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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

zum Dieb und Mörder wird. Hier stehen wir an den Grenzen unserer Kunst, und wer irgend wie sich mit dem Gegenstande beschäftigt hat, der wird zu dem Resultate gewiß gelangt sein, daß nicht angeborene, physiologische Schädelbildungen und Organveränderungen, sondern äußere Verhältnisse, Jugendeindrücke, schlechtes Beispiel und Verführung die Hauptfactoren sind.

Wir kehren zu unseren Gefangenen zurück, mit deren Untersuchung ich beauftragt bin. Nebenbei werfe ich einen Blick auf die daneben liegende Liste, und wo dieselbe nicht genügenden Aufschluß gibt, erhalte ich denselben durch directe Fragen und den Bericht des Gefangenwärters. Zu meiner nicht geringen Überraschung entdeckte ich darunter einen alten Bekannten, mit dem ich als Knabe dieselbe Schule besucht hatte, obwohl wir später wenig oder gar nicht in Berührung kamen. Schon damals in seiner frühen Jugend zeigte S…k eine große Fertigkeit im Nachahmen fremder Handschriften; auch verrieth er kein gewöhnliches Zeichentalent, weshalb ihn seine nicht unbemittelten Eltern zum Kupferstecher bestimmten. Gerade seine Kunst, in der er eine gewisse Höhe erreicht hatte, sollte ihm zum Verderben ausschlagen. Durch eine leichtsinnige Heirath gerieth er in Schulden, da er bald eine zahlreiche Familie zu ernähren hatte. Die Noth stieg immer höher, zum Theil durch seine Schuld, indem er als ein leidenschaftlicher Kartenspieler seine oft nicht unbedeutenden Verdienste am Spieltisch wieder sitzen ließ. Hier machte er auch die Bekanntschaft eines bankerotten Kaufmanns, der sich an ihn hängte und nach und nach eine vollkomme Herrschaft über den mehr schwachen als verderbten Mann erhielt. Als seine Verzweiflung über wiederholte Verluste ihn keinen Ausweg erblicken ließ, alle Hülfsmittel erschöpft waren, die Seinigen zu verhungern drohten, benutzte der Versucher eine schwache Stunde, und beredete den leichtsinnigen und von Verlegenheiten aller Art gedrängten Kupferstecher zur Nachahmung ausländischer Cassenanweisuugen. Dieselben wurden von ihm so täuschend nachgemacht, daß eine geraume Zeit verging, ehe man sein Verbrechen entdeckte. Eben im Begriffe, mit seiner Familie und einer nicht unbedeutenden Summe, der Frucht seiner betrügerischen Arbeit, sich nach Amerika einzuschiffen, um dort ein neues Leben zu beginnen, wurde er von der Polizei ergriffen und in das Gefängniß abgeliefert, wo eine langjährige Zuchthausstrafe ihn erwartete. Ich erfuhr aus seinem eigenen Munde die Geschichte seiner Verführung, die allerdings von herzzerreißenden Umständen begleitet war, da ihn vorzugsweise die Noth der Seinigen und die Angst vor einigen unbezahlten Wechseln, welche sich in den Händen von unbarmherzigen Blutsaugern befanden, zum Verbrecher gemacht hatten. Nichts desto weniger war er schuldig, und der Richter durfte auf die allerdings hier vorhandenen mildernden Umstände kaum Rücksicht nehmen. Ergreifend war die Schilderung, welche er mir von seiner Lage entwarf, ehe er dem Versucher Gehör schenkte.

„Ich hatte buchstäblich,“ sagte er unter Thränen, „keinen Heller in der Tasche. Wir wohnten in einer elenden Dachkammer, und waren schon seit drei Tagen hungrig zu Bette gegangen. Am meisten jammerten mich die armen Kinder, die nach Brod schrieen, bis sie vor Erschöpfung umsanken und zu ihrem Glücke einschliefen. Ich sah mich um, ob es noch etwas zum Versetzen gebe, aber mein Handwerkszeug, selbst das letzte Hemde war bereits ins Leihhaus gewandert. Am andern Morgen sollte ich in das Schuldgefängniß wegen einiger unbezahlter Wechsel abgeholt werden, und um das Maß voll zu machen, hatte uns der Hauswirth mit der Exmission wegen rückständiger Miethe gedroht. Ich wollte mir das Leben nehmen, aber der Anblick meiner schlafenden Kinder hielt mich zurück. So saß ich dumpf brütend, als Ruhwald, so hieß der bankerotte Kaufmann, mich aufsuchte und mir den Vorschlag machte. Er kannte meine Noth und hatte nur so lange gewartet, bis ich weder aus noch ein wußte. Jetzt rückte er mit seinem höllischen Plan heraus und versprach mir unter der Bedingung, daß ich darauf einginge, zu helfen. Ich hätte unter solchen Umständen einen Pact mit dem Teufel selbst geschlossen, nur um meinen unschuldigen Kindern Brod zu verschaffen. Am nächsten Morgen schon saß ich bei der Arbeit, die ich mit Zittern bei verschlossenen Thüren fortsetzte. Ich wußte, daß ich ein Verbrechen beging, aber was sollte ich thun?“

Ich unterließ es, den Niedergedrückten durch wohlverdiente Vorwürfe noch mehr zu demüthigen, vielmehr suchte ich ihm Muth einzusprechen. Auch gelang es mir später durch meine Bemühungen, sein Loos einigermaßen zu erleichtern. Da er eine vorzüglich schöne Handschrift schrieb, so wurde er auf dem Bureau mit Abschreiben beschäftigt, und somit den gewöhnlichen schweren Handarbeiten überhoben. In seinen Mußestunden durfte er sogar seine Kunst betreiben, womit er, da er sehr geschickt und fleißig war, so viel verdiente, daß die Seinigen davon, wenn auch dürftig, leben konnten.

