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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Tölpel mit Hülfe einer Flügelspitze in die richtige Bahn zu schieben. Versieht er sich nach wiederholter Zurechtweisung dennoch, so geht es nicht mehr so glimpflich ab, es setzt dann wohl zur Strafe einen Klapps mit dem Flügel, und wie stark ein solcher ausfallen kann, werden wir später sehen. In dieser Weise führen sie ihr Familienleben fort, fast bis zur Abreise. Während der Sammelzeit lockern sich die verwandtschaftlichen Bande und lösen sich mit dem Aufbruch ganz, indem nun das ehelose Völkchen nach einem Gatten sich umschaut, mit dem es im neuen Vaterlande eine eigene Familie begründe.

Auf diesen Wanderzügen, die gleichzeitig für die Jungen Reisen auf Freiersflügeln sind, mag es nicht selten treffen, daß ein junges, von der Natur besonders ausgestattetes Storchenfräulein, etwa durch seine strahlenden Augen, mit denen es der jungen Männerwelt herausfordernde Blicke zuwirft, durch seinen schneeigen Busen und seine zart gefesselten, hochroth gezeichneten Beine das Herz von mehr als einem wackern Jüngling sich erobert. Wenigstens haben wir einen solchen Fall und sein tragisches Ende zu beobachten Gelegenheit gehabt.

Wir hatten auf zwei Scheunen drei fest gebaute und wohl angelegte Storchnester, die alljährlich von ihren alten oder neuen Insassen ohne Streit mit fremden Eindringlingen bezogen wurden. Wie in dem vorhergehenden Jahre, so wiederholte sich in jedem neuen dieselbe Scene: an einem heiteren Aprilmorgen richteten sich unsere Blicke, wie schon Tage lang vorher, nach den Scheunendächern und freudig rief eins dem andern zu: die Störche sind da.

Im Frühling vor mehreren Jahren trat aber die längst erwartete Ankunft unserer lieben Sommergäste unter einem ganz ungewöhnlichen, neuen Bilde auf. Zum ersten Male trafen am Morgen nach ihrer nächtlichen Ankunft unsere Augen sie nicht in dem Neste, sondern erblickten sie hoch oben über unseren Häuptern kreisend. Ungewöhnlicher Weise waren es statt der gewöhnlichen sechs an Zahl sieben. Ließen sie sich nieder, so geschah es, um an den ihnen bekannten Sumpfstellen die nöthige Nahrung zu suchen. Vergebens erwarteten wir ihren Einzug in die Nester, sie kamen dem Hofe nicht nahe. Da wir am ersten Tage außer der ungleichen Anzahl und der scheuen Entfernung von ihren alten Nestern nichts Auffallendes an ihnen gewahr wurden, so suchten wir den Grund des gestörten Einzuges der Störche nicht bei ihnen, sondern bei uns. Doch war weder an den Gebäuden noch auf dem Hofe irgend eine Veränderung eingetreten, die ihnen unbekannt gewesen wäre, die sie ängstigend von uns hätte verscheuchen können.

Dasselbe Federvieh lief gackernd und schnatternd auf dem Hofe umher, dieselben Pferde und Kühe, Schafe und Schweine gingen aus den Ställen heraus und wieder hinein, weideten auf denselben Weideplätzen und wälzten sich in demselben Kothe. Selbst der Kettenhund war noch derselbe, und lag noch auf dem gleichen Flecke, wo er im vergangenen Jahre gelegen hatte. Es blieb nichts Anderes übrig, als die Nester in Augenschein zu nehmen, ob da eine die Störche störende Aenderung vor sich gegangen sei. Ein wagehalsiger Hirtenjunge ward hinaufbeordert, jedes Nest genau zu untersuchen und jede etwa eingetretene Unordnung zu entfernen. Er kletterte von einem Nest zum andern und kam mit der Meldung zurück, er habe alles in Ordnung gefunden. Die in jedem Jahre wiederkehrenden Winterschäden werden, wenn sie nicht gänzliche Zerstörung im Gefolge haben, von den Vögeln selbst ausgebessert; so hatten wir also das Unsrige gethan und mußten den Langbeinen selbst es überlassen, das Räthsel zu lösen.

Der Abend war angebrochen, die Störche hatten schon längst das Schwimmen im Aethermeere aufgegeben, sie waren zur Erde zurückgekehrt und ruheten – wo? das wußten wir freilich nicht, ihre Wohnungen auf unsern Dächern waren leer.

Dasselbe Schauspiel vom vorigen Tage wiederholte sich am folgenden. Ehe sie sich jedoch heute zu ihrem Mittagsschmauße begaben, senkten sie sich nach unten und diesmal, zwar nicht in die Nester, doch neben dieselben auf die Dächer. Sie waren im höchsten Grade unruhig, sie flogen herüber und hinüber, bald standen diese, bald jene neben einander. Da marschirten plötzlich zwei im Schnellschritt auf einander los, spreizten die Flügel aus und fingen an sich gegenseitig mit Schlägen zu tractiren, daß es eine Art hatte. Nach manchem herzhaften auf beiden Seiten gefallenen Schlage flog plötzlich die ganze Gesellschaft wieder auf und davon und kreiste so ruhig, als ob der Friede weder vorher noch jetzt auch nur im mindesten eine Störung erlitten hätte. Abermals ließen sie sich auf die Dächer herab, und wiederum klatschte sich ein Paar, wahrscheinlich dasselbe von vorhin. Bisweilen versuchte ein Dritter sich hinein zu mengen, doch da er von den Kämpfern nicht weiter beachtet wurde, zog er sich alsbald wieder zurück. Eine öftere Wiederholung dieser Scenen, die Übrigens zu keinem Resultat geführt zu haben schienen, wurde durch das materielle Bedürfniß des Hungers unterbrochen. Um dasselbe zu befriedigen, zerstreuten sie sich nach verschiedenen Seiten hin.

