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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

nämlich anstatt einer Verringerung und Verkleinerung (Zerstörung) des Lungengewebes, wie dies bei der Lungenschwindsucht (Lungentuberculose) der Fall ist, eine mäßige Erweiterung der Luftbläschen mit chronischem Katarrh, welche sogar vor Lungenschwindsucht zu schützen scheint.

Man staune ja nicht über das Verkennen des Lungenleidens unserer Patientin. Die Lungenerweiterung und Lungentuberkulose können, so lange beide Uebel noch keinen sehr auffälligen Grad erreicht haben, recht leicht, selbst von sonst gebildeten Aerzten verwechselt werden, weil bei Lungenerweiterung außer den ziemlich gleichen Erscheinungen von Störung im Athmungsapparate auch der Ton, welchen man durch Beklopfen des Brustkastens dicht unter dem Schlüsselbeine erhält, matt (gedämpft) erscheint. Nur die Fülle des Tones, sowie die Deutlichkeit der Sprache innerhalb der Lungenspitzen schützen dann vor einer Verwechselung.

Nachdem unsere Patientin mit großer Mühe von der Grundlosigkeit ihrer Todesangst überzeugt worden war (denn Frauen von einem falschen Glauben selbst durch die triftigsten Gründe zu befreien, gehört fast zu den Unmöglichkeiten) und als sie nach der Rückkehr ihrer Gemüthsruhe alles Curiren und Mediciniren bei Seite setzte, dafür aber Ruhe, Luft, Licht, Speise und Trank in passender Weise in Anwendung brachte, ist das Wohlsein bis auf geringe, zeitweilig eintretende Athembeschwerden mit Hustenanfällen (die der Lungenerweiterung wegen nie ganz verschwinden werden) vollständig zurückgekehrt. – Das war doch gewiß eine gute erfolgreiche Cur und doch wurde dabei nichts verschrieben.

2. Der Spleenist, Grillensüchtige oder Hypochonder.

Haben Sie ein Weilchen Zeit, Herr Doctor, mich anzuhören? denn mir fehlt es überall. So sprach ein ziemlich dicker, im Lebensalter des Embonpoint (zwischen dem 45. und 50. Jahre) stehender, frühzeitig Pensionirter aus dem Altjunggesellenstande mit etwas fahlem Teint und schlaffen, mürrischen, mißtrauischen, lebensmüden Gesichtszügen, holte dabei einen langen Zettel, auf welchem alle seine Beschwerden haarklein verzeichnet waren, aus der Tasche und setzte mit Behaglichkeit sich und seine Brille zum Vorlesen zurecht. – Klug kann ich eigentlich aus meinem Leiden noch nicht recht werden, so seufzte er hervor, auch sind die Aerzte sehr verschiedener Ansicht darüber. Mir scheint’s bisweilen mehr rheumatischer, vielleicht sogar mehr gichtischer, als hämorrhoidalischer und nervöser Natur zu sein, auch bin ich schon auf die Vermuthung gekommen, daß sich die ersten Anfänge aus meiner Jugend herschreiben, wo ich scrophulös gewesen sein und sehr an Schärfe gelitten haben soll. Daß übrigens die Leber bei mir mit im Spiele ist, sehen Sie gewiß schon aus meiner Gesichtsfarbe; nebenbei bin ich sehr verschleimt, wie das auch meine belegte Zunge zeigt, und leicht werde ich von Katarrhen ergriffen. Am meisten peinigt mich übrigens bei meiner Nervosität der Gedanke an einen Nervenschlag oder gar an die Rückenmarksauszehrung. Jetzt wissen Sie Alles. – Im Gegentheile, jetzt weiß ich erst recht gar Nichts. Denn die ganze Krankheitsgeschichte bestand nur aus hohlen, nichtssagenden, medicinischen Ausdrücken, welche durchaus nicht auf das eigentliche Leiden schließen lassen. Man kann hier, wie so oft in der Medicin, sagen: denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein. Wollten doch die Patienten, anstatt mit ärztlichen Floskeln um sich zu werfen, nur ganz einfach ihre Beschwerden dem Arzte erzählen, dieser wird dann das zur Erkennung der Krankheit Nöthige aus dem Kranken schon noch herausfragen, herausklopfen und heraushorchen u. s. f., wenn’s nämlich überhaupt möglich ist.

Welche Beschwerden hat denn nun eigentlich unser Patient? Es wird ihm schwer werden, uns diese ohne öftere Einflechtung unverständlicher medicinischer Redensarten zu beschreiben, obschon er dieselben bereits sehr oft und mit einer Art Wohlbehagen einer Menge Menschen erzählt hat. Wehe Dem, der diese seine vielen körperlichen Leiden für eingebildete hält. – Was zuvörderst seine Empfindungen und seinen Gemüthszustand betrifft, so klagt Patient: über herumziehende Schmerzen in fast allen Theilen des Körpers, über öfteres Frösteln mit fliegender Hitze abwechselnd, Eingenommenheit[WS 1] des Kopfes, Schwindel, Ohrensausen, Rückenschmerzen, Drücken in der Oberbauchgegend und über das Gefühl von Vollsein in der Herzgrube, Abspannung, Mattigkeit und leichter Ermüdung der Beine. Die Gemüthsstimmung ist eine trübe, ärgerliche, sehr reizbare, mißtrauische, grübelnde, grillenfangende, verbunden mit Unlust zu den gewohnten Arbeiten und Hang zur Einsamkeit. Von wichtigeren Veränderungen und Störungen in der Thätigkeit irgend eines edlen Organs ist aber, wie die physikalische Untersuchung des Kranken lehrt, trotz der geklagten vielen und mannichfachen Beschwerden keine Rede, nur der Verdauungsproceß zeigt sich insofern etwas gestört, als Appetit und Stuhlgang nicht immer so wie wünschenswerth sind.

