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zu denken und bei den ewigen Kriegen, die der Kaiser theils im Reiche selbst, theils nach Außen zu führen hatte, vermochte er nicht, der grenzenlosen Verwirrung und Rechtsunsicherheit abzuhelfen.

In dieser trüben Zeit war es, in welcher die Gerichte der heiligen Vehme ihre Macht entfalteten und einen gerechten Schrecken über das ganze deutsche Reich verbreiteten. Ihnen hatte man es zu danken, daß kein Verbrecher jetzt mehr sicher war, ungestraft zu entkommen, denn wohin er auch fliehen mochte, seine Rächer ereilten ihn sicher.

Wie früher alle germanischen Gerichte, so wurden anfangs auch die westphälischen theils regelmäßig, zu bestimmten Zeiten im Jahre, theils bei außerordentlichen Veranlassungen besonders abgehalten. Im ersteren Falle hieß das Gericht das „echte“ oder „ungebotene Ding,“ weil Ort und Zeit der Versammlung bekannt war und daher nicht speciell zu derselben vorgeladen wurde; im andern Fall dagegen hieß es das „gebotene,“ „vorbotene“ oder „verbotene Ding“ weil die Parteien sowohl als die erforderliche Anzahl von Schöffen besonders vorgeladen (entboten) werden mußten. Mit dem Verschwinden der alten Grafengerichte und dem Umsichgreifen der Territorialgerichtsbarkeit kamen aber die ungebetenen Gerichte fast überall außer Anwendung und auch in Westphalen wurde das verbotene Ding die Regel.

Die Vehmgerichte wurden nur in Westphalen gehalten und es ist Fabel, wenn noch heutzutage an vielen Orten Deutschlands in alten Schlössern, verfallenen Burgen u. drgl. finstere Gemächer gezeigt werden, in denen die Gerichte der heiligen Vehme zu Gericht gesessen haben sollen. Ebenso durften die Schöffen der Vehmgerichte (Freischöffen) ursprünglich nur Einheimische, also Westphalen sein; man sah aber bald ein, daß, wenn der Rechtsunsicherheit wirksam abgeholfen, wenn an den Verurteilten die verdiente Strafe wirklich vollzogen werden sollte, auch Fremde als Vehmschöffen aufgenommen werden müßten. So geschah es, und im Anfange des vierzehnten Jahrhunderts waren durch das ganze deutsche Reich Tausende und Abertausende von solchen Richtern der heiligen Vehme verbreitet. Jeder frei und ehelich Geborne, an dem sonst kein Makel haftete, konnte – aber nirgends anders als in Westphalen – in den Bund der Vehmrichter aufgenommen werden. Wer es irgend möglich machen konnte, der scheute die Reise nicht, um in Westphalen den Schöffeneid zu schwören und sich einweihen („wissend machen“) zu lassen. Im Gegensatz zu diesen Eingeweihten („Wissenden“) hießen alle übrigen, die nicht Vehmschöffen waren, „Nichtwissende.“

Hiermit hing eine wichtige Eintheilung der Vehmgerichte zusammen. Man unterschied nämlich das „offene,“ „offenbare Ding“ und das „heimliche,“ das „Stillgericht,“ auch „heimliche Acht.“ Vor das erstere wurden nur die Nichtwissenden geladen; war dagegen ein Schöffe, ein Wissender, selbst angeklagt, so durfte dieser nur vor das „heimliche Ding“ entboten und nur in diesem ihm der Proceß gemacht werden. Unter solchen heimlichen Gerichten, die man auch „die beschlossene Acht“ nannte, darf man aber, was freilich aus Mißverständnis; des Namens meistentheils geschieht, nicht etwa Gerichte verstehen, die bei Nacht und an unzugänglichen, verborgenen Orten, in Höhlen, Ruinen und Wäldern, gehalten worden wären, sie erhielten diese Namen blos, weil außer Wissenden Niemand an denselben Theil nehmen durfte und alle etwa anwesende Nichtschöffen sich entfernen mußten. Wie das offenbare Ding wurde übrigens auch das Stillgericht stets bei Tage, unter freiem Himmel, an den bekannten Gerichts-, den sogenannten Mahl-Stätten auf offenem Felde, in der Regel unter dem Schutze eines großen Baumes abgehalten. Das „offene Ding“ verwandelte sich sofort in ein „Stillgericht,“ wenn die umstehenden Nichtwissenten, die meistens nur aus Neugierde herbeigekommen waren, aufgefordert wurden, den Gerichtsplatz zu verlassen. Dieser Aufforderung mußte sofort Folge geleistet werden und wehe dem, der sich unbefugter Weise unter die Schöffen eingedrängt und dem Stillgericht beigewohnt hätte. Ohne Erbarmen wurde ein solcher Eindringling, den man entdeckte, ergriffen und an dem nächsten Baume aufgeknüpft.

Eine derartige Umwandlung des offenen in das heimliche Gericht kam sehr häufig vor; in allen den Fällen nämlich, wenn der Angeschuldigte auf die an ihn ergangene Vorladung sich nicht selbst gestellt hatte. Gegen einen Abwesenden in dieser geschlossenen Acht zu verfahren, namentlich das über ihn gefällte Urtheil geheim zu halten, war dringend nothwendig, damit derselbe von Niemand gewarnt werden und auf seine Sicherheit bedacht sein konnte. In dieser Geheimhaltung lag also die Haupteigenthümlichkeit und die Hauptwirksamkeit der Vehmgerichte, auch nannte man sie später überhaupt, selbst wenn das Verfahren vor dem offenen Ding stattfand, „heimliche Gerichte.