Im schroffsten Gegensatze zu diesem leichtsinnigen Verbrecher stand jener hartgesottene Bösewicht, welcher zunächst an die Reihe kam; eine gedrungene Gestalt mit einem kurzen, stierartigen Nacken, auf welchem ein großer struppiger Kopf saß. Das rothe gedunsene Gesicht zeigte eine widerliche Mischung von Frechheit und Bösartigkeit. Auf den ersten Anblick erkannte ich einen Habitus und alten Kunden aus der Verbrecherwelt. Er benahm sich wie Einer, der bereits im Gefängniß zu Hause ist. Ohne meine Aufforderung erst abzuwarten, zog er schnell den Rock aus, da die Untersuchung bei entblößtem Körper vorgenommen wird.

„Guten Morgen!“ rief mir der freche Mensch mit grinsendem Munde zu, wobei er eine Reihe von scharfen, spitzen Zähnen zeigte, die einem Wolfe anzugehören schienen. „Bin wieder einmal da, Herr Doctor!“

„Sind Sie gesund,“ forschte ich, ohne seine weitern Auslassungen zu beachten, „oder fehlt Ihnen etwas?“

„Freilich,“ antwortete er jetzt mit kläglicher Stimme, „bin ich krank, und deshalb wollte ich Sie bitten, mich sogleich auf die Krankenstube zu schicken.“

„Und worüber klagen Sie?“ fragte ich ihn scharf anblickend.

„Ich habe ein großes Armgeschwür, das mir schreckliche Schmerzen verursacht.“

In der That erblickte ich auch am linken Oberarme ein bedeutendes und stark entzündetes Geschwür, welches vielen und übel aussehenden Eiter absonderte. Bei dem Befühlen desselben verzog der Gefangene sein Gesicht auf das schmerzlichste, obgleich ich so sanft als möglich dabei verfuhr. Ich merkte sogleich seine Absicht, mich zu täuschen, und diese Meinung wurde noch mehr durch die eigenthümliche Form und das Aussehen des Geschwüres bestärkt. Bald zweifelte ich keinen Augenblick länger, daß dasselbe künstlich hervorgebracht sei, um damit mich irre zu führen und noch einen besonderen Nebenzweck zu verbinden. Zu diesem Behufe legen die Gefangenen häufig ein Stück brennenden Schwamm, den sie sich trotz aller Aufsicht zu verschaffen wissen, auf irgend einen Theil ihres Körpers, oder sie entfernen die Oberhaut durch Reiben mit einem rauhen Ziegelstück, das sie von der Wand abbrechen. Die so gebildete Wunde verstehen sie durch allerhand scharfe Flüssigkeiten, Salzwasser und im Nothfalle durch ihren eigenen Urin in ein Geschwür zu verwandeln, wodurch sich mancher unerfahrene Arzt täuschen läßt. Ihre Absicht dabei ist, nach der Krankenabtheilung versetzt zu werden, entweder blos deshalb, weil es dort mehr Freiheit, besseres Essen und schonendere Behandlung gibt, oder weil ihnen daran liegt, mit einem Mitschuldigen ungestört zu correspondiren, ihre Aussagen zu verabreden und gemeinschaftliche Pläne zu schmieden. Dies war auch hier der Fall; zum Glück durchschaute ich sogleich das fein ausgesonnene Stückchen und verhinderte die Ausführung durch meine bestimmte Erklärung, daß die ganze Krankheit eine künstlich gemachte sei. Es handelte sich hier, wie ich richtig vermuthete, um einen gefährlichen Einbruch mit bewaffneter Hand, wobei mein angeblicher Patient die Hauptrolle übernommen hatte.

Einer seiner Mitschuldigen lag im Krankensaal an einem wirklichen nicht unbedeutenden Leiden. Um mit diesem zusammenzukommen und denselben für den bevorstehenden Termin zu einer gleichlautenden Aussage zu veranlassen, hatte das besagte Individuum, ohne den sich selbst zugefügten Schmerz zu beachten, dies Geschwür an seinem Arme künstlich hervorgebracht. Ueberhaupt gehört das Simuliren von Krankheiten zu den gewöhnlichsten Erscheinungen im Gefängnißleben, und es ist wirklich erstaunlich, mit welcher Kenntniß der Symptome die Gefangenen dabei verfahren. Sie ahmen die verschiedensten äußeren und inneren Leiden täuschend nach, besonders Nervenkrankheiten, Krampfanfälle, und ich habe Exemplare der hinfallenden Sucht gesehen, welche durchaus der Wirklichkeit nichts nachgaben.

Man wird diese Erscheinung ganz natürlich finden, wenn man daran denkt, daß der größte Theil der Gefangenen von dem Augenblick ihrer Einsperrung an nur an ihre Befreiung denkt. All’ ihr Sinnen und Trachten ist auf diesen einzigen Punkt gerichtet, ihre ganze geistige Thätigkeit erhält dadurch eine Spannkraft und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 358. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_358.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2022)