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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

ohne etwas zu genießen, in ein dumpfes Hinbrüten versunken sei. Er sei geblieben, theils um den Ortsbehörden noch etwa weiter erforderliche Auskunft zu geben, theils um Befehle von seinem Principal zu erwarten. Ich ließ mich zu ihm führen, und zwar ohne daß ihm vorher meine Ankunft bekannt wurde. Allerdings konnte Alles, was ich sowohl von seinem Principal über ihn erfahren hatte, als was ich hier hörte, mir nicht den geringsten Anhalt zu einem Verdachte gegen ihn geben; gleichwohl durfte ich keine einzige Rücksicht, auch nicht die entfernteste Ahnung eines Verdachts aus den Augen verlieren, wenn ich mit Sicherheit, mit irgend einer Hoffnung auf einen Erfolg weiter verfahren wollte.

Ich traf einen jungen Mann von etwa vier bis fünf und zwanzig Jahren. Sein Aeußeres entsprach dem Bilde, das ich mir, nach der erhaltenen verschiedenen Auskunft über ihn, von ihm gemacht hatte. Er war ein hübscher Mensch mit einem Gesichte, in welchem sich Verstand, aber auch ein stilles bescheidenes Wesen, und zugleich, wie es mir schien, eine für seine Jugend seltene Festigkeit des Willens aussprach. Er war in seinem Zimmer allein, mit Schreiben beschäftigt; sein Aussehen war das großer Niedergeschlagenheit. Er machte nur einen vortheilhaften Eindruck auf mich, und der Gedanke eines Verbrechens von seiner Seite entfernte sich immer mehr von mir. Ganz aufgeben durfte ich ihn auch jetzt nicht; allein ich mußte mir beinahe Mühe geben, ihn noch weiter festzuhalten.

Ich nannte mich ihm. Er sprang rasch auf, als er meinen Namen hörte. Ein Strahl von Freude leuchtete aus seinen Augen.

„Gottlob!“ rief er, „Sie kommen auf Veranlassung von Herrn B. Ich hatte es erwartet, da ich weiß, daß Sie mit ihm befreundet sind. Er hat mir nicht geantwortet. Ich war in einer entsetzlichen Angst. Er ist unglücklich geworden, durch mich! Er wird es werden, ich weiß es; wenn Sie keine Hülfe bringen können. Aber Sie werden gewiß helfen.“

Ich hatte ihn absichtlich nicht unterbrochen. Aber auch in seinen Worten lag nichts, was Verdacht gegen ihn erregen konnte. Es schien mir im Gegentheil natürlich zu sein, daß er gerade den geäußerten Gefühlen und in solcher Weise Luft machte, nachdem er seit vier und zwanzig Stunden sein Herz gegen Niemanden über den schweren Unfall und dessen Folgen vollständig hatte ausschütten können. Ich forderte ihn auf, mir vor allen Dingen genau den Hergang der Sache zu erzählen, mit allen, auch dem Anscheine nach unbedeutendsten Einzelnheiten. Er erzählte.

Er hatte, nachdem er vor etwa acht Tagen die Residenz verlassen, anfangs nur kurze Tagereisen gemacht, indem er in der benachbarten Gegend zu beiden Seiten der Eisenbahn mehrere Geschäfte zu besorgen hatte. So war er vorgestern Abend bis R. gekommen, und hatte dort die Nacht im Gasthofe logirt, um am nächsten Morgen mit dem ersten Eisenbahnzuge nach K. abzureisen. Von K. aus hatte er dann die Eisenbahn ganz zu verlassen, und zum Zweck seiner bedeutenden Einkäufe sich tiefer in das Land hinein, zu den zerstreut wohnenden großen Gutsbesitzern zu begeben. Erst da hatte er von der für diese Ankäufe von seinem Herrn ihm anvertrauten Summe von zwanzigtausend Thalern Gebrauch zu machen. Er trug deshalb bis dahin diese Summen, die in Cassenscheinen und Banknoten bestand, in seiner Brieftasche in der Art vorsichtig und wohlverwahrt bei sich, daß er die Brieftasche zuerst in Leinwand eingenähet und sie dann wieder inwendig unter den Brustlatz seines Rockes festgenähet hatte. So konnte sie ihm, ohne daß er es vorher gewahren mußte, gar nicht entzogen, ja, sie konnte ihm nur unter Anwendung einer Gewalt entrissen werden, welcher er immer, schlimmstenfalls durch Herbeirufen von Hülfe, begegnen konnte. Er hatte das gemeint. Der Zug, mit dem er von R. abfahren wollte, traf dort um 8 Uhr Morgens ein und fuhr nach einem Aufenthalte von zehn Minuten weiter. Hertel hatte sich, um ihn nicht zu versäumen, zeitig auf den Bahnhof begeben, war dort zehn Minuten vor acht Uhr angekommen und hatte sich, nachdem er das Fahrbillet gelöset, zu der Stelle begeben, wo der Zug hielt und wo eingestiegen wurde. Dort warteten schon mehrere Fremde, die gleich ihm der Ankunft des Zuges entgegensahen. Ohne mit Jemandem zu sprechen, hatte er nur sehr flüchtig auf sie geachtet und erinnerte sich nur, daß es etwa acht bis neun Personen gewesen waren, Männer und Frauen, dem Anscheine nach Bürger aus dem Städtchen und Landleute aus der Gegend.

