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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

„Es vereinigen sich mit diesen Reden und beschwören Euch Eure Vorfahren. Denket, daß in meine Stimme sich mischen die Stimmen Eurer Ahnen aus der grauen Vorwelt, die mit ihren Weibern sich entgegen gestemmt haben der heranströmenden römischen Weltherrschaft, die mit ihrem Blute erkämpft haben die Unabhängigkeit der Berge, Ebenen und Ströme, welche unter Euch den Fremden zur Beute geworden sind. Sie rufen Euch zu: vertretet uns, überliefert unser Andenken eben so ehrenvoll und unbescholten der Nachwelt, wie es auf Euch gekommen ist, und wie Ihr Euch dessen und der Abstammung gerühmt habt. Denn sollte der deutsche Stamm einmal untergehen in das Römerthum, so war es besser, daß es in ein altes geschähe, denn in ein neues. Wir standen jenem und besiegten es; Ihr seid verstäubt worden von diesem. Auch mischen sich in diese Stimmen die Geister Euerer späteren Vorfahren, die da fielen im heiligen Kampfe für Religions- und Glaubensfreiheit. Rettet auch unsere Ehre, rufen sie Euch zu. – Es beschwören Euch Eure noch ungebornen Nachkommen. Ihr rühmt Euch Eurer Vorfahren, rufen sie Euch zu, und schließt mit Stolz Euch an eine edle Reihe. Sorget, daß bei Euch nicht die Kette abreiße, wachet, daß wir auch uns Eurer rühmen können, und durch Euch als untadliges Mittelglied hindurch uns anschließen an dieselbe glorreiche Reihe. Veranlaßt nicht, daß wir uns der Abkunft von Euch schämen müssen, als einer niederen, barbarischen, sclavischen, daß wir unsere Abstammung verbergen oder einen fremden Namen und eine fremde Abkunft erlügen müssen, um nicht sogleich, ohne weitere Prüfung, weggeworfen oder zertreten zu werden. Wie das nächste Geschlecht, das von Euch ausgehn wird, sein wird, also wird Euer Andenken ausfallen in der Geschichte, ehrenvoll, wenn dieses ehrenvoll für Euch zeugt; sogar über die Gebühr schmählich, wenn Ihr keine laute Nachkommenschaft habt und der Sieger Eure Geschichte macht. – Hoffet nicht und tröstet Euch nicht mit der aus der Luft gegriffenen, auf bloße Wiederholung der schon eingetretenen Fälle rechnende Meinung, daß ein zweites Mal, nach Untergang der alten Bildung, eine neue, auf den Trümmern der ersten, aus einer halb barbarischen Nation hervorgehen werde. In der alten Zeit war ein solches Volk, mit allen Erfordernissen zu dieser Bestimmung ausgestattet, vorhanden und war dem Volke der Bildung recht wohl bekannt, und ist von diesem beschrieben, und diese selbst, wenn sie den Fall ihres Unterganges zu setzen vermocht hätten, würden an diesem Volke das Mittel der Wiederherstellung haben entdecken können. Kennen wir nun ein solches, dem Stammvolke der neuen Welt ähnliches Volk, von welchem gleiche Erwartungen sich hoffen ließen? Ich denke, jeder, der nur nicht blos schwärmerisch meint und hofft, sondern gründlich untersuchend denkt, werde die Frage mit Nein beantworten müssen. Es ist also kein Ausweg: wenn Ihr versinkt, so versinkt die ganze Menschheit mit, ohne Hoffnung einer einstigen Wiederherstellung.“

So redete und eiferte Fichte ohne Menschenscheu und Furcht, wie die Propheten des alten Bundes, welche das Volk aus seiner sittlichen und politischen Erschlaffung durch die Gewalt des Wortes aufrüttelten.

Mitten in seinen Vorträgen mußte er oft inne halten, übertönt von dem Lärm und Gerassel, welches die Trommeln der vorbeiziehenden französischen Truppen verursachten; eine schmerzliche Mahnung an die fremde Herrschaft, aber zugleich eine Aufforderung[WS 1], dieselbe zu bekämpfen. Dann erfaßte wohl die Versammlung auf einen Augenblick noch bange Furcht für das Leben und die Freiheit des kühnen Redners, und die Erinnerung an den blutigen Schatten des ermordeten Palm schwebte durch den Saal; aber Fichte ließ sich dadurch nicht einschüchtern, die Trommeln der Sieger konnten seine Stimme übertönen, doch nicht unterdrücken. Von Spionen umringt, von Angebern belauscht, fuhr der berühmte Philosoph ruhig wieder fort, und weckte so durch sein Beispiel wie durch seine Rede das schlummernde Nationalgefühl der Deutschen. Die französischen Behörden schienen in der That mit Blindheit geschlagen zu sein; sie hinderten weder die von Fichte gehaltenen Vortrage, noch den späteren Druck derselben, der bis auf einige von der Censur beanstandete unwesentliche Stellen gestattet wurde.

Kaum zu schildern war die Wirkung dieser Reden; sie wurden von den Zuhörern mit Begeisterung aufgenommen, ihr Inhalt weit über den Kreis derselben hinaus verbreitet und so der spätere Name „Reden an die deutsche Nation“ vollkommen gerechtfertigt. Fichte wurde bewundert, angestaunt und manches Herz zitterte für den unerschrockenen Mann, dessen Freiheit und Leben an jedem seiner Worte wie an einem Faden hing. Solcher Muth, solches Vertrauen auf die den Deutschen innewohnende Kraft mußte nothwendiger Weise belebend, aufrichtend, tröstend wirken und Nacheiferung erwecken.

