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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

ein weißes Taschentuch, das sie in der Hand hielt, leicht und gewandt entriß. Bevor sie ihren Verlust nur ahnen konnte, war er in dem Gedränge verschwunden. Mit dem Tuche war der Armen noch mehr entrissen.

Sie hatte nur eine leise Berührung gefühlt, daß Jemand in dem Gewühle der Straße an ihr vorbeigestreift sei. Sie sah nach dem Tuche, vermißte es und wurde leichenblaß.

„Um Gotteswillen!“ rief sie entsetzt.

„Was ist Dir, Emma?“

„Mein Tuch! Es ist fort. In diesem Augenblick. Ich hatte meine Börse hineingewickelt.“

„Sie ist mit fort?“

„Sie ist gestohlen. Vor einer halben Minute hatte ich noch Tuch und Börse.“

„Gestohlen? Sahest Du Jemanden?“

„Ich fühlte nur einen leichten Ruck, ich achtete kaum darauf.“

„Kann Dir das Tuch nicht auch entfallen sein?“

„Es wäre möglich.“

„Wir wollen suchen.“

Sie suchten an der Stelle, wo sie standen, wo das Mädchen den Stoß gefühlt hatte; sie fanden nichts; sie kehrten in der Straße zurück; ihr Suchen blieb vergebens.

„Es ist Dir gestohlen, Emma. Sahest Du keinen verdächtigen Menschen?“

„Ich hatte auf Niemanden geachtet.“

„Der Dieb ist längst fort. Unter den Tausenden von Menschen wäre er ohnehin nicht aufzufinden.“

„Ich Unglückliche! Was fange ich an?“

„Wie viel hattest Du in der Börse?“

„Den Doppellouisd’or der Directrice. Ich bin verloren. Sie ist so mißtrauisch; sie wird mich fortjagen; sie wird mich gar der Polizei übergeben.“

„Laß uns überlegen, liebe Emma. Das Geld wird sich ersetzen lassen.“

„Ich habe nicht so viel, auch meine arme Mutter nicht. Und ich muß noch heute der Directrice die Quittung bringen.“

Heiße Thränen erstickten fast die Worte des unglücklichen Mädchens.

„Laß uns nachrechnen, Einige Thaler habe ich noch –“

„Nein, nein, Rudolph, nicht Du, nicht Dein mühsam Erspartes; ich werde das Geld schon zusammenbringen. Drei Thaler habe ich noch in meiner Sparcasse. Meine kleine Schwester Anna hat gar noch vier Thaler in ihrer Sparbüchse. Das macht zusammen schon sieben Thaler. Es fehlen nur noch vier Thaler und zehn Silbergroschen. So viel wird meine Mutter noch haben.“

„Aber wird es nicht ihr letztes Geld sein, Emma?“

„Es ist es,“ weinte das Mädchen.

„Und dann, wenn Ihr Alles zusammengelegt habt, und wenn Du damit die Rechnung der Directrice bezahlt hast, dann habt Ihr nichts mehr im Hause?“

„Nichts, Nichts!“

Sie konnte kaum antworten; sie mußte laut und lauter schluchzen.

„Emma, die Leute sehen uns an; fasse Dich. Laß uns hinter das Holz dort treten.“

Sie gingen hinter das Bauholz, das an der Straße auf einem Bauplatze lag. Dort waren sie unbemerkt.

„Emma, ich habe noch drei Thaler baar. Das Fehlende borgt mir ein Freund. Um halb zwei Uhr wirst Du mich hier mit dem Gelde treffen. Du nimmst es von mir?“

„Ich kann nicht, Rudolph.“

„Liebst Du mich, Emma?“

„Gewiß, gewiß; eben darum kann ich nicht.“

„Aber Deine Mutter könntest Du betrüben? Sie und Deine kleinen Brüder und Schwestern könntest Du darben lassen?“

Das Mädchen weinte heftiger. Sie warf sich an seine Brust und schlang ihren Arm um ihn.

„Wirst Du mich lieb behalten, Rudolph, wenn ich das Geld von Dir nehme?“

„Um desto mehr, mein Engel, wenn ich Dich noch mehr lieben könnte.“

„Dann wollen wir theilen. Ich nehme meine drei Thaler aus der Sparcasse und drei Thaler von meiner Schwester Anna. Den Rest gibst Du mir?“

„So sei es,“ sagte der junge Mann nach kurzem Nachsinnen.

