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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

wohl in der Nähe und in der unerbittlich klaren Morgenbeleuchtung – vielleicht schon seit einiger Zeit hinter sich, aber wenn er Günthers Gesicht mit den ernsten, scharf geschnittenen Zügen betrachtete, in denen keine Spur eines jugendlichen Ausdrucks mehr war, so konnte er kein Mißverhältniß in jener Annahme finden. Aber sie war seine Mutter! Nicht seine Stiefmutter, sondern seine rechte und wahre Mutter! Wie alt mußte sie danach sein? Günther, das wußte er genau, hatte sein siebenundzwanzigstes Lebensjahr kürzlich zurückgelegt; wenn die Mutter auch in frühester Jugend, angenommen wie eine Südländerin mit vierzehn Jahren, sich vermählt hatte, so mußte sie heute doch in den Vierzigen sein und wer sie sah, der hielt sie wenigstens für zehn Jahre jünger, während man ihrem Sohne wohl ebensoviel mehr gegeben hätte. War Frau von Aßberg denn unvergänglich, wie Ninon de l’Enclos?

Er sah ein feines Lächeln um ihren Mund spielen, er bemerkte des Freundes verwunderten Blick – zum Bewußtsein kam es ihm plötzlich, daß er, von seinen Gedanken mächtig befangen, eine Frage nicht recht beachtet oder falsch beantwortet habe, welche die Dame an ihn gerichtet, und er erröthete. Mit Unwillen und Staunen fühlte er, daß er, was ihm seit Jahren nicht mehr geschehen war, wie ein blöder Knabe erröthete, und dies Gefühl gab ihm, gleich einem elektrischen Schlage, seine Kraft zurück, aber es reizte ihn zugleich und machte ihn böse.

„Ich bitte um Verzeihung, gnädige Frau,“ sagte er. „Ich war zerstreut. Ein Gedanke, der mich plötzlich überfiel, wie ein Lämmergeier, trug mir den Geist fort. Ich habe darum nicht recht gehört, was Sie mich fragten, und bitte für meine gewiß alberne Antwort um Nachsicht.“

„Sie war im Gegentheil nur zu treffend, Graf Hallstein,“ erwiderte Frau von Aßberg und das Lächeln um ihren Mund kämpfte, dem guten Tone zum Trotz, um sein besseres Recht, sich in ein helles Lachen zu verwandeln. „Aber Sie gebrauchen ein schreckliches Bild – und es freut mich, daß Ihr Geist sich den Fängen des Unholdes gleich so kräftig entrungen hat. Hoffentlich hat Ihre jetzige Umgebung denselben nicht herbeigelockt?“

„Ich mußte – warum, weiß ich nicht – an meinen ältesten Bruder denken, gnädige Frau,“ erwiderte HMstein und richtete sein Auge fest auf die scherzende Dame. „Sie haben ihn gekannt und entschuldigen mich nun wohl.“

Ihr Lächeln schien einen Moment zerrinnen zu wollen, aber sie bannte es auf ihren Lippen, nur nahm es jetzt einen anderen Charakter an.

„Sein Sie nicht unwahr, Graf Hallstein,“ sagte sie sanft. „Wenn Sie wissen, daß ich Ihren Bruder gekannt habe, so wissen Sie auch, warum Sie an ihn denken mußten, und ich finde es ganz natürlich, daß Sie von diesem Gedanken befangen mir eine Antwort gaben, die ich – jetzt erst verstehe. – Es ist nicht gut, Graf Hallstein,“ setzte sie hinzu, als sie seinen betroffen fragenden Blick bemerkte, „Verhältnisse, welche zwischen denen, die sie berühren, weder geheim, noch unklar geblieben sind, mit Anspielungen zu behandeln; müssen sie besprochen werden, dann offen und ehrlich.“

„Gnädige Frau,“ versetzte er, zu seiner eigenen Erbitterung ziemlich fassungslos, „dieser Vorwurf, diese – Belehrung –“ er stockte, denn er fühlte mit Schrecken, daß ihm mit einem solchen Worte der Empfindlichkeit der feste Boden seines gesellschaftlichen Taktes unter den Füßen wich. Hatte er denn so lange Jahre das Parket der Salons umsonst getreten?

„Eine ältere Frau,“ erwiderte Frau von Aßberg mit einem milden und schonenden Lächeln, indem sie ihm ihre schöne Hand reichte, „eine ältere Frau, die Freundin Ihres verewigten Bruders, hat wohl Anlaß, Sie um ein offenes Wort zu bitten, wenn Sie es auf dem Herzen haben. Mein Sohn kennt alle Verhältnisse, wie Sie wahrscheinlich schon wissen, wir können also ganz offen sprechen.“

„Aber, gnädige Frau,“ rief der Graf, „was habe ich denn wahrlich ohne es selbst zu wissen – gesagt, welchen Ausdruck denn in voller Geistesabwesenheit gebraucht, daß ich in Verdacht komme, Sie durch versteckte Anspielungen verletzen zu wollen? Günther, ich fordere Dich auf, mir es zu sagen, denn ich gebe Dir mein Wort, daß ich keine Ahnung davon habe.“

