Seite:Die Gartenlaube (1857) 235.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Höhe eine überraschende Aussicht dar; zu unsern Füßen ruht Paris, dessen Häusermeer am Horizont im Nebel verschwimmt. Den Vordergrund bilden die himmelhohen Schornsteine des modernen Fabrik- und gewerblichen Treibens, aber wie geistige Riesen ragen die Thürme des Notre-Dame, das Pantheon, die Julisäule und die Spitze von St. Jaques und die Vendomesäule hervor, während sich zur Rechten der Montmartre mit seinen Häusermassen emporhebt. Aber was hat dieses wechselnde Farbengemisch von Weiß und Schwarz in unserer Nähe zu bedeuten? – Es sind die niederen Kreuze der Armen, die hier zu Tausenden eingescharrt liegen. Zwischen den schmalen Hängen wandelt die blaue Blouse des Arbeiters und das weiße Häubchen der Frau aus dem Volke; sie bringen auch einen Kranz, freilich kostet er nur wenige Sous und die Inschrift auf den Gräbern besteht oft nur in einem Blatt Papier mit dem Namen des Verstorbenen auf Holz geheftet. Zuweilen geht aber aus diesen unteren Volksclassen ein Mann hervor, der sich durch seinen rastlosen Fleiß und durch unermüdliche Thätigkeit emporschwingt. Ein solcher Arbeiter, der nach Paris kam und sein Glück gefunden hat, ist auf einem Denkmal dargestellt. Er steht in natürlicher Größe, bekleidet mit dem gewöhnlichen Rock des Arbeiters, die Aermel zurückgestreift, in der Hand sein Werkzeug. Auf der andern Seite erblicken wir denselben Mann in eleganter Kleidung, ein Buch in der Hand, umgeben von den Emblemen des Wohlstandes. Der Todte ist der reiche Porzellanhändler Marc Schölcher, der sich aus niederem Stande zum Reichthum und zu einer gewissen Berühmtheit emporgeschwungen hat. Solche Monumente sind gewiß für den armen Arbeiter ein Trost und eine Aufmunterung; sie sollten nur öfters in ähnlicher Weise ausgeführt werden. – Mit zahllosen Inschriften sind diese Leichensteine und Denkmäler bedeckt, zuweilen pomphaft und eitel, oft aber rührend und tief ergreifend. Unter Rosen, Thuyas und andern Gesträuchen ruht ein junges Mädchen, auf dem Leichensteine stehn die Worte: „Armes Kind! Sie war erst fünfzehn Jahre.“

Eine Mutter, klagt um ihr Kind:

           O warte doch!
Geneigt zur Mutter mit Lächeln,
Das Liebe nur verleiht, sprachst Du dies Wort;
Das einz’ge war es, das Du sprechen konntest.
Die Mutter lächelt Dir jetzt zu und spricht nur immerfort:
           O warte doch!

Und dort die kleine Alexandrine Tuillet, wie zart und doch herzzerreißend ist Deine erste Lüge in Deinem vierten Jahre. Wie schmerzlich die Klage der Eltern um Dich:

„Dem Tode nahe, sagte sie: uns: Weine nicht, Papa, weine nicht, Mama; ich fühle mich besser. – Und sie starb’!“

Zwei Steine liegen neben einander, auf dem einen liest man: „Ich erwarte meine Mutter,“ auf dem andern: „Ich bin bei meinem Kinde.“ Dort die Pyramide trägt die einfache, ergreifende Inschrift: „Zweiundzwanzig Jahre und Du stirbst! O Melanie!“ Auf dem Grabe der sechzehnjährigen Dichterin Elisa Mercoeur findet man unter andern Versen von ihr selbst gedichtet die schönen Zeilen:

„Vergessenheit ist Tod, der Ruhm das andre Leben,
Schmerzlose Ewigkeit wird dem Genie gegeben.“

Georgine Mars starb mit neunzehn Jahren, ihr widmet die berühmte Mutter den traurigen Nachruf:

„Hier ruhet Tugend, Anmuth und Talent!
O Ihr, die Ihr das holde Wesen kennt
Und Blumen ihm und Thränen wollt gewähren,
Versparet für die Mutter Eure Zähren.“

Eine Tochter schreibt die rührenden Worte: „Hier ruht meine beste Freundin: es war meine Mutter.“ Und ein Sohn: „Wanderer! schenke meiner Mutter eine Thräne, indem Du glaubst, es sei die Deine.“ Auf dem bescheidenen hölzernen Kreuze der allgemeinen Begräbnisse steht die schönste Lebensgeschichte eines Weibes: „Sie lebte, liebte, starb gleich gut.“ Ein merkwürdiges Grab ist noch das der Frau von Lamarle milder Inschrift: „Wer sie kannte, beweint sie.“ Sie war die natürliche Tochter des Königs von Preußen, die Schwester Friedrich Wilhelm III. Beim Einzuge der Verbündeten in Paris lebte noch ihr Gatte, der eine ansehnliche Unterstützung von seinem großmüthigen, fürstlichen Anverwandten erhielt. –