„Und nun geh, mein Mädchen, damit wir uns zur rechten Zeit hier wieder treffen können. Um halb zwei.“

Sie trennten sich. Das Mädchen ging mit schwerem Herzen, und die Augen trocknend, die nicht trocken werden wollten, die Wallstraße hinunter. Der junge Mann kehrte zum Spittelmarkte zurück, anfangs ebenfalls tief nachdenklich und wie mit sich unzufrieden; nach einiger Zeit aber lächelte er vergnügt in sich hinein.

Emma Rohrdorf war die Tochter einer armen Wittwe, deren Mann Registrator bei irgend einer der vielen Behörden Berlins gewesen und vor etwa einem Jahr gestorben war. Ein preußischer Subalternbeamter, zumal in Berlin, bekommt in der Regel gerade nur so viel Gehalt, daß er die nothwendigsten Bedürfnisse des Lebens davon bestreiten kann. Die Beamtenwelt, und auch die Subalternbeamtenwelt, kostet darum doch dem Lande Geld genug, weit mehr als genug. Wie das? – Ach, der preußische Staat braucht viele Schreibmaschinen. Bei dem Stadtgerichte zu Berlin arbeiteten und schrieben zu der Zeit, in welche diese Geschichte fällt, über fünfhundert Subalternbeamten; jetzt werden deren wahrscheinlich über sieben- bis achthundert sein und schreiben.

In anderen Ländern gewinnt der arme Beamte das, was ihm zum Leben fehlt, durch irgend ein Nebengeschäft, das er selbst oder seine Frau oder seine Kinder führen. Wie würde der Büreaukratismus das in Preußen leiden? Dem Beamten selbst verbietet es sogar geradezu das Gesetz, seinen Angehörigen dieser hochmüthige, hohle Kastengeist.

Der Registrator Rohrdorf hatte mit seiner Familie nur sehr kümmerlich leben können. Als er starb, war seine Wittwe mit vier Kindern, von denen die damals sechszehnjährige Emma die älteste war, auf die städtische Armencasse oder das Verhungern angewiesen. Indeß ein Verwandter, ein Schlossermeister, gegen den die Frau „Geheimeregistrator“ sich nie überhoben hatte, nahm sich der braven Frau an, streckte ihr ein kleines Capital vor und half ihr, in der Dresdener Straße ein kleines und bescheidenes Hotel garni einzurichten. Die Dresdener Straße ist der Mittelpunkt des kleinen Landhandelsverkehrs in Berlin. Die Wittwe Rohrdorf hatte daher immer ihre paar Zimmer an Landleute, kleine Gutsbesitzer, Krämer und Handwerker aus der Nachbarschaft von Berlin, vortheilhaft vermiethet. Außerdem ließ jener Verwandte die Tochter Emma das Putzmachen erlernen, so daß sie schon nach drei bis vier Monaten bei einer Putzmacherin in der Leipziger Straße eintreten und monatlich sechs bis sieben Thaler verdienen konnte, die sie ihrer Mutter in die Wirthschaft gab. Die Familie konnte in solcher Weise leben, wenngleich nothdürftig, und es blieb selbst noch soviel übrig, daß die jüngeren Kinder eine bessere Schule besuchen konnten, als die Armenschule.

Der kleine Landmann hat das Capital, das ihm die Ernte gebracht hat, gewöhnlich bis zur nächsten Ernte völlig wieder verzehrt. Kurz vor der nächsten Ernte pflegt daher der Landverkehr auch in den Städten mehr und mehr abzunehmen, bis er zuletzt ganz stockt, um erst von dem Ertrage der neuen Ernte wieder belebt zu werden. In den Monaten April und Mai hatten sich auch bei der Wittwe Rohrdorf nur wenige Miether eingefunden, und sie hatten noch weniger verzehrt. Desto mehr hatte die arme Wittwe von ihren geringen Ersparnissen der vorhergegangenen Monate aufzehren müssen. Sie besaß nur noch wenige Thaler und sie hatte unter Thränen schon davon gesprochen, daß sie nächstens die Sparbüchsen ihrer Kinder werde angreifen müssen. Freilich tröstete sie sich damit, daß im Juni der Wollmarkt Alles ersetzen werde, und der alte, kleine Herr kam schon und nahm drei Zimmer.

(Fortsetzung folgt.)




 

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 384. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_384.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)