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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

ist, schiff- und nadelwaldartige Zacken. Daß die scheinbaren Maschen nicht eisfreie Lücken zwischen den Eisfäden sind, erkennt man leicht; sie sind mit dünnem Eis belegt. Zuweilen bemerkt man an dem Spitzengrunde, besonders wenn man ihn bei schief durchfallendem Lichte betrachtet, Spuren von Gruppirung gewisser Partien zu Gestalten, die an die isländische Flechte oder an Damhirschgeweihe erinnern.

5) Die ganze Glasscheibe ist mit einem dichteren Eisbelege überzogen, der unregelmäßig eckige, zuweilen fast rautenförmige Figuren bildet, die zum Theil matt, zum Theil perlmutterglänzend aussehen und auffallend dem Metallmohr der Präsentirteller oder dem Moiré gewisser Damenkleiderstoffe ähnlich sind. Diese moirirten Figuren sind gewöhnlich mit mehlartigem Schneestaube mehr oder weniger dicht bedeckt.

Da keiner der freundlichen Leser, der soviel Natursinn hat, um diese Vorgänge überhaupt zu beachten, sich mit der bloßen Betrachtung der Figuren begnügen wird, vielmehr wünscht, etwas über ihr Werden zu erfahren, so soll hier aus die hauptsächlichen Punkte, auf die es bei der Bildung derselben ankommt, aufmerksam gemacht werden, zumal da die physikalischen Lehr- und Lesebücher diese für die Hausphysik wichtige Erscheinung unberücksichtigt lassen.

Das Gefrieren der Fenster tritt nicht schon dann ein, wenn die äußere Luft auf den Gefrierpunkt erkaltet ist, sondern erst bei wenigstens 4° Grad Kälte derselben. Nur dann erkalten die Glasscheiben, welche von innen Wärme bekommen, bis zum Nullpunkte. Gewöhnlich beginnt im mittleren Deutschland die Bildung des Fenstereises nicht vor dem November und dauert nicht länger als bis zum März; am häufigsten und dichtesten sind die Eisvorhänge im Januar. Je klarer und heller gestirnt eine Winternacht ist, desto sicherer darf man erwarten, daß die Eisblumen-Beete treiben werden. Bei recht kaltem Wetter dauert der Proceß den ganzen Tag fort, zuweilen hat der Ofen auf Viertelstunden die Oberhand und schmilzt ein Guckloch für die Kinder, aber bald bedeckt sich dieses wieder mit einem Vorhange, den die Kinder vergeblich durch Behauchen zu lüften versuchen.

Immer gefrieren die untersten Scheiben eines Fensters zuerst, und die Eisbildung an jeder einzelnen Tafel beginnt stets von ihrem untern Rande. Die Ursache dieses Aufwärtsschreitens des Frostes ist dieselbe, die früher beim Bethauen angeführt wurde.

Die ersten Eistheile bilden sich stets da, wo die Glastafel in den untersten Querstab des Rahmens eingelassen ist, wie wenn sie am Holze wurzelten. Wenn eine Scheibe oben, wo sie eine Zeit lang blank blieb, später auch zu beeisen anfängt, wurzeln die ersten Eiskeime oben an der Holz und Glasgrenze und wachsen nach abwärts den unteren entgegen. Jeder Stoff, der aus dem flüssigen in den festen Zustand übergeht, sucht sich einen festen Fußpunkt aus, wenn dies irgend möglich ist. Gefriert ein Teich zu, so fängt die Eisbildung am Rande desselben an; bleibt eine Eisscholle des Baches in der Mitte des Teiches liegen, so wird auch sie zum Fußpunkte für junge Eisstrahlen. Dampft man eine Salzlösung in einem Gefäße ab, so krystallisirt das Salz zuerst am Rande des Gefäßes. Zwei Ursachen scheinen am Fenster diese Vorliebe der Krystallursprünge für den Rand zu bewirken, zuerst die bei der Besprechung des Thauens erwähnte Adhäsion (Anziehungskraft), und dann der Umstand, daß die Ränder der Glastafel, wegen ihrer Nähe an dem warmhaltenden Holzrahmen, weniger dicht bethauen und die geringere Menge Wasser, das sich an sie gelagert, schneller zum Frostpunkte erkalten.

Daß die äußeren Scheiben des Doppelfensters weniger gefrieren, als die Scheiben eines einfachen Fensters in demselben Zimmer, erklärt sich aus dem geringeren Wassergehalte der im Doppelfenster-Raum eingeschlossenen Luft. Je weniger eine Luft wasserhaltig ist, desto stärkere Erkaltung ist nöthig, um sie zum Niederschlage zu bewegen. In der feuchten Atmosphäre Englands genügt meist das Zuströmen einer um wenige Grade kühleren Luftschicht, um Nebel und Regen zu bilden; aus der trockenen Luft Persiens oder gar der Wüste Sahara oder Gobi bringt selbst eine Erkaltung von 20 und mehr Graden keinen Niederschlag hervor. Am einfachen Fenster herrscht Insel- oder oceanisches Klima, im Doppelfenster dagegen continentales Klima, wie die Geographen diese Unterschiede benennen.

Die Ursache davon, daß hinter einem Schirme von Pappe, selbst hinter dem papiernen oder linnenen Rouleau die Fenster früher und dicker gefrieren, liegt augenscheinlich darin, daß jene schlechten Wärmeleiter die Zufuhr der Ersatzwärme vom Zimmer her abschneiden.

