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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

sind verteufelt unschuldig in solchen Dingen, wenn Sie einen Augenblick daran zweifeln, daß sich vor Ablauf der Frist, und sei es eine Stunde vorher, der wohllegitimirte Erbe einstellen wird, um seine viertausend Pfund in guten blanken Sovereigns zu erheben. Doch – was sind das für Tritte – ?“

Wir horchten, vernahmen aber nichts.

Der Polizei-Beamte nahm das Wort: „Was glauben Sie, daß in der Sache noch gethan werden kann? Denn ich muß bekennen, daß ich ziemlich rathlos bin.“

„Die Sache ist die,“ begann Mr. Pirrie, „daß ich von vornherein gegen den Abschluß dieser Versicherung gewesen, aber im Verwaltungscomité überstimmt worden bin. Nun steht die Angelegenheit ganz einfach so, daß wir entweder beweisen müssen, der Versicherte habe durch Selbstmord seinen Tod gefunden, oder daß wir zahlen müssen. Der Fall, daß der Verstorbene durch gewaltsamen Tod von der Hand Anderer – ohne sein Verschulden – um’s Leben gekommen, ist für die Gesellschaft gleichgültig, wenn nicht erwiesen wird, daß der oder die Mörder identisch mit denjenigen Personen sind, an welche die Versicherungssumme zu zahlen ist. Daran ist nicht zu denken; man läßt sich nicht freiwillig von den nämlichen Personen den Hals umdrehen, denen man eine große Summe Geldes für einen solchen Liebesdienst zuwendet. Auch ist es noch nicht vorgekommen, daß alsdann ein solches Geschäft so glatt abläuft, wie es hier der Fall ist. Ich wiederhole es: die Sache ist viel zu glatt, um in Ordnung zu sein. Der Verstorbene besaß durchaus nicht die Mittel, die Police auf die Dauer zu entrichten. Sie haben mir selbst gesagt, wie gering der Werth seines ganzen Nachlasses ist. Wir haben es mit einem verdammt schlauen Burschen zu thun. Er hat seinen Plan lange vorbereitet, Alles auf’s Feinste durchdacht – aber dabei eben fassen wir ihn: er hat die Sache allzu fein präparirt. Man stirbt nicht von Ungefähr so parademäßig, wenngleich ich weiß, wie weit der Tic des ehemaligen Officiers gehen kann. Und damit ich Ihnen rundweg meine Meinung sage, mit was für einem Falle wir es hier zu thun haben: wir haben hier den Fall eines Selbstmordes mit Beihülfe einer anderen Person, welche entweder dazu gedient hat, den Selbstmord auszuführen, oder die Spuren desselben zu beseitigen.“

Der Polizeibeamte hatte mit achtungsvoller Aufmerksamkeit zugehört.

„Ich habe mir alle erdenkliche Mühe gegeben, die Spuren dieser Person zu ermitteln,“ begann er, „aber alle Nachforschungen sind fruchtlos gewesen, und ich verzweifle fast an der Möglichkeit –“

„Man muß an Nichts verzweifeln,“ fiel der Engländer ein, „haben Sie alle Hausbewohner vernommen?“

„Alle.“

„Wer wohnt hier oben, in der Dachwohnung?“

„Eine arme, unbescholtene Arbeiterfrau, die sich durch Waschen ernährt.“

„Ist diese auch vernommen?“

„Diese nicht. Sie liegt schon seit längerer Zeit in einer öffentlichen Heilanstalt.“

„Seit wann?“

„Seit dem Tage vor dem Todesfalle.“

„Und sie ist jetzt noch dort?“

„Ja.“

„Wissen Sie das bestimmt?“

„Gewiß.“

„Aber sie ist zu Hause –“

Der Polizeibeamte sah den Anwalt fragend an.

„Sie ist oben,“ fuhr dieser unbeirrt fort, „ich höre sie.“

„Das wäre seltsam!“ sprach der Beamte verwundert.

Wir horchten alle mit gespannter Aufmerksamkeit, vernahmen aber nicht das mindeste Geräusch.

„Verlieren wir nicht unnütz die Zeit,“ sagte Mr. Pirrie, „es ist Jemand oben in der Wohnung – entweder diese Frau, oder eine andere. Ueberzeugen Sie sich, und lassen Sie uns die alte Frau hier sehen.“

Der Polizeibeamte, entfernte sich, durch den bestimmten Ton des Engländers irre gemacht, und begab sich in die Dachwohnung. Wir harrten in schweigender Spannung; – nach wenigen Minuten trat er wirklich mit einer bejahrten, ärmlich gekleideten Frau in’s Zimmer, welche die Spuren einer kaum überstandenen schweren Krankheit an sich trug.

„Sie hatten Recht,“ sagte der Beamte überrascht, „sie ist heute Mittag aus der Kranken-Anstalt entlassen worden – die Meldung war bei mir noch nicht erfolgt.“

Mein Freund betrachtete die alte Frau aufmerksam und nöthigte sie, sich zu setzen. „Suchen Sie ganz genau festzustellen, seit wann sie ihre Wohnung verlassen hat,“ sprach er leise zum Beamten.