Dem Leser sei nun vertraut, daß der Arzt den eben beschriebenen Krankheitszustand, von welchem übrigens das männliche Geschlecht vorzugsweise heimgesucht wird, während das weibliche die Hysterie dafür hat, Hypochondrie, Milzsucht, Spleen getauft hat. Er sucht den Grund davon in einer krankhaft vermehrten Empfindlichkeit der Empfindungsnerven (oder des Empfindungsorgans, des Gehirns) gegen Körpergefühle, mit steter krankhafter Aufmerksamkeit auf den eigenen Gesundheitszustand. Man hat deshalb die Hypochondrie auch bezeichnet: als Virtuosität auf dem Empfindungsnerven-Instrumente; als krankhafte Zärtlichkeit gegen sich selbst, die gleich geheilt wäre, wenn der Zärtliche zu sich selbst einmal recht hart sagte: „Du bist ein Narr!“ Man erklärte sie ferner aus einer übermäßigen Liebe zum Leben und als Schwäche, sich seinen krankhaften Gefühlen ohne ein bestimmtes Object zu überlassen. Kurz sie besteht in einer Störung des Empfindungsprocesses in Folge krankhafter Reizbarkeit des Gehirns oder der Empfindungsnerven oder beider, ist also eine Art Geisteskrankheit, und charakterisirt sich hauptsächlich durch die Selbstsucht, wobei der Kranke alle Aufmerksamkeit nur auf den eigenen Zustand richtet, über den er anhaltend nachgrübelt, ärztliche Bücher studirt und oft komische Ansichten zu dessen Erklärung ausspinnt, gegen welche er keinen Widerspruch, verträgt, und die verschiedensten Curarten probirt. Trotz aller Klagen, Hoffnungslosigkeit und Lebensmüdigkeit liebt der Hypochondrist sein Leben doch sehr, ja er findet in der Erzählung seiner vielen körperlichen Beschwerden eine ganz erwünschte und angenehme Unterhaltung. – Die Quelle dieses Leidens, welches selbst bei den glücklichsten Außenverhältnissen alle Lebensfreuden stört und den unglücklichen Kranken zu einem Selbstquäler und einer Plage seiner Umgebung macht, scheint in den allermeisten (natürlich nicht in allen) Fällen eine gestörte Circulation und Reinigung des Unterleibsblutes, vorzüglich wohl in der Leber (aber ohne eigentliche Leberkrankheit) zu sein, so daß alsdann, nach dem Uebertritt dieses unreinen Blutes in die gesammte Blutmasse, die Nerven- und Gehirnubstanz nicht ordentlich mehr ernährt und gekräftigt werden kann. Ueber die Ursachen dieser Störung s. Gartenlaube 1854. S. 210. (Nr. 18.).

Wollen wir nun unseren Grillenfänger curiren, so muß dies ebensowohl körperlich, wie geistig geschehen. In ersterer Beziehung ist der Unterleibszustand, also der Pfortader-Leberblutlauf und der Verdauungsproceß in Ordnung zu bringen und dies ist, wie in Gartenl. Jahrg. 1854. Nr. 18. weiter auseinander gesetzt wurde, hauptsächlich zu erreichen: durch den reichlichen Genuß von Wasser (besonders von heißem Wasser), durch zweckmäßige Bewegungen (vorzüglich geregelte Turnübungen, bei welchen sich der Bauch strafft, durch Kegeln, Holzhacken und Sägen, Gartenarbeiten, Fußreisen, Reiten, Schwimmen, Jagen, Schlittschuhlaufen u. s. f.) durch tiefes kräftiges Athmen (zur Unterstützung der Blutcirculation), am liebsten im Freien, durch öfteres Kneten, Drücken, Reiben oder Pochen des Bauches, Beförderung des Stuhlganges durch Klystiere (nicht durch Abführmittel), durch Mäßigkeit und Einfachheit im Essen und Trinken (also leicht verdauliche, reizlose, aber nahrhafte, vorzugsweise animalische Kost). – In Bezug auf die psychische Behandlung, so muß zuvörderst das Selbstvertrauen und Ehrgefühl beim Hypochondristen geweckt werden, damit er sich seiner Schwäche schämt und willenskräftiger an eine nützliche Beschäftigung geht. Auch nützen Zerstreuungen, Reisen, Veränderungen des Wohnortes und der Umgebung, sowie Beschränkung oder Aufgebung der bisherigen Lebensweise (z. B. des vielen Sitzens, der Büchergelehrsamkeit, des unehelichen Lebens, des Salonlebens, der größeren Gesellschaften, der Nachtwachen, der übermäßigen Geistesanstrengungen u. s. f.). Ausschweifungen aller Art sind zu vermeiden, ebenso das lange Schlafen, besonders in den Morgen hinein.

Schließlich glaube der Leser nun aber ja nicht etwa, daß er aus dieser Beschreibung der Hypochondrie diese Krankheit und ihre Ursachen zu erkennen im Stande ist, denn häufig hängen alle die erwähnten Krankheitserscheinungen von wirklichen krankhaften Veränderungen innerer Organe ab, welche nur der gebildete Arzt durch genaue Untersuchung des kranken Körpers zu ergründen vermag.

(Wird fortgesetzt.)

Bock.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Eingenomheit
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_266.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)