Unter den zahllosen Denkmälern, Grabsteinen und Monumenten waren es zwei besonders, welche meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen, das Grab Abälard’s und Heloisen’s und die letzte Ruhestätte Ludwig Börne’s. Jahrhunderte liegen zwischen dem berühmten Liebespaar und dem deutschen Freiheitshelden; hier ruht das romantische Mittelalter mit seiner Scholastik und tiefen Leidenschaft, dort die Neuzeit mit ihren Kämpfen und Hoffnungen, mit ihrer Begeisterung und ihrem Zorn. – Sinniger können Abälard und seine Geliebte nicht gebettet sein; unter einer gothischen Kapelle ruhen Beide, zwischen Lorbeerbäumen und Cypressen, unter der sanften Last unzähliger Immortellenkränze, welche mitfühlende und mitleidende Herzen auf ihre Grabstätten legten. Die beiden Gestalten scheinen mit gefalteten Händen neben einander zu schlummern, der Hund zu ihren Füßen als Sinnbild der Treue blickt zu ihnen empor. Der steinerne Sarg, auf dem die Helden dieser großen Liebestragödie ruhen, ist muthmaßlich von hohem Alter, wenigstens deuten die plumpen Mönchsgestalten, die als Basreliefs unter gothischen Spitzbögen zu beiden Seiten stehn, darauf hin. Immortellenkränze bedeckten fast gänzlich die beiden Körper; sie waren sehr geschickt gebunden, so daß die einzelnen Blumen eine Inschrift bildeten. Auf dem einen von ihnen las ich à ma soeur; auf einem andern stand à ma cousine. Fast alle Gräber des Père La Chaise sind reichlich mit solchen Kränzen geschmückt, die gewöhnlich unter einem Glasdache hängen, das auf einem gußeisernen Gestelle ruht. Keins jedoch war so reich bedacht, als das Grab der Liebenden; ein Beweis, daß noch nicht jeder Sinn für Poesie und Romantik in dem sonst so frivolen Paris erloschen ist. Als ich den Leichenstein sah, sang ein Vogel in den nahestehenden Cypressen. Es war ein kurzes, leises Pfeifen, ein erster Frühlingsgruß nach überstandener Winterzeit. Ich konnte mich nicht enthalten, von einem der Kränze, welcher in der Nähe des rings herumgehenden, eisernen Gitters lag, einige Blätter und Immortellen zum Andenken zu pflücken. Abälard’s und Heloisen’s Geschick ist schon von manchem Dichter besungen worden und verdient im höchsten Grade unsere Theilnahme und das Mitgefühl jedes liebenden Herzens. Aus Liebe zur Wissenschaft hatte er, aus einer edlen und begüterten Familie stammend, auf das Recht der Erstgeburt verzichtet. Ganz besonders beschäftigte er sich mit der scholastischen Philosophie, dem Hegelianismus des Mittelalters. Der junge Denker wurde wegen seiner Kühnheit und Freisinnigkeit überall bewundert und verfolgt. Später kehrte er nach Paris zurück und söhnte sich mit seinen Feinden aus. Um den berühmten Lehrer sammelte sich ein Schülerkreis, zu denen der nachmalige Papst CölestinII., Petrus Lombardus, Beranger und Arnold von Brescia gehörten. Um dieselbe Zeit lebte die schöne Nichte des Canonicus Fulbert in Paris, die berühmte Heloise; sie war erst siebzehn Jahre alt und durch ihre Reize wie durch ihren Geist berühmt und angestaunt. Abälard, der damals schon achtunddreißig Jahre zählte, wurde durch den habsüchtigen Oheim bei ihr eingeführt, zuerst ihr Hausgenosse und Lehrer, später ihr Geliebter. Er las mit ihr die griechischen und römischen Dichter und besang sie in glühenden Liedern. Zu spät erfuhr der Oheim das Glück der Liebenden, er wollte sie trennen, aber Abälard entführte das schöne Mädchen nach der Bretagne, wo sie ihm einen Sohn gebar. Heimlich vermählte er sich mit ihr und Heloise kehrte in das Haus des Oheims nach Paris zurück. Aus mißverstandenem Zartgefühl leugnete sie vor diesem ihr Bündniß und erregte dadurch von Neuem den Zorn des unversöhnlichen Canonicus. Er mißhandelte Heloise, die sich in ein Kloster mit Abälard’s Hülfe flüchtete, und ließ diesen aus Rache darüber, auf die grausamste Weise verstümmeln. Tief gebeugt durch den ihm angethanen Schimpf trat Abälard als Mönch in das Kloster St. Denis und bewog seine Geliebte, ebenfalls den Schleier zu Argenteuil zu nehmen. Neue Verfolgungen erwarteten ihn, als er seine Vorlesungen wieder zu halten anfing. Auf der Kirchenversammlung zu Soissons wurden seine Ansichten über die Dreieinigkeit als ketzerisch verdammt; er war seiner Zeit vorausgeeilt und darum der Märtyrer seines Geistes. Um Ruhe zu finden verließ er St. Denis und erbaute unweit Nogent an der Seine eine Kapelle, Paraklet genannt, welche er nach seiner Erwählung zum Abt von St. Gildas de Ruys Heloisen und ihren Klosterschwestern zum Wohnsitz überließ. Sein übriges Leben blieb ein fortwährender Kampf mit seiner Liebe und dem Hasse der fanatischen Mönche, bis er mit der Kirche ausgesöhnt als Muster strenger, klösterlicher Zucht im Jahre 1142 starb. Heloise, welche ihn noch zwanzig Jahre überlebte, erbat sich seinen

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 235. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_235.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)