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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Elasticität, die der freie Mensch nur selten erlangt. Der Gefangene hört das leiseste Geräusch, er gewöhnt sich im Finstern zu sehen; er erfindet eine eigene Zeichensprache, durch die er sich mit seinen Schicksalsgefährten unterhält, er denkt die verwegensten Pläne zu seiner Flucht aus, und erschrickt vor keiner Gefahr. Die furchtbarsten Schmerzen lernt er mit Leichtigkeit ertragen; seine Geduld und Ausdauer übersteigt alles Denken; die ekelhaftesten und grauenvollsten Wege halten ihn nicht ab, und selbst den Tod scheut er nicht, wenn es sich darum handelt, frei zu werden. Die Hingebung eines Märtyrers, der Muth eines Helden, der Scharfsinn eines großen Denkers wird weit öfter hinter Kerkermauern gefunden, und wer wissen will, zu welchen ungeheueren Anstrengungen und Opfern sich der Mensch zu erheben vermag, der braucht nur die Annalen der Criminalgeschichte zu durchlesen.

Doch ich kehre von diesen allgemeinen Betrachtungen zu der speciellen Anwendung zurück, indem ich die kleine Gallerie aus der Verbrecherwelt weiter vorzuführen gedenke. Unzufrieden mit meinem Bescheide und augenscheinlich niedergedrückt verschwand der angebliche Patient, um einem ehrwürdigen Greise mit grauen Haaren Platz zu machen. Mit Recht fragen wir uns verwundert bei seinem Anblick, wie dieses Patriarchenhaupt zu einer derartigen Umgebung und Gesellschaft paßt? Das Alter flößt uns unter allen Verhältnissen und selbst noch im Gefängnisse eine gewisse Achtung ein, wir sehen mit Ehrfurcht auf die silberweiße Locke und wollen oder können nicht an seine Schuld, oder gar an ein Verbrechen glauben; noch dazu, wo uns, wie hier, auch die äußeren Gesichtszüge nur Vertrauen einflößen. Höchstens dürfte der schlaue, seitwärts gerichtete Blick auffallen, womit das Auge in unbemerkten Momenten wie der Fuchs aus seiner Höhle hervorschielt, mit einer Mischung von Pfiffigkeit und Scheinheiligkeit. Dennoch haben wir es mit dem Nestor der Spitzbubenwelt zu thun, mit einem Manne, dessen Name unter den Verbrechern mit der größten Achtung genannt wird. Wir erblicken hier das Haupt einer zahlreichen Spitzbubenfamilie, deren Mitglieder die verschiedenen Zuchthäuser bevölkern helfen. Seine Lebensgeschichte besteht in einer fortlaufenden Kette von Diebstählen und Verbrechen aller Art: als Knabe von kaum zehn Jahren war er bereits ein gewandter und vielversprechender Taschendieb, als Jüngling und Mann ein gefürchteter Einbrecher und jetzt als Greis ein bekannter Diebshehler. In alle größere Untersuchungen finden wir seinen Namen verwickelt und mehr als zwei Dritttheile seines Lebens hat er im Gefängnisse zugebracht. Dieser alte Gauner ist doppelt durch seinen Einfluß und sein Beispiel gefährlich, da er für seine jüngeren Standesgenossen überall, wo er mit ihnen in Berührung kommt, förmlich den Lehrer spielt und ihnen Collegien liest über die beste Art, einen Einbruch zu vollführen, das gestohlene Gut zu verbergen und durch Leugnen, falsche Zeugen, Beweis des Alibi sich loszuschwindeln.

Für derartige Subjecte dürfte besonders die Einzelhaft in aller Strenge anzuempfehlen sein, um den Neuling auf der Verbrecherbahn vor Ansteckung zu hüten; sie sind die Pest der Zuchthäuser, und mancher Sträfling, der noch zu bessern ist, wird durch sie erst vollkommen ausgebildet. Bei einer stattgefundenen Haussuchung hat die Polizei einen bedeutenden Vorrath von gestohlenen Sachen in seiner Wohnung entdeckt, ein unterirdisches Gewölbe, das an kostbaren Gegenständen dreist mit dem ersten Magazin der Hauptstadt wetteifern konnte. Wahrscheinlich wird er diesmal sein Leben im Gefängnisse beschließen, da er bereits ein hoher Siebziger ist. Mit ihm zugleich ist der würdige Sohn dieses würdigen Vaters und sein Enkel eingezogen worden, ein hoffnungsvoller Knabe, dessen früh gereiftes Wesen den angehenden, gefährlichen Verbrecher verräth. Wir haben es hier mit einer ganzen Generation zu thun, in der das Laster sich von Geschlecht zu Geschlecht vererbt.

