte, daß er Rudolph Langenau heiße, aus einem kleinen Städtchen in Sachsen gebürtig sei, und in Berlin als Lithograph arbeite; daß er zwar jetzt nur noch ein geringes Wochenlohn verdiene, aber hoffentlich schon zu Ende des Jahres mit einem andern jungen Manne aus seiner Heimath, der ebenfalls Lithograph sei, etwas Vermögen besitze und sehr solid sei, sich selbst etabliren werde, worauf er dann eine Frau ernähren könne. Dabei hatte er ihr gesagt, wie er sie schon seit einiger Zeit gesehen, wenn er, gleichfalls um zwölf Uhr Mittags, von der Arbeit in der Winckelmannschen Lithographie komme, und wie er sie so gern und immer lieber gesehen. Endlich hatte er ihr auch gesagt, daß er sie liebe, und er hatte sie gefragt, ob sie ihn wohl so viel wieder lieb habe, daß sie, wenn er sich etablirt, seine Frau werden wolle. Sie aber hatte den schönen, gegen sie immer so braven und bescheidenen jungen Mann ebenfalls nicht ungern gesehen, und sie konnte mit dem süßen Glück und Schmerz der ersten Liebe des Mädchenherzens ihm sagen, wie sehr, wie unendlich sie ihn wieder liebe. Ihrer Mutter durfte sie nichts sagen; er hatte sie darum gebeten; er fürchte, die Mutter, die ihn nicht kenne, möge sie trennen wollen. –

Das Mittagsessen schmeckte dem armen Mädchen in der That nicht, obwohl sie ihren Geliebten gesehen hatte. Sie ging bald in ihr Schlafstübchen und weinte sich hier in der Einsamkeit noch einmal aus. Die meisten Thränen des Menschen sieht seine Schlafstube und sein Bett; freilich, wenn er Schlafstube und Bett hat. Die Armen die am meisten weinen müssen, haben Beides nicht.

Sie schloß eine alte Commode auf, nahm aus einer Schublade ein kleines Kästchen und aus dem Kästchen eine kleine gehäkelte Börse. Sie hatte sie selbst gehäkelt, als Kind, es war ihre erste Arbeit. Darin verwahrte sie ihr Geld, das sie von ihrem verstorbenen Vater erhalten hatte, ihr erstes Geld, an ihren Geburtstagen, an den Weihnachts-heiligen-Abenden. Es waren nur drei Thaler; nur jedesmal fünf Silbergroschen hatte die arme und doch so reiche Liebe des Vaters ihr spenden können. Sie hatte schon mehr gehabt, aber nach dem Tode des Vaters, als die Noth im Hause war, hatte sie die ganze Börse der Mutter gebracht, und die Noth hatte die Mutter gezwungen, mit ihr zu theilen.

Emma schüttete die Börse aus; nein, sie schüttete sie nicht aus, sie nahm Stück für Stück jedes einzelne Geldstück hervor. Jedes war in ein Papier gewickelt; auf jedem Papier stand geschrieben, wann sie es erhalten. Es waren noch die ersten fünf Silbergroschen darunter, die der Vater ihr geschenkt hatte, als sie fünf Jahre alt geworden war; die Aufschrift war von dem Vater. Es war das Stück darunter, das sie an dem Tage ihrer Einsegnung bekommen, und das letzte, das die beinahe schon sterbende Hand des Vaters ihr gereicht hatte. Die Aufschriften waren von ihr. Das Alles hatte die Noth nach dem Tode des Vaters nicht anzugreifen gewagt. Heute mußte es angegriffen werden. Heute mußte er fort, der Schatz, von dem sie in ihrem Leben sich nicht zu trennen gehofft hatte; ihre bitteren Thränen fielen auf die Aufschriften, auf die Geldstücke.

„Und auch der armen Anna soll ich ihren Schatz rauben?“ rief sie.

Anna, die jüngere Schwester, kam herzu. Beide theilten das enge Schlafstübchen.

„Emma, was weinst Du?“

Sie mußte damit heraus.

„Ich hatte eine Rechnung für die Directrice zu bezahlen; das Geld ist mir unterwegs gestohlen.“

Das Kind war schon zu seiner Sparbüchse gesprungen.

„Hier, Emma, nimm Alles; wird es reichen?“

„Dein Geld, Dein Heiligthum, Anna? Kann ich?“

„Emma, liebst Du mich?“

Der Schwester durfte die Unglückliche mit vollem Herzen in die Arme fallen. Sie weinten sich aus. Dann warfen sie ihr Geld zusammen, und als alle die Stücke durcheinander lagen, und Keine von ihnen mehr wußte, wem das eine und wem das andere gehört habe, da durchzuckte es sie wohl noch einmal, aber nur noch einmal, dann lächelten sie sich einander zu, und sie fühlten sich glücklich in ihrer gegenseitigen innigen, herzlichen, kindlichen Schwesterliebe. Und in ihrem Lächeln, in ihrer Liebe stritten sie um den einen Thaler, der nach der Abrede Emma’s mit ihrem Geliebten zu viel da war. Anna wollte ihn nicht zurücknehmen und Emma wollte ihn nicht behalten. Zuletzt mußten sie ihn theilen.

Um halb zwei Uhr war war das Mädchen wieder auf dem Bauplatze in der Wallstraße. Rudolph Langenau wartete schon auf sie hinter dem Holze. Unterwegs war ihr das Herz wieder schwer

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 393. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_393.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2020)