In den Nachmittagsstunden, nachdem sie sich wieder zusammengefunden hatten, begann von neuem das Kampfspiel vom Vormittag, das uns, die wir seine ernste Bedeutung nicht kannten und ahnten, nicht wenig ergötzt hatte. Es war aber inzwischen ein gemeinsamer Rath abgehalten und ein entscheidender Beschluß gefaßt worden (so mußte es uns wenigstens vorkommen): kaum war der ganze Kreis einige Minuten von den Dächern entfernt gewesen, so kehrte er wieder zurück und während zwei von ihnen auf der einen Scheune Fuß faßten, nahmen die andern fünf auf der gegenüberstehenden Platz. Ohne Zaudern gingen jene mit einer solchen Heftigkeit auf einander los, daß man wohl sah, wie hier ein Kampf, auf Tod und Leben ausgefochten werden sollte. Gewiß eine Viertelstunde lang fiel Schlag auf Schlag, ohne daß einer auch nur einen einzigen Schritt zurückgewichen wäre. Zwar erhoben sie sich mehrmals ein klein wenig und flogen in ganz kurzem Bogen etwas zurück, doch geschah dies nicht aus Kampfesfurcht, oder um zu capituliren und den Streit in friedlicher Weise zu lösen, sondern aus steigendem Kampfesmuth –

Es galt ja das Liebste,
Die Braut, zu erwerben
Im blutigen Strauß.

Mit unbeschreiblichem Ingrimme und wachsender Wuth stürmten sie von neuem gegen einander, da klatscht es noch einmal schallend nieder und schwer getroffen rollte der eine das Dach herab in den Hof.

Schnell nahm das zuschauende Storchpublicum – oder war es vielleicht das schiedsrichterliche Tribunal? – den siegreichen Helden in seine Mitte und führte ihn mit sich fort hoch in die Lüfte, wo sie als kleine, unscheinbare Punkte das Siegesfest feiern mochten. Von diesem Augenblick an kehrte Ruhe und Frieden in unsere Storchcolonie zurück, denn nicht lange nachher senkten sie sich langsam und weite Kreise beschreibend nieder und bezogen je ein Paar die bis dahin unbenutzten Nester. Den gefallenen Kämpfer aber nahmen wir, das dem Trauerspiel beiwohnende Parterre-Publicum, in Empfang, leider ohne alle Aussicht, ihn, selbst durch ärztliche Hülfe, ins Leben zurückzurufen. Wahrscheinlich hatte der entscheidende Schlag sein Herz getroffen.

Keine Wunde, kein Tröpfchen Blut war zu sehen, aber regungslos war er vom Dache auf den Boden niedergefallen und leblos scharrten wir am Abend, durch ein Grab im Garten den tapfern Kämpen ehrend, ihn in die Erde ein. Sein Gegner, befreit von dem verhaßten Nebenbuhler, führte das schwer errungene Liebchen heim, und dieses, stolz auf den Heldengatten, nährte und erzog mit ihm die junge Brut nach Storchenart.

Einen ähnlichen Ausgang nahm ein Liebeshandel anderer Art, der uns gleichzeitig den Beweis liefert, wie theuer dem Storch die Gattenehre gilt, deren Verletzung er nicht ungerächt läßt. Ganz in unserer Nähe nistete ein Paar auf dem abgestutzten Gipfel eines Pappelbaumes. Es war ein wunderschöner Vormittag, als die Störchin allein im Neste stand und durch unaufhörliches Klappern unsere Aufmerksamkeit auf sich zog. Dabei war das Tempo ihrer Rufe nicht gleichmäßig: bald schien sie durch schnelles Zusammenschlagen des Schnabels über das lange Außenbleiben des Gatten zu zanken, bald wieder, als ob sie mit Liebesworten ihn lockte.

Das hatte auch ein Storch gehört, der – wir wollen es zu seiner Ehre annehmen – entweder als Wittwer vereinsamt war oder durch die Verhältnisse gezwungen im Cölibat leben mußte. Der mochte meinen, ob mit Recht oder Unrecht können wir freilich nicht entscheiden, jene Liebesrufe gälten ihm. So hatte er sich denn aufgemacht und nahm, wie in seinem eigenen Hause, neben der Hausfrau Platz.

Diese empfing ihn allerdings nicht in der Weise, wie die Störche bei ihrer Heimkehr sich zu empfangen pflegen. Sie klapperte ihm nicht freudig entgegen, schmiegte sich nicht ihre Liebe bezeigend an seine Brust an, noch weniger liebkoste sie ihn mit ihrem Schnabel am Halse, wie es so die Art eines Storchenpaares ist.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 333. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_333.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)