Von den Männern, deren Untersuchung jetzt beendet war, ging ich zu der Abtheilung der Frauen über. Unter diesen fiel mir zunächst ein junges, blühendes Mädchen auf mit rothen, frischen Wangen und blauen, treuherzigen Augen. Sie schien sich ihrer Lage zu schämen und hielt ein Tuch vor das Gesicht, um ihre Thränen oder vielmehr ihr Gesicht vor den Uebrigen zu verbergen. Unmöglich konnte das achtzehnjährige, so schuldlos aussehende Kind ein Verbrechen begangen haben. Auf mein Befragen erfuhr ich ihr Geschick. Liebe und Eifersucht hat sie in’s Gefängniß geführt. Sie war die Verlobte eines Tischlergesellen, der sie um ein anderes Frauenzimmer verlassen hatte. In einem Anfalle von Raserei lauerte sie dem Ungetreuen auf, als er unter ihrem Fenster vorüber ging, und goß eine Flasche mit Schwefelsäure über sein Gesicht. Die Folgen, welche sie wahrscheinlich nicht berechnet hatte, waren schrecklich, denn der Tischler verlor ein Auge, welches die brennende, ätzende Flüssigkeit sogleich zerfraß, außerdem trug er noch vielfache Verunstaltungen davon. Eine mehrjährige Zuchthausstrafe wird ihr Loos sein und sie kann sich glücklich schätzen, wenn sie eben so rein aus dem Gefängnisse kommt und sich auch dann noch die Scham bewahrt hat, die ihr jetzt zur Ehre gereicht. Einige freche Ladendiebinnen stehen daneben und lachen über die Zerknirschung der Aermsten; es sind schlechte Dirnen, welche selbst in diesem Augenblicke noch mit den männlichen Gefangenen kokettiren und wo möglich ein Verhältniß anzuknüpfen suchen, das sie nach ihrer Entlassung fortzusetzen gedenken. Selbst im Gefängnisse verleugnet sich nicht die weibliche Natur, und Liebeshändel aller Art gehören trotz der strengen Aufsicht und Sonderung der Geschlechter zu den gewöhnlichen Erscheinungen. Es ist übrigens wunderbar, mit welcher Treue und Aufopferung oft derartige Dirnen an dem Geliebten hängen; sie pflegen ihn, wenn er krank ist, besuchen ihn in der Gefangenschaft, wirken für seine Freilassung und Flucht mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln und verbergen ihn oft mit eigener Gefahr vor den Nachspürungen der Polizei. Mehr als ein heroisches Liebespaar ist mir gerade in der Verbrecherwelt aufgestoßen; ein Beweis, daß unter allen Verhältnissen das Herz und seine Gefühle gedeihen können.

Unter diesen Ladendiebinnen findet man wohl auch dann und wann Einzelne, die sich durch ihre elegante Toilette und feineres Benehmen auszeichnen, selbst Frauen und Mädchen den besseren Ständen angehörig zählen nicht gerade zu den Seltenheiten. Es ist dies ein ziemlich allgemein verbreitetes Verbrechen unter dem weiblichen Geschlecht, sogar Damen, die sich in den besten Verhältnissen befinden, machen sich oft kein Gewissen daraus, ein Stück Band, Spitzen oder Seidenstoff verschwinden zu lassen. Man sollte fast dabei an einen angeborenen Diebstrieb glauben, obwohl die verführerische Gelegenheit wohl das Meiste thut.

Aber wer ist jene schlanke, junonische Gestalt mit den edlen, bleichen, von Sorgen oder Krankheit angegriffenen Zügen, welche sich mir jetzt vorstellt? – Ihrem Aeußeren nach sollte man sie für eine Fürstin halten, welche sich zufällig in das Gefängniß und in solche Gesellschaft verirrt hat. Welches Verbrechen hat diese stolze Frau begangen, deren ganze Haltung mir unwillkürlich das größte Interesse einflößt? Die Gewohnheit, mit Verbrechern aller Art zu verkehren, hat mich noch nicht so abgestumpft, um nicht die innigste Theilnahme für diese trauernde Schönheit zu empfinden, aus deren dunkeln, großen und verweinten Augen mir ein tragisches Geschick entgegenleuchtete. Ihre Geschichte ist eben so kurz als erschütternd.

Marie N… ist die Tochter einer durch Unglück und mannigfache Schicksalsschläge heruntergekommenen, einst reichen und geachteten Familie. Sie hatte, so lange ihr Vater im Wohlstande lebte, bessere Tage gekannt und eine sorgfältige Erziehung genossen. Nach seinem Tode sah sich ihre Mutter genöthigt, durch Vermiethen von möblirten Wohnungen sich und die Ihrigen zu ernähren. Ein junger Baron, der sich bei ihr einquartierte, machte Marie’s Bekanntschaft, versprach ihr die Ehe und täuschte das leichtgläubige Herz des armen, unerfahrenen Mädchens. Sie wurde Mutter und verlangte nicht für sich, sondern nur für das Kind, das sie unter ihrem Herzen trug, die Erfüllung seines Versprechens und die Herstellung ihrer Ehre durch eine Heirath. Der gewissenlose Verführer wies sie unter dem Vorwande ab, daß nach den bestehenden Gesetzen die Ehe zwischen einem Adligen und einer Person aus dem niederen Bürger- oder Bauernstande nicht zulässig sei. Zu dem ersteren gehörte die Mutter Marie’s, da sie Zimmervermietherin war. Von Verzweiflung erfüllt und um ihre Schande vor der Welt und den Ihrigen zu verbergen, wurde sie zur Verbrecherin und tödtete ihr Kind. Sie verfuhr dabei mit einer Umsicht und einer seltenen Ruhe, so daß auch nicht der geringste Verdacht längere Zeit auf sie fiel. Durch einen Zufall wurde die That ruchbar und Marie eingezogen. In den späteren Verhören gestand sie offen ihr Verbrechen ein, ohne jedoch, trotz wiederholter Aufforderung, den Namen des Verführers zu nennen; dies war ihre einzige Rache. Ohne ihr Zuthun wurde derselbe später ermittelt und der Herr Baron spielte bei den öffentlichen Verhandlungen des interessanten Processes die ihm zukommende, erbärmliche Rolle. Richter, Geschworene und Publicum sahen

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