Als Ankläger durfte nur ein Freischöffe auftreten, darin lag aber durchaus keine Beschränkung, weil jeder Schöffe nicht nur wegen eines gegen ihn selbst begangenen Verbrechens, sondern auch im Namen eines jeden verletzten Wissenden oder Nichtwissenden Klage erheben konnte.

Den Vorsitz im Gericht führte ein westphälischer Freigraf. Vor ihm stand eine Tafel und auf dieser lagen ein blankes Schwert und ein aus Weiden geflochtener Strick. Auf dem Schwert wurden die zu leistenden Eide abgenommen, der Strick zeigte an, daß der Hals des Angeklagten in Gefahr sei. Nach erhobener Anklage wurde zunächst entschieden, ob das „gerügte“ Verbrechen eine „Vehmroge“, d. h. ob das Vehmgericht berechtigt und verpflichtet sei, über den Verbrecher Gericht zu halten. „Vehmrogen“ waren aber alle mit dem Tode zu bestrafenden Verbrechen, wie Mord, Raub, Brandstiftung, Ehebruch, selbst Diebstahl und viele andere. Hierauf wurde an den wegen einer Vehmrüge Angeschuldigten eine Ladung erlassen, vor dem betreffenden Vehmgerichte an dem in dem Ladungsbriefe bezeichneten Mahlplatz „zu erscheinen zu rechter Tageszeit“ oder „zu rechter Gerichtszeit Tages,“ also nicht bei Nacht. Solcher Mahlplätze gab es seiner Zeit in Westphalen über hundert. Die Frist, welche dem Angeklagten bis zum Erscheinen eingeräumt wurde, war die alte sächsische von dreimal fünfzehn Tagen (sechs Wochen drei Tagen), welche noch heutzutage in dem sächsischen Rechte eine wichtige Rolle spielt. Die gewöhnliche Art und Weise, wie die Ladungen den Betreffenden bekannt gemacht wurden, war die, daß dieselben von Vehmschöffen persönlich überbracht wurden. Dabei kam es wohl vor, daß die Ueberbringer sehr übel aufgenommen wurden, ja daß sie bisweilen mit dem Leben büßen mußten. Um diesen Gefahren zu entgehen, wurden häufig die Ladungsbriefe bei Nacht und unbemerkt entweder an der Hausthüre des Beklagten, oder in einer Kirche, wohl auch an die Thore einer Stadt angeschlagen. Wie aber, wenn man den Wohnort des Vorzuladenden nicht kannte? In diesem Fall half man sich dadurch, daß man zunächst das Land zu ermitteln suchte, in welchem der Beschuldigte muthmaßlich sich aufhielt; war dies geschehen, so wurde dann der Ladungsbrief an verschiedenen Orten dieses Landes, meistentheils auf Straßen und zwar nach den vier Himmelsgegenden aufgesteckt.

Die Nichtwissenden durften, wie bemerkt, nur vor das offene Ding, die Wissenden dagegen nur vor das heimliche Gericht geladen werden. Das Verfahren selbst war in beiden Fallen ein verschiedenes.

Leistete der angeklagte Nichtwissende der Vorladung Folge und stellte sich zur bestimmten Zeit vor dem offenbaren Ding, bei welchem also Jedermann gegenwärtig sein und der Verhandlung zusehen und zuhören konnte, so trug der rügende Schöffe noch einmal die Anklage vor. Gestand der Angeschuldigte, dann war der Proceß ein kurzer. Der Angeklagte hatte sich, wie es hieß, selbst gerichtet. Er wurde ergriffen und im nächsten Augenblicke hing er, im Angesicht der umstehenden Menge, an einem Baume. Stellte er dagegen die Begehung des ihm Schuld gegebenen Verbrechens in Abrede, dann lag es ihm ob, von der Anklage sich zu „reinigen.“ Niemals versuchten die Vehmrichter, den Angeklagten des Verbrechens zu überführen, niemals ihn zu einem Geständniß durch Gewissenspredigten zu bewegen, oder durch verwickelte Fragen zu verlocken, oder wohl gar durch Folterqualen zu zwingen. Marterwerkzeuge haben die Vehmschöffen nie in den Händen gehabt. Wenn Dir daher, lieber Leser, einmal in einer alten Folterkammer solche gräuliche Instrumente gezeigt werden, und Dein Führer mit wichtiger Miene Dir bedeutet, daß dieselben noch von den Richtern der heiligen Vehme herrührten, so weißt Du, daß man Dir ein Mährchen erzählt. Das einzige Mittel, eine Freisprechung zu erwirken, sich von der Anklage zu „reinigen,“ bestand in dem Eid und zwar mußte zunächst der angeklagte Nichtwissende einen Reinigungseid leisten. Dieser allein aber genügte nicht, vielmehr mußten, und zwar von den gegenwärtigen Vehmschöffen, noch zwei oder drei Eideshelfer mitschwören. Positive Gewißheit von der Unschuld des Angeklagten brauchten diese nicht zu haben, sie erhärteten ja durch ihren Eid blos ihre Ueberzeugung, „der Angeklagte schwöre rein und nicht mein.“ Fanden sich zwei oder drei Eideshelfer, so konnte der Kläger diesen sechs andere entgegenstellen und der Beklagte wurde, wie

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