Der Zug war pünktlich um acht Uhr angekommen. Hertel, ein Fahrbillet zweiter Classe in der Tasche, hatte sofort ein Coupé aufgesucht. Der Zug war schwach besetzt; nur in einigen Coupés zweiter Classe befanden sich Personen, mehrere waren ganz leer. Er hatte sich in eins der letzteren begeben, theils weil er in den andern entweder Familien mit Kindern oder Personen traf, von denen er sich keine angenehme Unterhaltung versprach, theils weil er aus Abneigung gegen fremde Bekanntschaften gern allein sein wollte. Er war indeß nicht allein geblieben. Kurz vor dem Abgange des Zuges hatte ein Bahnwärter noch einen Reisenden zu ihm in das Coupé einsteigen lassen. Gleich darauf war der Zug abgefahren.

Dieser Reisende spielte die Hauptrolle in der Angelegenheit, die ich bis auf ihren letzten Grund zu erforschen hatte. Hertel mußte mir ihn daher ganz genau beschreiben. Es war ein ziemlich großer, noch junger Mann gewesen, etwa in dem Alter Hertel’s. Sein Gesicht war blaß gewesen, die Gesichtszüge ziemlich regelmäßig, wie Hertel hatte bemerken können, trotzdem daß ein großer schwarzer Bart fast den ganzen untern Theil des Gesichts bedeckte und der Fremde eine Mütze von dunkler Farbe mit einem großen Schilde tief in die Stirn gedrückt hatte. Die Kleidung konnte der junge Kaufmann im Uebrigen nicht näher bezeichnen. Er glaubte nur, sich zu erinnern, daß er unter dem grauen Staubmantel einen Rock von heller Farbe bemerkt habe. Der Fremde hatte einen kleinen Nachtsack bei sich getragen. Sein ganzes Aeußere war ein durchaus anständiges.

Er war schweigend eingestiegen und hatte Hertel, den er schon antraf, nicht einmal begrüßt, war auch an dem Schlage, durch welchen er eingestiegen, sitzen geblieben, und hatte, so lange der Zug noch hielt, still vor sich nieder geblickt, nachdem sich aber die Wagen in Bewegung gesetzt, hatte er sich eine andere Lage gegeben. Das Coupé war, wie die Coupés zweiter Classe auf den meisten norddeutschen Eisenbahnen, schmal und bestand nur aus zwei langen, einander gegenüber befindlichen Polsterbänken, die nur durch einen engen Zwischenraum getrennt waren. Hertel hatte auf der einen Bank gesessen; der Fremde aber seinen Platz auf der Bank gegenüber genommen. Beide befanden sich jedoch nicht einander unmittelbar gegenüber, jeder saß vielmehr an dem entgegengesetzten Schlage. Gleich nach der Abfahrt des Zuges nun hatte der Fremde es sich bequemer gemacht, sich der Länge nach auf seiner Bank ausgestreckt, seinen Reisesack unter seinen Kopf gelegt, und so wie auf einem Ruhebette gelegen. Dem Anscheine nach war der Fremde auch bald eingeschlafen, denn er bewegte sich nicht, und Hertel hatte tiefere Athemzüge, wie die eines Schlafenden gehört; von dem Gesichte aber hatte er nichts mehr sehen können; der Fremde hatte die Mütze mit dem langen Schirme tiefer hineingezogen, so daß Schirm und Bart es jetzt ganz verdeckten.

Die Station von R. nach K. ist eine lange; sie hat einige bedenkliche Strecken, auf denen man nur langsam fahren kann; man fährt beinahe eine Stunde darüber.

Es war ein heißer Junimorgen; Hertel hatte in R. noch bis in die Nacht hinein seine Geschäfte geordnet; ich fand in der That sein Tagebuch bis zu dem Moment, wo er in R. angekommen, auf das vollständigste abgeschlossen; er hatte unruhig geschlafen und war am Morgen früh aufgestanden. Es konnte nicht Wunder nehmen, daß er unter der einförmigen Bewegung des Wagens gegenüber dem Schlafenden ebenfalls einschlief. Er hatte sich gleichwohl nicht ohne Vorsicht dem Schlafe hingegeben. Nicht nur hatte er sich vorher überzeugt, daß er seine Brieftasche mit ihrem werthvollen Inhalte noch unberührt und fest angenähet an ihrer Stelle trage; er hatte auch, bevor er sich auf der Bank zurücklegte, seinen Rock vollständig zugeknöpft und außerdem die Arme über der Brust fest verschränkt. So glaubte er, als er dem Schlummer nicht ferner widerstand, seinen Schatz unter einem dreifachen sicheren Schutze. Wer ihn finden wollte, mußte ihm zuerst die gekreuzten Arme auseinander winden, dann den Rock aufknöpfen, und endlich die festen Näthe trennen, mit welchen die Brieftasche eingenähet war. Das Alles konnte er sich kaum möglich denken, ohne daß er dabei aufwachen müßte. Dazu kam, daß er den einzigen Menschen, der mit ihm in dem Coupé war, und der zudem ein vollkommen unverdächtiges Aeußere hatte, für fest

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