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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

worden war. Dazu kamen einige Fälle ganz eklatanter Unredlichkeit und Betruges, deren Entdeckung der Gesellschaft nur mit großer Mühe gelungen war, so daß sie nur auf diese Weise sich vor namhaftem Schaden zu bewahren vermocht hatte. Alle diese Umstände wirkten zusammen, um die Gesellschaft bei Abschließung neuer Versicherungsverträge im Auslande noch vorsichtiger zu machen, insbesondere niemals Policen zu bedeutenden Beträgen ohne genaue Kenntniß aller Verhältnisse der Versicherten zu geben.

Mein Freund ersuchte mich deshalb, mir über die Verhältnisse des Kriegsraths von P., namentlich über seine Lebensweise, seine Vermögens- und Familienverhältnisse, auf geeignet scheinende Weise Auskunft zu verschaffen und ihm das Erfahrene schleunigst mitzutheilen.

Ich beeilte mich, dem Vertrauen meines Freundes zu entsprechen, und setzte mich zu diesem Behufe mit dem Polizeicommissarius des Reviers, in welchem Herr von P. wohnte, in Verbindung. Denn was ich persönlich von dem Kriegsrath wußte, war sehr wenig. Ich erinnerte mich, ihn hin und wieder an einem öffentlichen Orte Schach spielen gesehen zu haben. Er hatte die Haltung und das Benehmen eines ehemaligen Militairs, trug sich mit der äußersten Sauberkeit, wenn auch nicht elegant, und zeigte eine gewisse Zurückhaltung in seinem Wesen, die eine Annäherung nicht leicht möglich machte. Sein Aussehen war das eines stattlichen Vierzigers; von mittlerer Statur; die Gesichtsfarbe war nicht eben blühend, aber das volle, dunkle Haupthaar und eine Reihe schöner Zähne deuteten auf rüstige Gesundheit.

Dem Polizeicommissar theilte ich den Anlaß meiner Erkundigung mit; er besaß Tact und Erfahrung und versprach mir, sich aus den ihm zugänglichen Quellen zu informiren, und mich von dem Resultat der angestellten Ermittelungen baldigst in Kenntniß zu setzen.

Folgendes theilte er mir kurz darauf als das Ergebniß seiner Erkundigungen mit:

Herr von P. war Officier gewesen und hatte längere Zeit in Luxemburg und Mainz in Garnison gestanden. Als Premier-Lieutenant nahm er seinen Abschied, verheirathete sich mit der Tochter eines höheren Beamten der Militair-Verwaltung, und trat selbst durch Verwendung seines Schwiegervaters in eine ansehnliche Stellung bei der Intendantur des nämlichen Armeecorps ein, welchem er bis dahin angehört hatte. Er avancirte rasch und wurde vor etwa 8 Jahren nach der Hauptstadt versetzt. Vor einigen Jahren hatte er seine Entlassung nachgesucht, welche ihm unter Gewährung einer anständigen Pension bewilligt wurde. Von seiner Frau lebte er, aus nicht bekannt gewordenen Gründen, seit einer Reihe von Jahren getrennt. Sie wohnte vor einem der östlich gelegenen Thore, während er selbst die zweite Etage eines kleinen, zweistöckigen Hauses in der B…-Straße inne hatte[1]. Die Ehe war kinderlos. Der Kriegsrath führte einen einfachen, anständigen Haushalt, hielt keinen Diener, sondern nur eine in dem Nachbarhause wohnende Aufwärterin und speiste in einem Gasthofe, in welchem vorzugsweise ehemalige Militairs und pensionirte Beamte zu verkehren pflegten. Seine Lebensweise war äußerst regelmäßig und solide. Außer einigen älteren Beamten sah er niemals Gesellschaft bei sich. Er hatte nur zwei, und zwar sehr unverfängliche Passionen: das Schachspiel und den Gebrauch des kalten Wassers. Seine Zeit theilte er zwischen mathematischen Studien, ausgedehnten Spaziergängen und dem Schachspiel. Was seine Vermögensverhältnisse betraf, so konnte nur vermuthet werden, daß er außer seiner Pension noch eigenthümliches Vermögen besitzen mußte, denn die Pension allein würde nicht hingereicht haben, die getrennten Wirthschaften der beiden Eheleute auf so anständigem Fuße zu erhalten.

Diese Auskunft lautete befriedigend genug, und ich säumte nicht, sie meinem Freunde mit allen Details, so wie mit den geringen persönlichen Wahrnehmungen, die ich selbst zu machen Gelegenheit gehabt, mitzutheilen.

