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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

in das Leichenhaus brach und die Leiche thätlich beschimpfte, die Leiche des größten deutschen Mannes! Dreißig Schritte vom Hause, wo diese Schandthat geschah, steht jetzt das herrliche Standbild von Erz, das Lessing’s Züge treu der vernünftigen und humanen Nachwelt überliefen.

Gedankenvoll wanderte ich in eins der schönsten Thäler des Fichtelgebirges, in das der Steinach, ein. Das Wandern auf Gebirgswegen erfrischt mich stets ungemein, und so langte ich denn am Spätnachmittag in einem hochgelegenen Dorfe an, wo ich mein Nachtlager aufzuschlagen gedachte, um in der frischen Frühe des folgenden Morgens den Ochsenkopf zu besteigen und die Quellen der vier Flüsse zu besuchen, welche von diesen Berghöhen nach den vier Weltgegenden ausgehen, der Main, die Saale, die Eger und die Raab. – Das Fichtelgebirge ist das kleinste Gebirge in Deutschland, und doch hat kein anderes so viel heimlich süße Romantik, so viel echte Bergpoesie.

Das Dorf Warmensteinach ist in mehrfacher Hinsicht merkwürdig. Erblich ist der obere Theil desselben katholisch und hat eine katholische Kirche, der untere Theil dagegen protestantisch, und hat eine lutherische Kirche, Sodann liegen die Häuser des Dorfes nicht, wie in der Regel die anderer Gebirgsdörfer, im Thale hübsch nachbarlich in Reih und Glied bei einander, sondern an den Bergwänden rechts und links und auf den Höhen so einzeln und weit von einander zerstreut, daß man eine volle Tagereise braucht, um jedes Haus nur auf einige Minuten zu besuchen. Dieser Umstand gibt begreiflicher Weise dem Dorfe ein sehr malerisches und fremdländisches Ansehen. Eine dritte Merkwürdigkeit sind die vier Paterlesfabriken, armselige, am klaren Bachgerinne, dessen Wasser sie nöthig haben, gelegene Hütten.

„Was ist eine Paterlesfabrik?“ fragen die Leser verwundert. Paterles sind massive Glasperlen von mannichfacher Größe, Form und Farbe; die meisten in Größe und Rundung einer Sauerkirsche ähnlich. Die zunächst häufige Form ist die von Tauben- und Hühnereiern. Endlich werden noch ganz kleine Ringe von Glas in großer Masse fabricirt, so klein, daß sie auch nicht an den Finger eines zweijährigen Kindes gesteckt werden können.

Die vierte und für mich größte Merkwürdigkeit von Warmensteinach ist ein altes, kleines, unscheinbares Haus, in den Eingang eines engen, düstern Seitenthalgrundes hart an die steile mit Tannen dicht bewachsene Berghöhe angedrückt; doch davon will ich nachher reden.

Ich besuchte eine der Paterleshütten. Ein mächtiger Ofen, aus Stein und Lehm in Häuserform erbaut, hatte ringsum 32 Oeffnungen. Im Ofen loderte ein Feuer, „als gält’ es Felsen zu verglasen.“ Hinter jeder Oeffnung über der Gluth erblickte ich eine thönerne Pfanne mit geschmolzener Glasmasse, jede anders gefärbt. Vor jeder Oeffnung saß ein Mann mit einer eisernen Spindel in der Hand, eine andere lag neben ihn, in einem Kästchen mit nassem Thon. Auf der Base hatte er eine Brille, um die Augen vor der Feuerhitze zu schützen. Abwechselnd bald mit der einen, bald mit der andern Spindel tauchte er in die weiche feurige Glasmasse im Ofen und drehte eine Perle in der Form, die ihm beliebte, ganz aus freier Hand. Daß dazu eine nur durch lange Uebung zu erlangende Geschicklichkeit gehört, leuchtet sogleich ein. Die fertige Perle fiel in ein vor der Ofenöffnung angebrachtes Kästchen; der Mann legte die erhitzte Spindel bei Seite und ergriff die andere, tauchte ihre Spitze erst in den nassen Thon, dann in das flüssige Glas und drehte eine Perle. Diese spielende Arbeit geht außerordentlich schnell von der Hand. Ich habe vergessen, wie viele hundert Perlen jeder Arbeiter täglich drehen kann, aber ihre Anzahl setzte mich in Erstaunen und läßt sich nach dem Preise bemessen, welchen der Mann täglich verdient. Der geringste Lohn für Anfänger ist nämlich 42 Xr. rhein., der höchste für den vollendeten fleißigen Arbeiter 1 fl. 45 Xr. rhein.

Ich stand und sah dem rührigen Schaffen der Leute zu, als ich eine Hand auf meiner Schulter fühlte. Mich umwendend, sah ich in das hagere alte Gesicht meines neuen bekannten Unbekannten aus Streitberg und Gößweinstein.

„Wissen Sie auch,“ fragte er mit seinem vertraulichen Tone, „wozu diese Glasperlen zumeist verwendet werden?“

„Wozu anders als zu weiblichem Schmuck, zu Hals- und Armbändern?“ versetzte ich.

