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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)


Wir haben noch Zeit, der Zug kommt erst in zwanzig Minuten auf der nächsten Station an. Erlauben Sie, daß ich Ihnen von meinen Schicksalen erzähle?“

„Ottilie nickte bejahend. Er erzählte ihr:

„Ja, ich bin ein Verbrecher. Ich betheiligte mich bei den Kämpfen für die Freiheit des Volkes im Jahre 1849. Wir wurden besiegt. Wäre der Sieg auf unserer Seite gewesen, mein Name würde vielleicht gefeiert werden. Jetzt wurde ich als der schwerste Verbrecher verhaftet, zur Untersuchung gezogen, zum Tode verurtheilt. Freunde befreiten mich aus der Haft, retteten mich. Seitdem ist der Verbrecher zugleich ein geächteter Flüchtling. Geächtet freilich nur in meinem Vaterlande. Aber mein Vaterland war, ist für mich so viel. Es war für mich Alles. Ich mußte darin eine alte, kranke Mutter zurücklassen, die mir nicht folgen konnte. Sie liebte mich so sehr, ich liebte sie über Alles. O, sie nur noch einmal wiedersehen – das war mein einziger Wunsch. Mein einziger. – O, ich habe ihn ja erreicht!“

„Der junge Mann mußte innehalten. Er wischte eine Thräne aus seinem Auge. Nach einer Weile fuhr er fort:

„Vor acht Tagen erhielt ich in meinem Asyle in der französischen Schweiz die Nachricht, daß meine Mutter schwer erkrankt sei. Ich achtete keine Gefahr mehr. Ich mußte sie sehen und sollte ich mit ihr sterben. Warum nicht mit ihr sterben? Ich flog zu ihr. Ich kam glücklich, unerkannt zu ihr hin. Aber ich kam an ihr Sterbelager; und doch noch früh genug, um den Segen der Sterbenden zu empfangen, um ihre Freudenthränen zu sehen, daß ihr einziger Wunsch erfüllt wurde, in den Armen des Sohnes zu sterben, gestern starb sie. Ihrer Leiche habe ich nicht mehr folgen können. Die letzte Erdscholle müssen fremde Hände auf ihr Grab werfen. Die Nachricht meiner Ankunft hatte sich verbreitet. Ich mußte schleunig das Mutterhaus, das Haus der todten Mutter verlassen. Ich gewahrte bald, daß ich verfolgt wurde. Ich mußte meine Verfolger irre führen. Sie mußten auf diesem Zuge meine Spur verlieren. Ich stieg in der Gestalt, in der ich das Mutterhaus verlassen hatte, in ein Coupé nebenan ein. Es war außer mir nur noch ein Reisender darin. Ich nahm den Augenblick wahr, als er schlief. Ich stieg aus dem Coupé; ich kam hierher zu Ihnen. Ich konnte mein Aeußeres verändern. Niemand wird mich wieder erkennen, wird mich nur darauf ansehen, daß ich der Entflohene, Verfolgte sei. Aber nur unter einer Voraussetzung. Es ist die, Fräulein, daß Sie mich nicht verrathen, daß Sie verschweigen, was Sie hier gesehen und gehört haben. Versprechen Sie es mir. Retten Sie mich ganz. Sie retten keinen Unwürdigen.“

„Er nahm die Hand Ottiliens. Sie versprach ihm Alles.

„Der Zug war in K. angekommen. Der Fremde hatte ihn frei und ungehindert verlassen.

„Ich fand Ottilien noch angegriffen, aufgeregt. Ich fuhr gleich mit ihr weiter. Erst nach und nach konnte ich sie beruhigen. Doch nein. Ihr Herz ist seit dem Augenblicke nicht wieder ruhig geworden. Das Bild des Flüchtlings, des edlen, traurigen Menschen, der zum Tode verurtheilt war, der dem Tode getrotzt hatte, um seine sterbende Mutter wiederzusehen, der die noch kaum erkaltete Leiche fremden Händen hatte überlassen müssen, der gehetzt wie ein wildes Thier, wie ein Edelwild umherirren mußte, um das Leben zu retten – ach, mein Freund, das Bild saß tief und fest in ihrem Herzen; es war nicht mehr daraus zu vertilgen; es konnte nur erbleichen, wenn sie selbst erblich. Und sie schwand in der That immer mehr dahin; ich fürchtete für ihr Leben. Tage lang flossen die Thränen des kranken Kindes. Anfangs still. Sie verschloß ihr Geheimniß in ihrer Brust. Endlich entriß ich es ihr. Ich sah in einen tiefen Abgrund; ich sah darin nur ihr Grab. Wer war der Fremde? Sie wußte nicht einmal seinen Namen. Er war brav, edel; ich gab es zu; von dem Diebstahle war uns nicht einmal ein Gerücht zu Ohren gekommen. Aber liebte er Ottilien wieder? Und wenn, konnte er sie heirathen? Würde ihr Vater seine Einwilligung zu ihrer Verbindung mit einem zum Tode verurtheilten, landesflüchtigen Hochverräther geben? Sie wurde kränker, elender. Sie gestand mir, sie müsse sterben, wenn sie ihn nicht wiedersehe; sie träumte zuletzt nur noch von ihrem Tode, aber in seinen Armen, in denen auch seine Mutter gestorben war. Vieles in dieser Ueberspannung war ihrem kranken und deshalb reizbaren Wesen zuzuschreiben. Aber war ihr Zustand darum besser, weniger hoffnungslos? Ich wußte keinen Rath, ich hatte keine Hoffnung mehr. Ich war schon entschlossen, mit ihr nach der französischen Schweiz zu reisen.

