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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

verstorbenen Freundes zu nennen belieben, wird Ihnen mit einer höchst gefährlichen Waffe entgegentreten!“

Sie verneigte sich tief, und verließ rasch das Zimmer.

Der Präsident sah ihr nach, ohne sie zurückzuhalten.

„Was ist das?“ murmelte er bestürzt. „Sollten nicht alle Papiere in meine Hände gekommen sein?“

Dann ergriff er rasch ein Licht, eilte in das Nebenzimmer, öffnete einen Sekretair, und begann emsig die mit Papieren angefüllten Fächer desselben zu durchsuchen.




Ⅵ.

Der Rendant Ernesti hatte, bis zum Tode erschöpft, sein Haus betreten. Es war ihm unmöglich gewesen, so gern er es auch gemocht hätte, seiner Gattin die Gefahr zu verschweigen, die ihm bevorstand. Albert, sein ältester Sohn, hatte seit dem Nachmittage das Haus nicht betreten. Die beiden alten Leute saßen in stummer Verzweiflung neben einander, nachdem sie sich vergebens bemüht, einen Ausweg zu finden.

„Ich kann das Deficit decken,“ murmelte der alte Mann, „aber wenn es zu spät ist. Ach, meine Ehre, die ich dreißig Jahre lang gewahrt habe, ist dahin! Elisabeth, wir müssen mit Schande in die Grube fahren!“

„Ohne zu bedenken, daß unser Albert Offizier ist!“ schluchzte die greise Gattin.

„Wo ist Moritz, unser zweiter Sohn?“ fragte Ernesti rasch.

„Er bleibt heute ungewöhnlich lange – ach, mein Gott, ich bin so verwirrt, daß ich Alles vergesse. Unser Moritz begleitet ja den Fürsten auf der Jagdparthie nach L., er wird erst in einigen Tagen zurückkehren.“

Moritz Ernesti war Revierförster, der Fürst schätzte den kenntnißreichen jungen Mann, und es ließ sich nicht bezweifeln, daß er bei der ersten Gelegenheit zum Oberförster avancirte.

„Wäre er da,“ meinte die Mutter, „ich würde ihn diese Nacht noch zu meinem Bruder schicken, denn er kennt die Waldwege genau.“

„Dein Bruder, meine liebe Elisabeth, ist für den Augenblick ohne Geld; die Reise zu ihm wäre wahrlich unnütz. Doch, beruhige Dich nur, es ist ja möglich, daß Madame Bergt Hülfe bringt.“

Ernesti hatte auf die junge Frau wirklich einige Hoffnung gesetzt, und es läßt sich ermessen, wie ungeduldig er ihre Ankunft erwartete. Mehr als einmal versuchte er, in einem Register zu lesen, das auf dem Tische lag, aber stets trat er seufzend zurück, indem er murmelte: „es fehlen viertausend Thaler!“ Mutter Elisabeth schüttelte schmerzlich das greise Haupt, als sie die peinliche Unruhe ihres Manms sah.

„Du hättest Dich dem Fräulein von Hoym unumwunden entdecken sollen!“ sagte sie schüchtern.

„Ihr? Lieber dem Fürsten selbst!“

„Aber warum denn, lieber Mann?“

In diesem Augenblicke klopfte man hastig an die Thür, und gleich darauf trat Henriette athemlos ein.

„Herr Rendant,“ stammelte sie, „Fräulein von Hoym kann nicht helfen!“

„Mein Gott!“ riefen bestürzt die beiden alten Leute.

„Aber ich, ich bringe Hülfe!“

Sie sank auf einen Stuhl, um sich zu erholen.

„Ach, der Himmel lohne es Ihnen!“ sagte weinend Mutter Elisabeth.

Henriette legte ein Portefeuille auf den Tisch.

„Es enthält nur tausend Thaler,“ sagte sie. „Den Rest decken Sie durch diesen Brief. Lesen Sie ihn, lesen Sie ihn!“

Der Rendant nahm das Papier und las. Er rieb sich die Stirn, als ob er das, was er las, nicht recht fassen könnte.

„Und diesen Brief hat Seldorf geschrieben?“ rief er aus.

„An meinen verstorbenen Vater. Ich habe ihn aufbewahrt, weil ich schon lange fürchtete, daß er mir noch einmal nützlich sein würde. Bedienen Sie sich seiner, um einen gefährlichen Feind abzuschlagen. Der Präsident will Ihr Unglück, er ist unbeugsam und besteht darauf, daß morgenfrüh die Revision stattfinden soll.“

„Er wird eine Kommission senden.“

„Nein, er wird selbst kommen, denn ich habe in ihm die Befürchtung erweckt, daß etwas gegen ihn geschehen würde.“

„Doch, das ist nicht Alles – dieser Brief ist ein Dokument –“

Der alte Rendant konnte vor Aufregung nicht weiter reden; er starrte das Papier, das in seiner Hand zitterte, mit weit aufgerissenen Augen an.

