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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

„Ich kann vor der Hand darauf verzichten. Aber die Auskunft möchte ich mir von Ihnen erbitten, wie Sie auf der Rückkehr aus dem mütterlichen Hause den Verfolgungen der Polizei entgehen konnten.“

„Hat es Ihnen die Frau von Wüsthof nicht mitgetheilt?“ fragte er.

„Ich möchte es aus Ihrem Munde hören.“

„Ausführlich?“

„So ausführlich, wie möglich.“

„Wohlan. Mein Aufenthalt bei meiner Mutter war verrathen. Ich mußte eilig flüchten. Ich hatte mich durch einen falschen Bart und andere Mittel schon unkenntlich gemacht, als ich zu Hause ankam. Man mußte meine angenommene Gestalt für meine wahre halten. So flüchtete ich auch; so konnte ich also auch nur verfolgt werden und es kam daher darauf an, in dieser Gestalt zu verschwinden, um unverdächtig in einer andern wieder zu erscheinen.“

„Sie bewerkstelligten das?“

„Ja.“

„Wo?“

„Auf der Eisenbahn zwischen R. und K.“

„Darf ich um die Details bitten?“

„Ich hatte zwar kein leeres, aber doch ein Coupé gefunden, in welchem nur ein einziger Reisender sich befand. Unmittelbar nebenan bemerkte ich ein Coupé, das gleichfalls nur von einer Person, einer Dame, besetzt war. Ich stieg in jenes ein. Was ich erwartet hatte, geschah. Mein Gefährte schlief ein. Ich nahm das wahr, sah aus dem Coupé, erblickte draußen Niemanden, stieg durch das Fenster und schwang mich unbemerkt in das Coupé der Dame. Ich entdeckte mich ihr. Ich gewann das Versprechen ihres Stillschweigens. Ich konnte die Veränderung meiner Gestalt bewirken.“

„Und der junge Mann in dem ersten Coupé? Kannten Sie ihn?“

„Nein.“

„Haben Sie mit ihm gesprochen?“

„Kein Wort.“

„Wie lange waren Sie bei ihm?“

„Etwa fünfzehn Minuten. Vielleicht länger.“

„Und in dieser Zeit sprachen Sie nichts mit ihm?“

„Er redete mich nicht an, und auch ich hatte keine Veranlassung dazu.“

„Er schlief so schnell ein?“

„Er schien ermüdet zu sein.“

„Er schlief also wirklich bald ein?“

„Er lag schon bei meinem Einsteigen in der Ecke des Wagens, und bald hörte ich seine Athemzüge, wie eines Schlafenden.“

„Darauf führten Sie Ihren Plan des Verschwindens aus dem Coupé aus?“

„Ja.“

„Und der Andere erwachte nicht?“

„Nein.“

„Wie sah dieser Andere aus?“

„Es war ein junger Mensch. Er schien mir Kaufmannsreisender zu sein.“

„Fiel Ihnen nichts an ihm auf?“

„Ich wüßte nicht.“

„Mein Herr,“ nahm ich mit erhobener Stimme das Wort, „Sie müssen gestehen, daß das, was Sie mir da erzählt haben, in Hohem Grade unwahrscheinlich klingt. Schon gleich Ihr ganzer Plan, wie wenig konnten Sie auf sein Gelingen rechnen –.“

Er unterbrach mich.

„Geben Sie sich keine Mühe weiter. Ich erkenne vollkommen das Unwahrscheinliche meiner Mittheilung an. Aber stellt meine ganze Lage, in der ich war, sich anders dar? Blieben mir, um mich daraus zu befreien, andere als die ungewöhnlichsten und darum unwahrscheinlichsten Mittel übrig? Mußte ich nicht gerade auf diese Unwahrscheinlichkeit rechnen?“

Er hatte Recht. Er hatte aber auch in so manchem Anderen Recht. Besonders in der Offenheit und Wahrheit, womit er mir auf meine Fragen antwortete. So konnte kein schuldbewußter Verbrecher sprechen; auch bei dem gewandtesten, dem vollendetsten Schurken war mir wenigstens, und ich hatte doch eine sehr reiche Erfahrung, ein solches freies und sicheres Benehmen noch nicht vorgekommen. Ich mußte meinen letzten Trumpf ausspielen; es blieb mir nichts Anderes mehr übrig.

„Mein Herr,“ begann ich wieder, „Sie haben sich nicht nach dem Grunde erkundigt, weshalb ich Sie hier inquirire.“

„Er ist mir gleichgültig, mein Herr,“ antwortete er in wirklich gleichgültigem Tone.