Wider Erwarten erklärte die Londoner Gesellschaftsdirection damit ihre Bedenken noch nicht für vollkommen erledigt. Der am Orte wohnhafte Agent, welcher erst vor Kurzem die Geschäfte übernommen hatte, setzte sich mit mir in Verbindung und theilte mir den Wunsch der Direction mit, noch einige nähere Aufschlüsse über die Familienverhältnisse des Kriegsraths zu erhalten, namentlich über sein Verhältniß zu denjenigen Personen, welche als seine präsumtiven Erben zunächst bei der Versicherungsnahme betheiligt sein möchten. Ich gab dem Agenten den Rath, sich deshalb direct und mit aller Offenheit an den Kriegsrath selbst zu wenden. Er befolgte meinen Rath und erhielt von dem Kriegsrath die Auskunft, daß er keine erbberechtigten Verwandten außer seiner Frau besitze, daß er sich mit derselben bereits wegen ihrer künftigen Erbansprüche vollständig abgefunden habe, und die Versicherungssumme nach seinem Tode an andere Personen zu zahlen sein würde, welche er in einem bereits errichteten Testamente namhaft gemacht habe. Das Benehmen des Herrn von P. machte auf den erfahrenen Agenten in einem solchen Maße den Eindruck der Ehrenhaftigkeit und schlichten Gradheit, daß er selbst die Direction über alle etwa noch vorhandenen Bedenken beruhigte, und nachdem der für die Geschäfte der Gesellschäft speciell angestellte Arzt den Versicherungsnehmer auf das Sorgfältigste untersucht und den Gesundheitszustand desselben vollkommen zufriedenstellend gefunden hatte, wurde die Versicherung schließlich zum Betrage von 4000 Pfund (etwa 26,000 Thlr.) abgeschlossen. Bei Einhändigung der Police zahlte Herr von P. gleichzeitig den ersten Jahresbetrag der Prämie mit nahe an 2000 Thlr.

Es war natürlich, daß seit dieser Zeit die Person des Kriegsraths an Interesse für mich gewann. Der Frühling hatte begonnen, und ein bekanntes Etablissement vor einem der westlich gelegenen Thore bildete, wie immer vom Beginn der wärmeren Jahreszeit an, den Sammelplatz eines gebildeten Publicums, welches Nachmittags im Freien bei einer Partie Domino oder Schach seinen Kaffee trank. Dort sah ich den Kriegsrath häufig, in immer gleicher, gemessener Haltung mit einem ältern Herrn, dessen Habitus und Ordensband im Knopfloch den gewesenen Militair verrieth, seine Partie Schach ziehen, ohne daß ich näher mit ihm bekannt wurde. Er schien überhaupt niemals von seiner Umgebung Notiz zu nehmen, auch sah ich ihn niemals im Gespräch mit anderen Personen. Nichtsdestoweniger machte er auf mich den Eindruck, als wäre es nicht die Schachpartie allein, die ihn beschäftigte, denn wenn er, zwar ohne Hast, aber doch mit einer gewissen ruhigen Bestimmtheit gezogen hatte, so stützte er das Haupt in die Hand und wartete, ohne jemals eine Spur von Ungeduld zu verrathen, bis sein zaudernder Partner sich zu einem Zuge resolvirt hatte. In der Zwischenzeit schien er mir in Gedanken versunken, welche nicht die Partie allein zum Gegenstande haben konnten.

Mehrere Wochen lang war ich durch überhäufte Geschäfte abgehalten gewesen, meinen gewöhnlichen Nachmittagsspaziergang zu machen, und hatte während dieser Zeit den Kriegsrath nicht gesehen. Als ich zum ersten Male wieder nach …hof hinauskam, suchte ich unwillkürlich zunächst meinen alten Bekannten zu entdecken. Ich fand ihn nicht an dem gewohnten Platze. Auch am nächsten Tage war er nicht erschienen. Ohne ein näheres Interesse an dem Manne zu haben, war ich an sein regelmäßiges Erscheinen doch so gewöhnt, daß mir seine Abwesenheit auffiel. Zufällig begegnete ich am Abend desselben Tages dem Agenten und fragte ihn, ob der Kriegsrath vielleicht verreist, oder krank sei, da ich ihn nicht mehr auf seinem gewohnten Nachmittagsspaziergange sähe.

„Keins von Beiden,“ antwortete er mir, „ich war erst gestern bei ihm und habe eine Partie Schach mit ihm gezogen, wozu er mich schon längst eingeladen hatte.“

Am Tage darauf sah ich ihn wieder an seinem gewöhnlichen Platze, aber sein Begleiter fehlte. War es das Ausbleiben seines pünktlichen Gefährten, oder wirkte eine andere Ursache mit, – der Kriegsrath kam mir verstimmt, niedergedrückt vor. Ueberhaupt glaubte ich in seinem Wesen eine Veränderung zu bemerken. Sein Anzug schien mir weniger sauber als sonst, seine Haltung zusammengefallener.

Das Gartenetablissement wird an der einen Längenseite von einem schmalen, mit Weidenpflanzungen eingefaßten Wassergraben begränzt, welcher häufig zu Gondelpartien, nicht selten auch von Lebensüberdrüssigen dazu benutzt wird, die Last des Daseins mit einem jähen Sprunge in die sonst nicht allzu sehr verlockenden trüben Fluthen abzuschütteln. In einer der Nischen, welche das Weidengeflecht des Wassergrabens nach dem Garten zu bildete, saß der Kriegsrath, in sich gekehrt, und blickte unverwandt auf den grünlich schillernden Wasserspiegel. Der Stock, den er in der linken Hand hielt, war fest gegen den sandigen Boden gestemmt, der rechte Arm ruhte auf der Stuhllehne, die Hand stützte das leicht

  1. Das Haus existirt nicht mehr, eben so wenig die Nachbargrundstücke. Ein elegantes Hôtel und ein Modemagazin nehmen jetzt diesen Platz ein.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 310. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_310.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)