„Fehlgeschossen!“ Und mit heiserer Stimme fuhr er leise und meinem Ohre nahe fort: „Zu Rosenkränzen! Die ganze katholische Christenheit, als da vorzüglich sind die österreichischen Staaten, Belgien, Italien, Frankreich, Spanien, Portugal, Brasilien, Mexico, bezieht ihren Bedarf an Rosenkranzmaterial aus diesem Thale. Ja, mein Bester, in diesen unscheinbaren Glashütten werden Jahr ein Jahr aus Millionen Merkkügelchen für Millionen Gebete der alleinseligmachenden Kirche gedreht, und zwar von sündhaften protestantischen Händen; denn nur hier in dem lutheranischen Unterdorfe werden die Paterles von Ketzern gemacht: das katholische Oberdorf fabricirt keine. Wär’ es anders, die Fülle des Segens, die, ob solcher gottseliger Arbeit, auf diese Hütten und Perlendreher sich senken müßte, hätte ihres Gleichen in der Welt nicht; aber so – Sie sehen, wie ärmlich hier Alles aussieht!“

„Woher haben aber diese Perlen den seltsamen Namen Paterles?“ fragte ich meinen, wie es schien, gut unterrichteten neuen Bekannten.

„Eben vom Rosenkranz, der ja, wie Ihnen bekannt sein wird, von dem Gebete aller Gebete, dem Vaterunser, lateinisch Paternoster genannt wird. Das „noster“ wurde von dem Volksmund apokopirt und das Pater für die einzelne Perle mit der süddeutschen Diminutiv-Endung versehen, so entstand das neue Wort „Paterlein, Paterle.“ Cicero und die altrömischen Grammatiker hätten sich freilich nicht träumen lassen, daß das altgriechische in ihre Sprache übergegangene Wort pater im Fichtelgebirge eine solche naive Umwandlung erfahren und eine kleine Glasperle bedeuten würde. So haben auch Worte ihre wunderlichen Schicksale.“

„Und werden blos Rosenkränze aus den Paterles gemacht?“

„O nein! Sie hatten recht, auch Hals- und Armbänder in großer Anzahl. Namentlich werden die eiförmigen zu solchem Schmuck verwendet. Aus demselben Tiegel entwickeln sich die Mittel der Frömmigkeit und der Eitelkeit, und der Rosenkranz in der Hand der knierutschenden Amarant ist aus demselben Stoff wie das Halsband an ihrem Halse. Mit jenem will sie Gott gefallen, mit diesem dem Manne. Himmel und Erde liegen immer dicht neben einander, ja gehen in einander über, und Heiliger und Weltkind werden aus einem Topfe gespeist. Einer meiner Freunde aus diesen Bergen sah in der Hand der Kaiserin von Brasilien in der Kathedrale zu Rio de Janeiro einen prächtigen Rosenkranz und erkannte nicht ohne patriotischen Stolz in den Kugeln Paterles aus Warmensteinach. Hernach kam er auch auf die Gesellschaftsinseln und an den Hof der Königin Pomare. Diese prächtige dunkle fürstliche Dame war mit Perlenschnüren von grüner, rother, gelber und blauer Farbe fast ganz bedeckt. Es waren dabei welche aus Perlen von der Größe eines großen Hühnereies. Wie wuchs meinem Freunde der vaterländische Kamm, als er in diesem herrlichen Schmucke abermals Warmensteinacher Paterles erkannte! O mein Deutschland, wie bist du so reich! Die Kaiserin von Brasilien betet und die Königin von Otahiti schmückt sich aus dem irdenen Tiegel, der in diesem Ofen alte Glasperlen schmelzen läßt.“

„Von solcher Wichtigkeit sind diese Glasperlen!“ rief ich verwundert aus.

„Fragen Sie nur die speculativen protestantischen Herren von Nürnberg, die hier für ihre Rechnung arbeiten lassen, welchen Absatz sie davon nach Westindien, Südamerika, den Südsee-Inseln und Centralafrika haben, und Sie werden noch mehr erstaunen. Tag und Nacht wird in diesen vier Hütten gearbeitet, und doch ist nirgends Vorrath. Wie warme Semmeln gehen die Paterles ab. – Ganz unerklärlich bleibt die Verwendung der Paterles in der eigenthümlich kleinen Ringform. Dieser Artikel ist in der Levante, Berbern, Egypten, Ostindien und Südamerika so stark begehrt, daß man den jährlichen Absatz in dieser Sorte allein mit 1500 Centnern nicht zu hoch anschlägt, und 1000 Stück wiegen erst 1¼ bis 1 Pfund. Was machen die Leute dort damit? Jederfalls erstreben auch sie fromme und eitle, himmlische und weltliche Zwecke mit Glasringen, wie ihre Mitmenschen anderwärts mit Glasküglein. London, Paris, Leipzig, Frankfurt und Barmen beziehen meist nur kleine runde schwarze Perlen, deren Masse der Lava nachgeahmt ist, woraus dann an den genannten Orten Armbänder für die civilisirten Damen Europas fabricirt werden. Man darf den jährlichen Umsatz der vier Fabriken in Warmensteinach auf viele hunderttausend Gulden rhein. anschlagen.“

„Eine artige Summe!“ sagte ich mit voller Anerkennung, „zumal wenn man bedenkt, daß das Material nur wenig kosten kann.“

„Der Betrag ist kaum in Anchlag zu bringen. Meist entsteht diese ganze gläserne Herrlichkeit aus alten Glasscherben, die

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 208. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_208.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)