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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

sie nicht abgehen. Es liegt in ihrem fabelhaft conservativen Blute. Die Boote der Mandarinen, die mit englischen und amerikanischen Flaggen immerwährend auf dem Flusse umherschießen, zischen mit ihren je vierzig Rudern durch das Wasser hin, daß sie oft mit dem besten Dampfschiffe fortkommen. Diese sind selbst in den Augen der clipperstolzen Amerikaner ein Wunder. Es ist also nicht Ungeschick, sondern Tradition, Sitte, Gewohnheit, welche diese lächerlichen Kasten für Handel und Wandel heiligt und so unentbehrlich macht.

Weiter den Fluß hinauf treten ungeheuere Festungswerke auf Höhen und Felsen (zur Deckung verschiedener Canäle und Nebenflüsse) sehr bedeutend in den Vordergrund der seltsamen landschaftlichen Scenerie. Grüne Hügel mit lachenden Baumgruppen und jeden Zoll breit hoch cultivirte Thäler, die sich unten hindurchwinden, ungeheuere Reisfelder, unmittelbar auf dem angeschwemmten Boden der Ufer, umgeben von Alleen der stolzesten aller Palmen, der Bananen, auf das Wasser hineingebaute Vorsprünge zum Wohnen und für verschiedene industrielle Zwecke, ganze Reihen und Doppelreihen kleiner Kähne an die Ufer angesäumt und ein immer dichteres Gewimmel von Schiffen, Booten, Kähnen, Leichtern, Junken, Lorcha’s und wie sie sonst heißen, in allen möglichen Größen, Gestalten, Takelagen, Wimpeln, Segeln und Flaggen und drüben ein unabsehbares Labyrinth von Bauten und Menschen dazwischen – das zusammen ist Canton noch lange nicht, sondern erst Wampoa, die Rhede Cantons, wo viele Hunderte jährlich ankommender und mit Profit absegelnder ausländischer Schiffe den Engländern, Amerikanern, Holländern, Portugiesen u. s. w. beweisen, daß die Chinesen gern handeln und ihre kostbaren überflüssigen Güter, uns Labung und schöner Luxus (Thee und Seide!), mit Freuden gegen abendländischen Ueberfluß austauschen. Hätten sich dabei die Herren Ausländer mit ehrlichem kaufmännischem Profite begnügt, statt zu schmuggeln und zu betrügen, und endlich wieder zu bombardiren, so hätte sich China ganz auf natur- und culturgesetzlichem Wege von selbst vollends aufgemacht. –

Wir können uns in dem buntesten Gewimmel aller möglichen Nationen mit den Chinesen Wampoa’s nicht aufhalten, sondern fahren direct mit dem Dampfschiff-Omnibus nach Canton hinauf zwischen Ufern, die von Natur- und Civilisations-Ueppigkeit strotzen. Unmittelbar vom Flusse klettern dichte, schwere, wie Seide säuselnde Reisfelder an den Hügeln hinauf. Dazwischen gucken freundliche, weiße und zierliche Dörfer aus Bambushecken hervor. Prächtige Pagoden und Tempel wetteifern vergebens in Höhe mit den Kronen gigantischer Bananenbäume. Vor uns in der Ferne klärt sich der verschwommene Horizont immer deutlicher zu ganzen Trauben von vieldächerigen Thürmen und Galerien und Labyrinthen unabsehbarer Häuser auf. Das ist Canton. Die rothmastigen Mandarinenboote, die auf dem Wasser schwimmenden Vorstädte mit ganzen Geschwadern von Junken und flatternden Bannern, ein immer dichteres Ameisengewimmel von Fahrzeugen aller Art, die zuweilen den Fluß so dicht bedecken, daß man kaum Wasser dazwischen hindurchleuchten sieht, das dumpfe Surren und Sumsen, das die Luft wie ein elementarer Bestandtheil derselben füllt und tränkt – das sind die Beweise, daß wir eben in einer Stadt mit mehr als einer Million geschäftiger Einwohner landen. Freilich, die eigentliche innere Tatarenstadt bleibt uns hinter ihren hohen Mauern noch ein Geheimniß (unser Besuch fällt ja vor dem Bombardement). Wir legen in dem Venedig des himmlischen Reiches an, dem gemeinschaftlichen Tummelplatze aller Nationen mit den Chinesen, dem kosmopolitischen Theile des verschlossenen chinesischen Himmelreichs.

Den Hintergrund dieser kosmopolitischen Vorstadt am Wasser bilden palastartige Gebäude, die „Factoreien“ und Consulresidenzen Amerika’s, Englands, Dänemarks u. s. w. mit den flatternden National-Bannern. Um den Landungsplatz herum schwimmt die Stadt. Dahinter ganze Reihen und Fernsichten von chinesischen Palästen mit vergoldeten Façaden und zierlichem Schnitzwerk, lange Straßen von Häusern, Hütten und Villen mit hölzernen Wänden und Bambusdächern, mit Kneipen, Spiel- und Wetthäusern und Vergnügungsorten in großen Gärten, des Nachts erleuchtet von vielfarbigen Papierlaternen und großen seidenen Kugeln, dazwischen ein stets reges Gewimmel der ameisengeschäftigen, dichten Bevölkerung, amphibienartig zu Wasser und zu Lande mit Gesellschafts- und Einzelnkähnen und seltsamen getragenen Droschken, die sich erbarmungslos durch die sich quetschende Menge hindurchstoßen – welch’ eine malerische Scenerie, schillernd und blendend in allen Farben, Schwindel und Verwirrung erregend mit unabsehbarer Bewegung, phantastischer in der Wirklichkeit, als die luxuriöseste Prachtscene in einem Ballet oder in Tausend und eine Nacht! –