„Da – gestern vor acht Tagen – kam er auf einmal hier an. Ottilie hatte ihm beim Abschiede gesagt, daß Baden das Ziel unserer Reise sei. Er hatte uns aufgesucht. Welch’ ein Wiedersehen war das! Zuerst starrte sie ihn an, wie ein Gespenst. Dann hielt sie nichts mehr von ihm zurück. Sie sprang auf, sie flog in seine Arme. Sie umfaßte ihn krampfhaft. Er hielt eine Ohnmächtige. Als sie wieder zu sich kam, hatte sie nur eine Fluth von Thränen. Aber unter ihren Thränen sagte er ihr, daß es ihm keine Ruhe gelassen, daß er, wie seine Mutter, noch einmal seine Retterin habe wieder sehen müssen und sollte dies zehnmal sein Leben kosten.

„Was soll ich Ihnen noch weiter erzählen, mein Freund? Wie in ihrem, so brannte auch in seinem Herzen die heftigste, die heißeste Liebe!

„Und was sollte ich machen? Wollte ich Ottilien nicht unter meinen Händen sterben sehen, so durfte ich sie nicht von ihm trennen. Wir schrieben an ihren Vater. Ich sagte ihm Alles, auch Ottiliens Zustand, auch was ich befürchten müßte. Ich erwarte jeden Augenblick die Antwort. Ich glaube, daß er einwilligen wird. Sie ist sein einziges Kind, und er liebt sie zu zärtlich.

„Und jetzt, mein Freund, kommen Sie mit Ihrer vernichtenden Nachricht. Das war also alles Trug, jener Edelmuth, jene Trauer, jene Liebe. Alles ordinairer, gemeiner Betrug eines gemeinen Verbrechers, eines Diebes, der vielleicht dem Zuchthause entsprungen war! Als ich Sie zu mir eintreten sah, glaubte ich, Sie suchten den Hochverräther. Und jetzt! O, die arme, arme Ottilie!“

Die Oberstin schwieg.

„Die arme Ottilie!“ mußte auch ich wiederholen. Ich hatte das reizbare, kranke Kind ja gesehen. Ich war Zeuge ihrer tiefen Leidenschaft gewesen. Es konnte auch mir kein Zweifel bleiben: die Enttäuschung war hier der gewisse Tod.

Was machen? – das war eine ganz andere verzweifelte Lage, wie in K., als es galt, den Dieb zu entdecken. Der Dieb war jetzt da. Aber was nun? Allein war der junge Mensch wirklich der Dieb? Er sah so edel aus. Alles, was man von ihm wußte, trug den Stempel eines braven, offenen Charakters; seinem Betragen war nicht der geringste Vorwurf zu machen. Aber wie viele Spitzbuben, gerade die gefährlichsten, hatte ich kennen gelernt, mit edlen Gesichtern, vortrefflichen Manieren und einem lange Zeit zur Schau getragenen musterhaften Charakter. Und wie viele solche Industrieritter trieben sich jeden Winter in den Residenzen und jeden Sommer in den Bädern umher. Ein Anderer konnte der Dieb nicht sein. Also entweder war er es, oder Hertel hatte den Diebstahl vorgespiegelt. Zu der Annahme des letzteren hatte ich nicht den geringsten Grund, es mußte mir nach allen meinen sorgfältigen Beobachtungen und Ermittelungen in R. und Umgegend völlig unwahrscheinlich sein. Dazu kam, daß ich dort von einem verfolgten politischen Flüchtlinge nichts vernommen hatte; doch konnte ich freilich hierauf kein großes Gewicht legen, da ich mich überhaupt um nichts Anderes als um den Diebstahl bekümmert hatte. Dennoch war es nicht unmöglich, daß Hertel selbst der Verbrecher war.

„Wie heißt der junge Mann?“ fragte ich die Oberstin.

„Sie werden ihn als politischen Flüchtling nicht reclamiren?“ fragte sie zurück.

„Nein.“

„Er heißt Eduard D–“

Das war allerdings der Name eines der am meisten gravirten politischen Flüchtlinge. Er war zum Tode verurtheilt. Sein Name und sein Signalement waren jedem Polizeidiener und Gensd’armen in ganz Deutschland bekannt. Wurde er ergriffen, so war, wenn auch vielleicht nicht der Tod, doch die längste[WS 1] Zuchthausstrafe sein gewisses Loos. Aber er war zugleich als ein vermögender Mann bekannt und galt für einen der tüchtigsten und reinsten Charaktere. Eduard D. konnte kein gemeines Verbrechen begehen; er konnte nicht der Dieb sein. War der junge Mann, um den es sich handelte, wirklich der Dieb, so hatte er diesen Namen angenommen, so war er also auch ein um so gefährlicherer Verbrecher. Gleichwohl paßte auf ihn das Signalement von D., das mir wieder lebhaft in Erinnerung kam; und diesem war auch wohl das Gefühl und der Muth zuzutrauen, die ihn an das Sterbebette der Mutter geführt hatten.

(Schluß folgt.)

Anmerkungen (Wikisource)

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 220. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_220.jpg&oldid=- (Version vom 30.7.2017)