„Was ist es? Was ist es?“ fragten beide Frauen zugleich.

„Laßt mich, Kinder, laßt mich!“ murmelte der alte Mann, indem er eine abwehrende Bewegung mit der Hand machte, obgleich ihm Niemand den Brief nehmen wollte. „Gönnt mir Zeit, daß ich mich sammele. Ich soll Euch eine Erklärung geben? Weiß ich selbst doch in diesem Augenblicke nicht Alles zu fassen. Madame Bergt, Sie sind als eine Botin des Himmels in mein Haus gekommen – und der Herr Präsident – mag er meine Kasse revidiren!“ fügte er mit einem seltsamen Lächeln hinzu. „Es wäre mir selbst jetzt unangenehm, wenn die Revision unterbliebe, denn ich müßte angreifen, statt zu vertheidigen. Ihr Vater war Pupillen-Sekretair in K., Madame Bergt?“

„Ja!“

„Ach, das hat die Vorsehung gefügt! Mütterchen,“ wandte sich der Rendant zu seiner Frau, „um diesen Preis will ich die Schuld, fürstliche Gelder angegriffen zu haben, gern tragen. Wäre Bergt nicht in Verlegenheit gerathen, ich hätte ihm kein Geld geliehen, und dieser Brief wäre nicht in meine Hand gerathen. Kommen Sie, Herr Präsident, kommen Sie, ich fürchte Sie nicht mehr!“

„Mann, lieber Mann, was ist mit Dir?“ rief ängstlich Mutter Elisabeth.

„Laßt mich, laßt mich, ich muß die Kassenrevision vorbereiten! Laßt mich noch zwei Stunden arbeiten, dann will ich ruhig zu Bette gehen.“

Henriette schied mit den Worten:

„Ich hoffe, man wird Sie morgen nicht belästigen. Uebrigens verwenden Sie das Papier nach Gutdünken.“

Am folgenden Morgen betrat der Rendant zuerst das Kassenzimmer. Peters folgte ihm, ein großes Buch unter dem Arme tragend. Der Greis war ernst, fast feierlich gestimmt; gegen seine Gewohnheit sprach er kein Wort mit dem Diener, der ängstlich jede Bewegung seines Vorgesetzten beobachtete. Um acht Uhr war Alles bereit. Gegen neun Uhr kam der Präsident – allein.

„Herr Rendant,“ begann er, nachdem er höflich gegrüßt, „ich erfülle eine Pflicht, die mir meine Stellung auferlegt. Sie werden mir eine genaue Einsicht in das Kassenwesen gestatten, damit ich auch diesen Zweig der Verwaltung kennen lerne, deren Oberaufsicht mir unser gnädiger Fürst anvertraut hat. Dies ist der Grund der anberaumten Revision, die, wie ich erwarten darf, Sie nicht unvorbereitet findet. Da es sich in der Hauptsache um meine Information handelt, habe ich keine Kommission ernannt, sondern bin allein erschienen. Erlauben Sie mir, daß ich diesen Vormittag mit Ihnen arbeite.“

„Sie haben zu befehlen, Herr Präsident!“

Seldorf beobachtete den Rendanten, dessen Ruhe ihm auffiel, mit argwöhnischen Blicken.

„Sollte Bronner sich geirrt haben?“ fragte er sich. „Oder sollte es möglich gewesen sein, die fehlende Summe anzuschaffen? Oder sollte im dritten Falle Henriette Mittel geliefert haben, mich von einer Denunciation abzuschrecken?“

Ernesti beantwortete bald alle diese Fragen.

„Herr Präsident,“ begann er, „ich bin seit dreißig Jahren der Rendant der fürstlichen Regierungskasse, und es hat alljährlich eine Revision stattgefunden; aber stets an einem Termine, der mir lange vorher bekannt war.“

„Was wollen Sie sagen? Komme ich vielleicht ungelegen?“

„O nein; Sie haben das Recht, zu jeder Zeit zu kommen, und ich bin verpflichtet, Sie zu jeder Zeit zu empfangen. Hier liegt das Hauptbuch, und dort steht die Kasse. Um Ihnen das Revisionsgeschaft zu erleichtern, habe ich diese Nacht die Bilanz aufgestellt. Ich schwöre zu Gott, daß sie richtig ist.“

Er überreichte dem Präsidenten ein Papier. Dieser prüfte es.

„Wie,“ fragte Seldorf erstaunt, „Sie bekennen, daß dreitausend Thaler fehlen?“

„Ich habe sie einem bedrängten Freunde geliehen.“

„Aus fürstlichen Mitteln?“

„O, sie sind mir sicher!“ antwortete lächelnd der alte Mann.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_114.jpg&oldid=- (Version vom 7.7.2019)