Wie Fichte auf dem Katheder, so sprach der berühmte Schleiermacher im gleichen Sinne und von ähnlich patriotischen Gefühlen geleitet, von der Kanzel herab. Er war nach der Schlacht bei Jena und in Folge der von Napoleon decretirten Auflösung der Universität Halle, wo er als Lehrer und Prediger sich eines großen Rufes schon erfreute, nach Berlin gekommen. Hier hielt er zunächst wissenschaftliche Vorlesungen, die allgemein ansprachen; weit wichtiger wurden jedoch seine Kanzelvorträge. In der Dreifaltigkeitskirche sah man, seit Schleiermacher daselbst predigte, ein Publicum, das dem gebildetsten Theile der Nation angehörte. Männer und Frauen der höchsten Stände lauschten seinen tiefsinnigen und begeisterten Worten, welche nicht nur den religiösen Sinn, sondern eben so sehr die Liebe zum Vaterlande und zur Freiheit wach riefen. Es war ein wunderbares Schauspiel, die früher leer gebliebene Kirche füllte sich nicht nur mit dem gläubigen Volke, sondern mit dem intelligenten, skeptischen, stets kritisirenden Theile der Bevölkerung, mit hochgestellten Beamten, geistreichen Frauen, mit den Notabilitäten der Wissenschaft. Auf der Kanzel erschien ein verwachsener Mann mit hohen Schultern, unansehnlich von Gestalt, aber mit einem geistigen Ausdruck in dem scharf geschnittenen Gesicht, das von langen, wallenden Haaren umgeben wurde. Das war der berühmte Schleiermacher; sein kluges Auge ließ er über die Versammlung schweifen, ein ihm eigenthümliches, geistiges Lächeln schwebte um die feinen Lippen und er begann jene Reden, welche sich durch Kühnheit der Gedanken, durch den Schwung ihres Vortrages auszeichneten, Predigten, wie man sie nie früher an solcher Stelle vernommen, wie man sie am wenigsten jetzt in Berlin hört, wo ein Schleiermacher kaum noch für einen Christen gilt. Hier entwickelte er vor einem solchen Auditorium, wie es ebenfalls kaum wieder gefunden werden dürfte, seine patriotischen Ideen, seine Hoffnungen auf eine bessere Zukunft und die Mittel, dieselbe herbeizuführen. Die Kanzel war für ihn kein bequemer Lehnstuhl, von dem ein schläfriger Prediger die Postille abliest, keine Richterbank, welche der geistliche Hochmuth zur Abstrafung armer Sünder benutzte; sie war für Schleiermacher die Werkstätte des lebendigen Denkens, der Heerd der Begeisterung für alles Große, Edle und Schöne. Wie einst Demosthenes in Athen gegen die Tyrannei eines Philipp von Macedonien und für die Freiheit sprach, so redete Schleiermacher in Berlin gegen Napoleon und für Erlösung Deutschlands von seinem Joche. Auch er war wie Fichte kein bloßer Gelehrter, sondern ein Mann der That. Als solcher stand er ebenfalls sowohl mit den Stiftern des Tugendbundes, wie mit all den Geistern in Verbindung, welche im Geheimen und auch offen für die Sache Deutschlands wirkten. Seine ausgesprochene Gesinnung hatte die Aufmerksamkeit des Generals Davoust auf sich gezogen, der ihn vor sich rufen ließ, und ihn in seiner barschen Weise mit Drohungen anfuhr. Zum Glück lagen gegen Schleiermacher damals keine positiven Beweise vor, so daß ihn Davoust ungekränkt entlassen mußte. Trotz der ihm zu Theil gewordenen Verwarnung hielt der berühmte Redner nach wie vor seine Kanzelvorträge in demselben Geiste wie früher, ohne sich von den Drohungen und Ermahnungen der französischen Gewalthaber einschüchtern zu lassen.

So kam allmählich das Jahr 1812 und der unglückliche Feldzug Napoleons nach Rußland. Der Abfall York’s fand einen allgemeinen Anklang und erregte die Gemüther auf’s Höchste. Die Saat, von Stein und seinen Gehülfen ausgestreut, von Fichte, Schleiermacher und ähnlichen Geistern gehegt, war aufgegangen, der Tag der Ernte war gekommen. Von Breslau erließ Friedrich Wilhelm der Dritte seinen Ausruf „an mein Volk.“ Es war das erste Mal, daß ein deutscher Fürst sich mit solchen Worten an die Nation wandte. Groß war der Augenblick und jeder Einzelne fühlte sich gehoben. Der Bauer verließ den Pflug, der Gelehrte seine Bücher, der Beamte seine Schreibstube, und folgte dem Rufe des Königs. Die Jugend eilte zu den Waffen und Knaben wurden über Nacht zu Männern, selbst Frauen blieben nicht zurück, verbargen ihr Geschlecht und traten in die Reihen der Kämpfenden. Mit Sang und Klang zogen die freiwilligen Jäger aus unter schmetternden Hörnertönen, in ihren Reihen der edle

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Auffordederung
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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 371. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_371.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)