Ehe wir uns an die Auflösung des schwierigsten Räthsels wagen, welches der Winter in seiner Eisblumensprache aufgibt, wollen wir ein Bekenntniß unserer Schwäche ablegen, damit nicht der Räthselmann unsere Vermessenheit mit kaltem Spotte belache! Die Morphologie, (die Wissenschaft, welche die Gestalten der Naturdinge erforscht) stößt, wie jede andere Wissenschaft, die nicht blauen Dunst für Klarheit ausgibt, zuletzt auf Unerforschliches. Die letzten Ursachen, warum die verschiedenen chemischen Stoffe in verschiedenen regelmäßigen Gestalten, auftreten, warum z. B. das Kochsalz und das Gold als Würfel, der Smaragd und der Bergkrystall in sechsseitigen Säulen krystallisiren, sind ebenso unbegreiflich, als die Gründe, warum an dieser Stelle des bebrüteten Eies sich ein Herz und dort ein Auge bildet. Es gibt aber in der Natur so Vieles, was der Menschengeist erforschen kann, daß ein bescheidener Mann nicht faustisch zu grollen braucht, wenn er vor den letzten Ursachen sein Unvermögen einsieht. Ein solcher Faust gleicht in der That einem frisch gefangenen Rotkehlchen, welches immer wieder mit aller Wucht an die Fenstertafel stößt, deren Schranken es nicht sieht oder nicht erkennen will.

So wollen wir es denn als unerklärbare Thatsache annehmen, daß das Wasser in der Atmosphäre, wo es von keinem Widersacher gestört wird, in Formen krystalisirt, die im Wesentlichen denen des Bergkrystalles entsprechen. Die wunderbar schönen Schneesternchen, die man beobachtet, wenn an kalten Tagen recht einzelne Flitterchen herabfallen, zeigen diese Grundform, die wir als Norm annehmen, in mannigfachen zierlichen Variationen. Jedes läßt die Grundform durchblicken, wie die musikalische Variation ihr Thema, aber oft mit Zugaben von Zierrathen und Beiwerk. Auch der Reif, der an Brückengeländern und andern Gegenständen im Freien sich ansetzt, hat oft Gestalten mit wenig Abweichung vom Grundtypus, obgleich er häufiger unregelmäßige Säulchen, Zacken und Fiederblätter darstellt.

Das Fenstereis dagegen zeigt, soweit meine Beobachtungen reichen, nie eine Gestalt, welche dem strengen mathematischen Gesetze des Schneesternes ganz treu bliebe. Nur der Winkel, unter dem sich die Eisfiedern an ihren Stamm ansetzen, scheint als derselbe, wie er bei den regelmäßigen Eiskrystallen gilt, fest zu bleiben, da er auch bei den ersteren gewöhnlich ebenfalls sechzig Graden gleichzukommen scheint. Zuweilen sieht man wohl eine sternartige Figur an den Fenstern, aber dann trägt sie drei bis sieben Strahlen, die von ungleicher Länge sind und meist unter ungleichen Winkeln ansitzen.

Die schönsten Eisgebilde erzeugen sich an den Fenstern von Räumen, deren Luft verhältnißmäßig arm an Wasserdampf ist. So finden sich die unter 1, 2 und 3 beschriebenen Sterne, candirten Linien, Schilfstengel und Farrnwedel (Gestalten, die auch beim Reife vorkommen) gewöhnlich in unbewohnten Zimmern, in Vorsälen, Corridoren oder am äußeren Doppelfenster. Man kann an den Eisvorhängen von Außen fast so gut errathen, wie es im Innern des Zimmers hinsichtlich der Wärme und sonstigen Luftbeschaffenheit steht, als aus der Blankheit der Scheiben und der Vorhänge im Sommer sich die Tüchtigkeit der Hausfrau erkennen läßt.

Der Grund, daß sich in mehr trocknen, wenig erwärmten Räumen schönere Gestalten bilden, liegt darin, daß die spärlichen als Dampf zum Fenster gelangenden Wassertheilchen, welche durch die Kälte auf noch kleineres Volumen zusammenschrumpfen, sich gegenseitig Raum zur freien Entwickelung ihrer Form lassen. Alle Wesen bedürfen zu ihrer Entwickelung freien Spielraum; wird ihnen dieser von fremden Dingen oder von ihres Gleichen verengt, so ist meist Verkrüppelung oder Ausartung ihr Loos. Wenn in einer dunstigen Stube die Fensterscheibe, ehe es zum Gefrieren kommt, dicht mit Wassertröpfchen besetzt ist, so haben die daraus entstehenden festen Theile, zumal da sich das Wasser beim Gefrieren ausdehnt, nicht Platz und verkümmern sich gegenseitig in ihrem Gestaltungstriebe. Eine entsprechende Erscheinung gewahrt man beim Schmelzen von Schwefel oder Wismuthmetall in einem Tiegel. Beide Stoffe zeigen, wenn sie erstarren, keine deutliche Krystallisation, sondern nur schwache Andeutungen ihres Strebens nach einer solchen. Stößt man dagegen, sobald die Oberfläche des geschmolzenen Körpers erstarrt ist, ein Loch in diese feste

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_179.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)