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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Ordnungen einer Gemeine Christi gemäße Art, d. h. direkt und nicht durch Vermittlung der „Aeltesten“ an sie gelangen würde. Ein Bäckergesell von sechzehn Jahren brachte vier Wochen nachher, auch unter den jungen Burschen einen näheren Anschluß zu Stande, dessen Tendenz sich jedoch weniger bestimmt aussprach. Die Stifter beider Verbindungen wurden deren Aelteste. Seit dieser Zeit prägte sich die Chorgliederung mehr und mehr aus, ward allgemeiner und strenger. Im Jahre 1736 gab es elf verschiedene Chorabtheilungen, und jeder Chorabtheilung wurden in Chorviertelstunden die Chorhomilien gehalten, in welchen das Verdienst der Menschheit Christi für jedes betreffende Chor auseinandergesetzt wurde. Die jungen Bursche, welche zuerst vom Wollekrämpeln und Spinnen für die Tuchfabriken einer benachbarten Stadt sich dürftig ernährt und sodann eigene Professionen angefangen hatten, erhielten, da ihre Zahl sich mehrte, im Jahr 1739 das erste Chorhaus, um darin beaufsichtigt und vor aller Versuchung bewahrt, ihre Professionen auf Rechnung der Gemeine schwunghafter fortzusetzen. Im Jahr 1740 wurde für den Inbegriff aller Chorabtheilungen die Bezeichnung als Brüderunität, für die „jungen Bursche und Jungfern“ der Name der „ledigen Brüder und Schwestern“ eingeführt. Am 29. August 1741 veranlaßte ein Kandidat der Theologie aus Thüringen, später Zinzendorf’s Schwiegersohn, Reichsfreiherr und Kirchenbischof, mit zwölf Altersgenossen, denen er Unterricht gab in keuscher Bewahrung der Seele und des Leibes, eine „engere Einrichtung der ledigen Brüder.“ In demselben Jahr kamen die Chorfeste auf, welche anfangs von einzelnen Chören an beliebige „Festgelegenheiten“ angeknüpft und in einem Jahre an dem, im andern an jenem Tage gefeiert wurden, bis sie auf der Synode von 1789 ihre endliche Feststellung erhielten.

Christiansfeld hat ein Chorhaus der ledigen Brüder, eins der ledigen Schwestern und eins der Wittwen. Im ersteren wohnen auch die größeren Knaben, im zweiten die größeren Mädchen; die verehelichten Geschwister leben mit ihren Kindern in den Privathäusern. Ich besuchte nur das Brüderhaus. Denn wenn auch im Schwestern- und Wittwenhaus Fremde Zutritt haben, so wird doch am Chorfest ein Besuch als störend nur ungern gesehen, und dann ist auch die Einrichtung und Lebensweise in allen Chorhäusern so ziemlich dieselbe.

Der Hausdiener führte mich zuerst auf den Chorbetsaal, den Speise- und Schlafsaal, sodann in die Werkstätten der Schuhmacher und Schneider, der Tischler, Bäcker und Fleischer, der Gerber und Seifensieder. Diese verschiedenen Gewerbe, wovon die beiden letztgedachten außer dem Chorhause betrieben werden, und die Seifensiederei zur Hälfte der Gemeine Christiansfeld gehört, bilden die „Chordiakonie des Brüderhauses,“ welche Eigenthum der Unität sämmtlicher Brüdergemeinen ist. Beschäftigt sind in den Gewerben meist nur Junggesellen, die jedoch nicht immer Mitglieder der Gemeine zu sein brauchen. Jeder Einzelne, Meister oder Gesell, erhält von der Diakonie den Lohn für seine Arbeit, deren Gewinn oder Verlust der Diakonie zufällt, und vom Arbeitslohn hat er seinen persönlichen Unterhalt zu bestreiten, wenn er sonst nicht von Renten zu leben vermag. An der Spitze der ganzen Genossenschaft steht ein „Vorsteher,“ der die Verwaltung und Kontrole des äußeren Haushalts, und ein „Pfleger,“ welcher die Leitung des inneren Chorlebens hat. Sämmtliche Chor- und Gemeinediakonieen der Herrnhuter sind durch den Grundsatz: „keine derselben jemals fallen zu lassen,“ in einen gegenseitigen Bürgschafts- und Unterstützungsverband gebracht, in welchem sie ein Ganzes, eine Unität ausmachen, und indem die Unität für die Verpflichtungen der Einzeldiakonieen in letzter Instanz haftet, ist jedes Diakonievermögen nur insofern Eigenthum des betreffenden Gemein- oder Chorverbandes, als derselbe einen Theil der Unität bildet.

