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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

„Sie werden wohl thun,“ fuhr er dann fort, „Ihrer Sache nicht durch Heftigkeit zu schaden. Sie leugnen also, in der B… -Straße Nr. … gewesen zu sein?“

Der Angeredete wußte augenscheinlich nicht, was er sagen sollte; er starrte den Richter mit offenem Munde an, und brach dann nach Art trotziger Kinder in unmäßiges Weinen und Schluchzen aus. Er wisse von nichts, er habe auch nichts zu bekennen, man möge ihm nur gleich den Kopf abschlagen, das wäre das Beste für ihn, denn das sehe er wohl, man wolle ihm an’s Leben.

Dabei blieb er im Wesentlichen. Man versuchte gütiges Zureden, ernste Vorhaltungen, man ließ ihm eine Zeit lang Ruhe – aber es war nichts aus ihm heraus zu bekommen. War diese hartnäckige Verstocktheit die Folge eines unbändigen Naturells, oder das Resultat schlauer Ueberlegung – es stand fest, daß die Taktik, sich auf gar keine Erörterungen einzulassen, allen Fragen ein consequentes Leugnen oder verstocktes Schweigen entgegenzusetzen, dem Angeschuldigten für den Augenblick jedenfalls zu Statten kam.

Einem dieser Verhöre war ich veranlaßt worden, von einem Nebenzimmer aus beizuwohnen, um fest zu stellen, ob zwischen der Stimme des Angeklagten und der des jungen Mannes am Gewitterabende eine Aehnlichkeit herauszufinden sei. Ich vermochte indessen darüber nichts Positives zu bekunden.

Die in der Wohnung des Angeklagten vorgenommene Haussuchung war ohne Resultat für die Untersuchung geblieben. Die Waschfrau erklärte, daß der Angeklagte der Figur nach der nämliche Mensch sein könne, den sie in der Nacht vor dem Hause habe stehen sehen. Weitere Indicien waren nicht zu ermitteln gewesen, und der Staatsanwalt mußte sich, bei dem Mangel sonstiger Verdachtsgründe für eine Mitwirkung bei dem Tode des Kriegsraths, darauf beschränken, die Anklage wegen schweren Diebstahls gegen Ludwig *** zu erheben. Sonderbarer Weise verlangte der Angeklagte, durch mich vertheidigt zu werden, und ich nahm keinen Anstand, mit Genehmigung des Gerichts, seinem Verlangen zu willfahren. Wahrscheinlich war er zu der Wahl durch den günstigen Ausgang der Untersuchung eines Mitgefangenen veranlaßt worden, dessen Vertheidigung ich gleichfalls geführt hatte.

Ludwig *** war eben einundzwanzig Jahre alt geworden. Er war von schmächtigem Körperbau; seine an sich schon nicht blühende Gesichtsfarbe war durch die Kerkerhaft noch bleicher geworden. Die fein geschnittenen Züge des Gesichts trugen die Spuren frühzeitiger Ausschweifungen an sich, die Wangen waren eingefallen, die Augen blickten unstät aus tiefen, blaugeränderten Höhlen. Ich besuchte ihn im Gefängniß, um zu hören, was er zu seiner Vertheidigung noch anzuführen gedenke. Er schien einen Augenblick zu schwanken, ob er mir mit offenem Vertrauen entgegenkommen solle –, aber sein Mißtrauen siegte und er blieb verschlossen gegen mich, wie er es im Laufe der ganzen Untersuchung gewesen war. – Ob es wahrscheinlich sei, daß er verurtheilt werde? – fragte er mich. Ich mußte es ablehnen, darauf eine bestimmte Antwort zu geben, Dann fragte er nach der Höhe des Strafmaßes, welches bei Bejahung der Schuldfrage gegen ihn zur Anwendung käme. Ich antwortete: Zuchthaus von zwei bis zu zehn Jahren. Er zuckte zusammen, sagte aber nichts. Darauf beschränkte sich die ganze Unterredung; ich hatte nicht das Herz, ihn mit weiteren Fragen zu bedrängen, und verließ ihn mit dem Versprechen, für ihn zu thun, was in meinen Kräften stände.

Mr. Pirrie war bald nach der Verhaftung des Angeklagten durch dringende Briefe nach England gerufen worden. Er entschloß sich nur mit Widerstreben zur Rückreise, da er gern das Resultat der öffentlichen Verhandlung abgewartet hätte. Vor seiner Abreise hatte er noch häufige Conferenzen mit dem Staatsanwalt und dem Polizeibeamten.

Der Tag der öffentlichen und mündlichen Verhandlung war erschienen. Der Angeklagte hatte in den Kleidern auf der Anklagebank Platz genommen, in welchen er verhaftet worden war. Ein feines weißes Hemde stach sonderbar gegen die grobe Jacke ab; das Haar war sorgfältig gescheitelt, die gefaßte Haltung des jungen Menschen mit den feinen Gesichtszügen erschien beinahe vornehm, und machte einen günstigen Eindruck auf die Geschworenen.