„Sie müssen ihn dennoch erfahren. Jenem Reisenden, mit dem Sie allein im Coupé waren, sind dort während seines Schlafes zwanzigtausend Thaler gestohlen worden.“

Ich hatte meinen letzten Trumpf ausgespielt. Aber ich hatte verlorenes Spiel. Ich hatte langsam, nachdrücklich gesprochen. Ich war dicht vor ihn hingetreten. Ich hatte ihn mit scharfem, tief in sein Innerstes dringendem Blicke angesehen. War er schuldig, ich mußte irgend ein Symptom entdecken. Ein, wenn auch noch so leiser Wechsel der Farbe mußte durch sein Gesicht ziehen. Sein Augenlid mußte zucken; seine Lippe oder sein Kinn, wenigstens der Kehlkopf, indem plötzlich der Athem ihm stockte, mußte sich bewegen, wenn auch noch so leise. Oder aber, wenn er ein vollendeter Schauspieler war und alle seine Muskeln voll in seiner Gewalt hatte, mußte er völlig unbeweglich bleiben, mit allen seinen Muskeln, mit seinem ganzen Körper. Jene wahren Bewegungen der Schuld gänzlich unterdrücken, und zu gleicher Zeit wahre Bewegungen der Unschuld machen, das war ein Ding der Unmöglichkeit.

Allein von allen jenen Zuckungen nichts. Dagegen fuhr er plötzlich heftig, fast wild auf. Gleich darauf stand er hoch, stolz vor mir und maß mich mit einem Blicke der Verachtung; sofort dann aber wieder, als wenn er einsehe, daß er zum Verachten keinen Grund habe, mit einem finsteren Nachsinnen.

„Mein Herr,“ sagte er darauf, „den Dieb werden Sie anderswo suchen müssen. Eduard D. hat einen zu guten Namen und er achtet sich und seinen Namen zu hoch, als daß er auf eine solche Anklage sich nur vertheidigen könnte. Haben Sie mir noch etwas zu sagen?“

Ich hatte mein Spiel verloren. Es war Eduard D., der vor mir stand, und dieser Eduard D. war kein Dieb.

Aber wer war dann der Dieb? Nur er oder Hertel, nur Einer von ihnen Beiden konnte es sein. Die Annahme eines Dritten war unmöglich. Kein Eisenbahnbeamter hatte es sein können; sie hatten sämmtlich oben auf den Wagen gesessen und Einer den Anderen gesehen. Die anderen Coupés des Waggons, in welchem Hertel sich befunden, waren voll besetzt gewesen. Kein Mensch war, auch nur auf einen Augenblick, daraus vermißt worden. An ein zweites, ähnliches Wagestück, wie Eduard D. es gemacht, war also gar nicht zu denken. Von außen, von der Straße her in das Coupé zu steigen, war, da der Zug keinen Moment angehalten hatte, wo möglich noch unmöglicher gewesen. Nur Hertel oder Eduard D., kein Dritter. Aber wer von Beiden?

Ich mußte es heraushaben. Ich mußte es sofort heraushaben.

Meine Aufgabe war schwieriger geworden. Wer von den Beiden auch der Dieb sein mochte, immer hatte ich es mit einem Schurken, so abgefeimt, so fest und sicher in allen Künsten der Verstellung zu thun, wie ich bisher noch keinem gegenüber gestanden hatte.

„Begleiten Sie mich,“ forderte ich den jungen Mann auf.

„Wohin?“ fragte er.

„Nach meinem Gasthofe.“

„Mein Herr, ich kann Ihnen vertrauen? Sie führen mich in keine Falle?“

„Wenn Sie nicht der Dieb sind, so werden Sie unangetastet bleiben. Mein Wort darauf.“

„Ich begleite Sie.“

Wir gingen zu meinem Gasthofe. Der Oberstin empfahl ich mit wenigen Worten, Ottilien keine Unruhe zu zeigen. Ein Resultat könne ich ihr noch nicht mittheilen.

Hertel logirte mit mir in demselben Gasthofe. Sein Zimmer lag indeß auf einem anderen Corridor. Ich war nicht mit ihm zusammen ausgegangen gewesen, hatte ihn auch veranlaßt, überhaupt wenig auszugehen und jedenfalls bestimmte Nachricht zurückzulassen, wo ich ihn sofort treffen könne Die Gründe hiervon lagen nahe.

Ich führte Eduard D. in mein Zimmer. Dieses war mit einem dicht verhangenen Alkoven versehen. In den letzteren mußte der junge Mann sich begeben. Ich forderte ihm vorher das Versprechen ab, was er auch hören werde mit keiner Bewegung, mit keinem Laute seine Anwesenheit zu verraten. Er versprach es. Ich ließ dann durch einen Kellner Hertel zu mir rufen.

Ich ging hierbei, indem ich den einen Verdächtigen zum Zeugen des mit dem anderen Verdächtigen abzuhaltenden Verhörs machte,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_230.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)