Das Leben im Chorhaus ist ein stilles, fast eintöniges. Die Leidenschaften sind zwar nicht außerhalb der Pforten zurückgelassen, aber doch innerhalb derselben sorgfältig eingedämmt und enge umzäunt. Vergnügungen, durch welche sie geweckt oder genährt werden könnten, sind in den Chorordnungen strenge verpönt, und jeder Stubenvorgesetzte hat darüber zu wachen, daß auf seiner Stube den Chorordnungen nicht zuwider gehandelt wird. Früh um sechs Uhr wird das Tagewerk mit dem Morgensegen eröffnet, bei welchem der Pfleger oder einer der Meister die „Loosung“ nebst „Lehrtext“ verliest; spät um neun Uhr wird es mit dem Abendsegen geschlossen, der im Absingen einiger Liederverse besteht. Beide Chorversammlungen finden auf dem Chorsaal statt, während die gemeinschaftliche Abendversammlung für alle Chöre der Gemeine um sieben Uhr auf dem Gemeinsaal gehalten wird. Jeder Bruder braut sich seinen Frühtrank und seinen Mittagskaffee selbst; er macht sein Bett selbst, denn bei der Revision des Schlafsaales um acht Uhr Vormittags würde der Hausdiener das Versäumte gegen eine Vergütung nachholen, und die Küchenbrüder bereiten das Mittag- und Abendessen für diejenigen Mitglieder des Chores, welche nicht vorziehen, ihre Kost in Familienhäusern zu nehmen. Im Allgemeinen zeichnen sich die Brüder durch einen gewissen Anstrich von Bildung aus, die zunächst wohl aus dem häufigen Anhören kirchlicher Vorträge, aus dem vielen Lesen guter Bücher erwächst und selbst beim gemeinsten Mann durch eine überraschend reine Aussprache sich kund gibt; eben so scheinen sie aber auch an einer gewissen Unbeholfenheit und Schwerfälligkeit der Umgangsformen zu leiden, welche nicht minder in der Einrichtung ihres Chorlebens den Entstehungsgrund haben dürfte. Im Verkehr mit edlen Frauen wird das Aeußere des Mannes am ersten abgeschliffen und verfeinert.

Die Chorhäuser sind zugleich Pflanzschulen der Missionäre. Es fehlt nicht an Brüdern, die sich zum Missionsdienst melden. In der Gemeine ist ihnen die Gründung eines eigenen Hausstandes erschwert, der Missionsdienst rettet sie vor wahrscheinlichem Cölibat, und sichert ihnen eine lebenslängliche Versorgung. Die jetzigen Missionäre brauchen nicht mehr mit einem Dukaten Reisegeld auf ihren Posten zu gehen, wie weiland Leonhard Dober, noch wenn sie vom Posten zurückgekehrt sind, sich wie Georg Schmidt vom Holzspalten oder Straßenkehren zu nähren, und Conrad Lange, der auf einer Wanderung von vier Jahren, sein Gepäck auf einem Schiebekarren mit sich führend, durch Deutschland, Polen und Rußland bis an die Grenzen von China vordrang, hat in der Gegenwart Nachfolger so wenig, wie das „Pilgerrad“ überhaupt Mitglieder gefunden.

Das Missionswerk der Herrnhuter ist neben dem Erziehungsfach ein hauptsächliches Feld ihrer Thätigkeit. Unleugbar ist diese Thätigkeit eine verdienstliche. Indem sie christliche Religion und europäische Gesittung dem Wilden zuführen, heben sie ihn aus seinem Naturzustand herauf in den Kreis dessen, was das Christenthum vor dem Heidenthum und die Civilisation vor der Barbarei voraus hat. Ihre Missionäre haben den Buschmann seiner Diebereien, den Fingu seiner Raubzüge, den Grönländer seiner Meuchelmorde entwöhnt, und den verthierten Negersklaven Guiana’s leiten sie an, durch eine größere Treue und Zuverlässigkeit sich eine menschlichere Behandlung zu erwerben, oder sie geben ihm Trost und Erhebung in seinen Leiden.[1]

Auf der Küste von Labrador hat vor 1770, in welchem Jahre eine Herrnhutermission daselbst gegründet wurde, kein Europäer eine Nacht bleiben dürfen. Als der Bischof Michael Langguth 1749 zur Visitation auf St. Thomas war, fragte ihn der Gouverneur ob er auch das Kastell schon gesehen habe, und zeigte ihm vom Fenster aus die Plantage der Brüder. „Die,“ sagte er, „macht unsere Sicherheit auf dieser Insel, und daß ich eine Nacht ruhig außer dem Fort auf meiner Plantage schlafen kann, was ich sonst nicht wagen durfte.“ Und als im Jahr 1765 die farbige Bevölkerung von St. Thomas sich wegen eines Sklavenaufsehers gleichwohl empörte, hat die Drohung der herrnhutischen Missionäre, daß sie jeden Empörer vom Abendmahl ausschließen würden, den Aufstand unterdrückt.

Den Anstoß zum Missionswerk gab eine Reise des Grafen Zinzendorf. Er suchte 1731 am dänischen Hofe „ein Engagement, welches ihn mit guter Art aus dem sächsischen Justizdienst brächte und in Dänemark nicht vinkulirte.“ In Kopenhagen lernte er zwei Grönländer und einen Mohren aus St. Thomas kennen. Ihre Schilderungen trafen ihn, und sein Bericht bei der Rückkehr nach Herrnhut traf die Gemeine vorbereitet. Denn Zinzendorf hatte schon als fünfzehnjähriger Knabe einen „Specialbund zur Heidenbekehrung“ mit seinem Mitschüler Wattewille geschlossen und die Gemeine hatte schon seit 1728 ihre jungen Bursche „in Medizin, Geographie, Schreiben und Sprachen unterrichten lassen, damit sie dergleichen einst als Sendboten gebrauchen könnten.“ Als der Mohr selbst in Herrnhut erschien und hier die Lage seines Volkes nochmals vorstellte, erklärten sich Mehrere sofort bereit, die

  1. Man kann solche Resultate nicht allen Missionären nachrühmen.
    D. Redakt.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_109.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)