„Wenn das der Fall ist,“ sagte Frau von Aßberg rasch für ihren Sohn, „so bedarf es keiner weiteren Rede! Sie haben absichtslos ein Wort gesagt, das nur zufällig eine Bedeutung, die wir erst hineingelegt, haben konnte. Es war dann freilich, als Sie aussprachen, welcher Gedanke Sie von unserm Gespräch abgezogen hatte, von unserer Seite erklärlich, daß wir eine Absicht zu finden glaubten. – Mißverständnisse, sagt Shakespeare, kommen daher, daß man sich nicht versteht,“ setzte sie heiter, mit einer Rückkehr zum leichten Tone hinzu, „und so wollen wir denn nicht weiter davon sprechen, ja ich wünsche ausdrücklich, lieber Günther, daß Du Deinen Freund nun auch in der Neugier, was er denn Hochgefährliches gesagt, nicht befriedigst – mag es eine kleine Strafe für Sie sein, Graf Gebhard, daß Sie eine Dame, die mit Ihnen spricht, so beschämend ignoriren.“

Sie begleitete diese Worte mit einem so freundlichen Blicke, daß Gebhard vor der siegreichen Gewalt ihres schwarzen Auges kein Wort mehr fand und er nicht umhin konnte, die Hand, welche ihm vorhin gereicht worden war, noch einmal zu ergreifen und zu küssen.

Der Frosthauch, den er in den ersten Momenten ihres Gesprächs zu fühlen geglaubt, schien von dem warmen und erquickenden Wehen der Freundlichkeit völlig überwunden zu sein.

Erst nach einiger Zeit, als Frau von Aßberg sich entfernt hatte, um ihrem Hauswesen und auch wohl ihrer Toilette gerecht zu werden, kehrte dem Grafen eine ruhigere Besonnenheit zurück, und wie es in seinem Charakter lag, zugleich eine Reaction gegen das Gefühl, dem er sich hingegeben hatte.

„Sie ist doch eine herzlose Coquette – wie sie gegen meinen armen Bruder gewesen ist!“ klang es in ihm. „Und so glaube ich auch nicht, wenn ich ihr, wie sie von jeher fürchten mag, den Sohn auf Abwege führe, daß es auf sie einen tiefern Eindruck machen würde. Es mag nur die Sorge sein, daß ihre souveraine Herrschaft über ihn durch Oppositionsgelüste, die ich ihm einflößen konnte, zu erschüttern wäre, welche mir eine verwundbare Seite an ihr zeigt. Soll ich sie benutzen?“

„Du schweigst, Gebhard, und siehst mit einem ironischen Lächeln vor Dich nieder?“ begann Günther nach einer Weile, in welcher er den Freund, der stumm neben ihm saß, beobachtet hatte.

„Ironisch? Du hast verlernt, meine Gedanken zu errathen, wie Du Dich sonst rühmtest! Ich lächle eher wehmüthig, und zwar über mich selbst, der wie ein Schiffbrüchiger auf einer Klippe sitzt und die Trümmer seines schönen Bootes treiben sieht. Ohne Bilder gesprochen – es war der dümmste Streich meiner letzten Jahre, daß ich hierher gekommen bin.“

„Gebhard!“ rief Aßberg verletzt.

„Was wollte ich hier? Dich wiedersehen, der doch mit Absicht auch vor mir seine Spur verwischt hat? Mich mit eigenen Augen überzeugen, wie Du lebst, nachdem Du Dich ganz des eigenen Willens begeben hast? Dich vielleicht aufreizen gegen eine Autorität, welche ich wenigstens in dieser Ausdehnung nicht begreifen konnte, im glücklichen Falle Dich vielleicht im Triumphe, wie ein Adler ein geraubtes Kind, entführen, aber nicht um Dich zu tödten, sondern Dich wieder auf die Sonnenhöhen des Lebens zu stellen, wo Dein Platz und Dein Pfad ist, Günther – sieh, das waren so ungefähr meine Gedanken, als es mir gelang, Deine Solitüde zu erfahren. Und ich muß jetzt bei nüchterner realer Betrachtung gestehen, daß es sehr dumm war. Denn Du wirst Dich doch nicht mehr losreißen, Du wirst Dich keineswegs, auch nur in der geringfügigsten Kleinigkeit, wie zum Exempel, daß Du mir nicht sagen sollst, welches ungeschickte Wort ich vorhin im Traume gesprochen habe, gegen den Wunsch und Willen Deiner Mama auflehnen und ich fühle, daß ich selbst Gefahr laufe, –“ hier unterbrach er seine Rede plötzlich, die gegen seinen Willen wahrer Ernst geworden, doch vor dem Blicke des Freundes, der vorwurfsvoll auf ihm ruhte, sich verhärtend, fuhr er gleich fort: „Gefahr laufe, wollte ich sagen, wie auf einer bezauberten Insel auch meiner Freiheit beraubt zu werden. Ich helfe Dir gar nichts und schade mir selbst. Gestehe, daß ich Recht habe, mit meiner Entdeckungsreise sehr unzufrieden zu sein.“

„Gestehe Du mir lieber,“ entgegnete Aßberg, „daß es Dir leid thut, meiner Mutter weh gethan zu haben, und daß Du, wie gewöhnlich, wenn Du weich bist, Dich hinter eine Maske birgst.“

„Wenn ich deiner Mutter weh gethan habe, sie hat es mir auch und meiner armen Mutter noch mehr!“ sagte Hallstein, von des Freundes Aeußerung vielleicht gereizt.

„Ich weiß Alles,“ erwiderte Günther sanft. „Meine Mutter hat mir, seit ich gereifter bin, kein Geheimniß mehr aus diesen traurigen Verhältnissen gemacht. Darum weiß ich aber auch, daß sie kein Vorwurf trifft. Sie fühlt sich rein von aller Schuld, denn

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