Das Dampfschiff legte mitten in einem Gewimmel von Tanka’s (kleinen Kähnen) vor einem großen, von Bäumen beschatteten Platze an, in dessen Mitte das amerikanische Sternenbanner wehte. Der eigentliche kosmopolitische Grund und Boden, auf welchem die Europäer sich tummeln, umfaßt etwa 500 Morgen. Die innere Tatarenstadt hinter den Mauern und alles Land über den eingeräumten Platz war verboten. Diese kosmopolitische Stadt zerfällt durch schneidende Straßen in dreizehn rechtwinkelige Gruppen. Zwei derselben, Alt- und Neu-Chinastraße, bestehen fast durchweg aus chinesischen Läden und Bazars, in denen die fabelhaftesten Massen von Schätzen chinesischer Industrie und Kunst zum Verkaufe aufgehäuft liegen, seidene Waaren von Kiangnan mit den üppigsten, feinsten Stickereien, Ebenholzkästchen mit Gold und Elfenbein ausgelegt zu Bildern, die man durch’s Vergrößerungsglas betrachten muß, um deren Zierlichkeit und Schönheit zu erkennen, Bilder mit Wasserfarben so zart und brillant, wie die Flügel der schönsten Schmetterlinge oder die Farbenhauche in Blumenkelchen, größtentheils Götter und deren Donnerkeile oder Krieger mit Pfeil und Bogen oder Verbrecher sich windend in der Buddhistischen Hölle oder liebliche Mädchengestallen, wie Schmetterlinge oder Paradiesvögel ohne Grund und Boden in himmlischer Luft schwebend, oder gravitätische Mandarinen auf dem Richterstuhle, umgeben von Polizei und Dolchen und Schwertern und Verbrechern, darstellend.

In den chinesischen Läden stechen ferner brillant hervor: lackirte Theebüchsen mit Malerei, Fächer, Theebretter, Porzellan von der feinsten, delicatesten Form und Masse, Bronzen, die wunderbarsten Elfenbeinschnitzwerke, deren Entstehung sich der geschickteste Mechaniker nicht erklären kann, und tausenderlei andere Erzeugnisse einer erstaunlichen Industrie, Ausdauer, Geschicklichkeit und Kunst. Mit der sanftesten Rede, ohne eine Spur von „r“, und einem wohlklingend verdorbenen englisch-portugiesischen Gemisch von Worten und dem unwiderstehlichsten Lächeln, das selbst im ältesten Gesichte noch etwas Naiv-Kindliches hat, überredet Dich der chinesische Kaufmann, zehn Dinge zu kaufen, von denen Du nicht eins brauchen kannst, und Preise dafür zu bezahlen, die Dich ein Vierteljahr hinterher in Verlegenheit halten.

Die Alt- und Neu-Chinastraße sind breit und gerade und durchaus mit Granitplatten gepflastert, gerade und kahl in ihrer größtentheils europäischen Scenerie im Vergleich zu dem malerischen Gedränge und Getöse der engen Windungen chinesischer Gassen, besonders der „Physic-street,“ welche aus den europäischen Theilen vom Osten nach Westen und zurück unaufhörliche Ströme von Waaren, Menschen und Sänften hin- und herschiebt und mit der innern Stadt vermittelt. Hier ist chinesisches Leben und Genießen: Haufen weicher, rother Mandarin-Apfelsinen, Wassermelonen von Amoy, Pfirsiche von Schantong, rother Brustbeeren von Petsche-li, lebendige Fische aus dem Tschukiang, wilde Hunde in Körben für die Lucullus-Tafeln der Reichen, geräucherte und plattgedrückte Enten, ganze Reihen und Schnüre getrockneter Ratten und Mäuse mit Kränzen von Katzenkeulen neben Rind- und Hammel- und grausam fettem Schweinefleisch. Welch’ ein Stoßen, Drängen und Schreien, aber niemals Zank und Gebalge! Ruhe, Geduld und Nachsicht, der größte Heroismus in passiver Ausdauer sind die hervortretendsten Vorzüge der Chinesen. Wie müssen die Engländer gewirthschaftet haben, um diese lächelnden, geduldigen Massen so in Wuth zu bringen! Aber auch jetzt tödten sie sich wieder häufig selbst und ihre Familien, um nichts mit Engländern zu thun zu haben, wie sie es im Opiumkriege tausendweise gethan. Von den Folgen des jetzigen Bombardements wissen wir nur erst einige Züge, z. B. daß in einem Dorfe bei Canton, wo die Engländer die brutalste Nothzucht getrieben, sich fast das ganze weibliche Geschlecht theils vorher, theils, von den Bestien erst verhindert, nachher selbst entleibte. –

Weibliche und höhere Personen sieht man nie in Physic-Street; sie lassen sich in Palanquinen, welche dort Droschken und Omnibus vertreten, von „Coolie’s“ tragen mit Vorläufern, die mit unbarmherzigen Knitteln hohen obrigkeitlichen Personen Platz machen. Ueberhaupt scheint Jeder, der Lasten trägt, eine Respectsperson. Schwerfällige Träger von Fruchtkörben treten und stoßen ungestraft Alles bei Seite, ohne daß sich Jemand muckt.

Hinter der ummauerten Mandschu-Stadt (die 1650, zuletzt unter allen chinesischen Städten, der Mandschu-Dynastie erlag und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_282.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)