„Können Sie uns ganz genau sagen,“ begann dieser, „wann Sie zuletzt in Ihrer Wohnung waren, ehe Sie in’s Krankenhaus kamen?“

„Zuletzt war ich in meiner Wohnung in der nämlichen Nacht, in der der Herr hier – (sie wies in die Ecke, wo das Feldbett stand) – gestorben ist.“

Die alte Frau hatte das mit vollkommenster Harmlosigkeit ausgesprochen, ohne zu ahnen, wie überraschend diese Neuigkeit auf uns Alle wirken mußte. Der Polizeibeamte wurde roth vor Erstaunen; der Agent rieb sich aufgeregt die Hände, – Mr. Pirrie nickte nur ein paar Mal mit dem Kopfe.

Die Sache hing einfach genug zusammen. Das arme Weib gehörte zu jener beklagenswerthen Classe weiblicher Proletarier, welche ihren Lebensunterhalt als Wäscherinnen erwerben. Dieselben sind genöthigt, mitunter eine ganze Reihe von Nächten hintereinander am Waschtroge zu stehen, um einen Arbeitslohn zu gewinnen, welcher an sich noch immer kümmerlich genug, jedenfalls aber im Verhältniß zu anderen Beschäftigungen für erheblich gilt.

Die Waschfrau aus dem Hause des Kriegsrathes ernährte sich auf diese Weise, und da sie die meisten Nächte außerhalb des Hauses zubrachte, so waren die Hausgenossen gewöhnt, sie in der Regel als abwesend zu betrachten. Am Abend vor dem Tode des Kriegsraths war sie gegen zehn Uhr von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte sich schlafen gelegt, da sie am andern Morgen um zwei Uhr wieder bei der Wäsche sein mußte. Sie war bereits zwei Tage fort gewesen, Niemand hatte sie zurückkehren sehen, und so glaubte man, als man in der Frühe des nächsten Morgens ihre Wohnung verschlossen fand, sie sei noch auf ihrer letzten Arbeitsstelle. – So gut sollte es aber der Aermsten nicht ergehen. Wie sie erzählte, war sie fest eingeschlafen und in Folge der Anstrengung des vorhergehenden Tages erst gegen drei Uhr des Morgens wieder erwacht. Eilig habe sie sich angekleidet und zu der neuen Arbeit auf den Weg begeben. Unterweges sei sie von heftigen Brustkrämpfen befallen worden und außer Stande gewesen, an die Arbeit zu gehen, so daß sie durch mitleidige Vorübergehende nach der Polizeiwache getragen und von dort nach der Krankenanstalt befördert worden sei. Von dort habe man sie heute entlassen.

„Und woher wissen Sie, daß der Kriegsrath in derselben Nacht gestorben ist, in der Sie das Haus verließen?“ fragte sie der Polizeibeamte.

„Die Wärterin des Krankenhauses von meiner Station ist mit dem Dienstmädchen der Herrschaft in der ersten Etage bekannt; sie hatte es von dieser erfahren, und erzählte es mir. Ich war ordentlich erschrocken darüber und erinnerte mich gleich daran, was mir aufgefallen war, als ich das Haus verließ.“

Der Polizeibeamte hatte seine Ruhe vollkommen wieder gewonnen, und verrieth durch keine Miene, welches Interesse die Mittheilung der Waschfrau in uns erregte.

„Erzählen Sie doch!“ sprach er im gleichgültigen Tone.

Und die alte Frau erzählte. Als sie gegen drei Uhr des Morgens das Haus verlassen gewollt, sei es ihr vorgekommen, als ginge Jemand über den Hausflur und als würde die Hausthür zugeklinkt. Sie habe denn auch wirklich gefunden, daß die Hausthür nicht zugeschlossen gewesen sei, und als sie auf die Straße hinausgetreten, habe sie in der Mitte des Straßendammes einen Menschen stehen sehen, der nach den Fenstern des Hauses hinauf blickte. Wie der Mensch ihrer ansichtig geworden, habe er sich – erst langsam, dann in schnellerem Schritt – entfernt, und sei ihr aus dem Gesicht gekommen. Ob dieser Mensch im Hause gewesen, wisse sie nicht, wiedererkennen würde sie ihn schwerlich, da sie seine Gesichtszüge wegen der Dunkelheit nicht zu unterscheiden vermocht; wohl aber sei ihr seine Gestalt erinnerlich. Dem Anscheine nach wäre es ein junger, dem Arbeiterstande angehörender Mensch gewesen; darauf habe wenigstens seine Bekleidung: Mütze und Arbeitsjacke von dunklem Stoffe, hingedeutet.

Somit war in der Aussage der alten Wäscherin ein neuer Bestärkungsgrund für die Vermuthung gewonnen, daß in der Todesnacht eine fremde Person in der Wohnung des Kriegsrathes gewesen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 338. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_338.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)