Die Anklage hatte eine ziemlich schwere Stellung. Es lag subjektiv gegen den Angeklagten nichts vor, als der Besitz eines höchst wahrscheinlich entwendeten Geldstückes, seine Vermögenslosigkeit, die Wahrscheinlichkeit seiner Anwesenheit am Orte der That und einige andere Indicien von nicht erheblicherem Belange, wozu insbesondere das Ableugnen erwiesener Momente zu rechnen war.

Das Geschworenengericht war gebildet und die Verhandlung nahm ihren regelrechten Verlauf. Der Angeklagte bewahrte seine vollkommen ruhige Haltung. Als die vorgeladenen Belastungs-Zeugen aufgerufen wurden, um im Allgemeinen auf ihre Zeugenpflicht hingewiesen zu werden, bemerkte man das Fehlen des Majors. Die Bescheinigung über die erfolgte Vorladung befand sich ordnungsmäßig bei den Acten. Es mußte Wunder nehmen, daß ein an strenge Regelmäßigkeit gewöhnter Mann, ein alter Militair, seine Pflicht, als Zeuge vor Gericht zu erscheinen, so lässig sollte genommen haben, noch dazu in einer Sache, die seinen verstorbenen Freund betraf. Man stellte sofort Recherchen in seiner Wohnung an, fand aber nur einen alten Diener vor, welcher erklärte, sein Herr sei vor zwei Tagen verreist, und zwar, wie derselbe angegeben, auf längere Zeit. Im Laufe der Verhandlung ging von der Polizeibehörde die Anzeige ein, der Major habe vor etwa 8 Tagen um einen Auslandspaß – nach Frankreich und England – nachgesucht und erhalten.

Für alle Diejenigen, welche mit dem bisherigen Gange der Untersuchung vertraut waren, lag in diesem Zwischenfall ein neues Geheimniß, welches das ohnehin so verworrene Räthsel noch unlösbarer zu machen drohte. Diese plötzliche Abreise sah fast einer Flucht ähnlich, und doch deutete nicht das allergeringste Anzeichen darauf hin, daß der Zeuge irgend einen positiven Anlaß gehabt haben könne, seine Vernehmung zu scheuen.

Da der Major seine bereits abgegebene Aussage beeidet hatte, und es ungewiß schien, ob es überhaupt möglich sein würde, sein persönliches Erscheinen zu einem anderweit anzuberaumenden Termin zu bewerkstelligen, so beschloß das Gericht, mit der Verhandlung fortzufahren. Der Angeklagte schien sichtlich erleichtert. Er neigte sich von seinem etwas erhöhten Sitze über die schmale Balustrade zu mir herunter, und flüsterte nur in’s Ohr:

„Es ist unmöglich, daß ich verurtheilt werde – es liegt zu wenig gegen mich vor und ich bin noch niemals bestraft.“

In diesem Sinne ließ er sich auf die Anklage aus, welche die bereits hervorgehobenen Momente zu dem Schlüsse zusammenfaßte, daß der Angeklagte in der Todesnacht sich Eingang in die Wohnung des Kriegsraths zu verschaffen gewußt und die vermißten Sachen entwendet habe. Er leugnete Alles, bis auf den Besitz des Thalers, den er seit Jahr und Tag für den Fall der äußersten Noth aufbewahrt zu haben behauptete. Wer sollte es glauben –? Dieser unscheinbare junge Mensch in der groben Arbeiterjacke drückte sich mit einer Eleganz aus, welche allgemeine Verwunderung erregte. Noch mehr, es lag in seinem Tone etwas von so trauriger Resignation, daß man unwillkürlich Interesse und Mitleiden mit ihm fühlte. Er schien den günstigen Eindruck zu bemerken, den er hervorgebracht hatte, und sein Wesen gewann an Zuversicht.

Das Zeugenverhör war im Wesenlichen nur eine Recapitulation des Resultates, welches die Voruntersuchung ergeben hatte. Am meisten fiel die Aussage des Polizeibeamten in’s Gewicht, welcher den Angeklagten verhaftet hatte. Das heftige Erschrecken desselben, die langandauernde Gemüthsbewegung mußte nothwendig als der Ausdruck des Schuldbewußtseins gedeutet werden. Der Angeklagte erklärte, er habe bei der ersten barschen Anrede des Beamten, der ihm einen Diebstahl auf den Kopf zugesagt, alles klare Bewußtsein verloren; und er konnte immerhin hoffen, für diesen Erklärungsgrund Glauben zu finden.

Die Beweisesaufnahme war, bis auf die Vernehmung des Victualienhändlers, geschlossen. Derselbe bekundete das Nämliche, was er bereits vor dem Polizeibeamten ausgesagt hatte. Nachdem der Angeklagte die Verausgabung des „Sterbethalers“ einmal eingeräumt hatte, war auch die Bezüchtigung dieses Zeugen nicht mehr von besonderem Gewicht, denn es stand immer nicht absolut fest, daß dieser Thaler wirklich mit dem im Besitze des Kriegsraths gewesenen identisch sei. Selbst der Major hatte bei seiner in der Voruntersuchung bewirkten Vernehmung rücksichtlich dieses Punktes nur einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, keine Gewißheit zu behaupten vermocht. Das Zeugenverhör war geschlossen. Der Angeklagte athmete erleichtert auf.

(Schluß folgt.)



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