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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

betrog? Wie viele, wie unbegreifliche Widersprüche liegen in dem Innern des Menschen! Wie leicht und gern täuscht er sich absichtlich fast bei allem seinem Thun; wie leicht und gern läßt er sich von sich selbst täuschen! Aber das Schicksal, die Gerechtigkeit, die furchtbar vergeltende Gerechtigkeit läßt sich nicht von ihm täuschen. Sie konnte bei all’ jener Liebe und Pflichterfüllung sich kein dauerndes Glück schaffen durch Betrug, Verbrechen. Der Schrecken, das Elend, das Unglück mußte darauf folgen; denn sie forderte es täglich, stündlich heraus. Und es kam. Es war da. Es brach ihr nicht das Herz. Ihre starke Seele wußte es zu ertragen, wußte es würdig zu ertragen.

Sie hatte ihre Kräfte wieder gesammelt, stand auf, ging dann zu den spielenden Kindern, und sah, mit der ganzen stillen, tiefen, innigen Theilnahme, mit der sie so oft bei ihnen gestanden hatte, ihrem freundlichen Spiele zu. Aber mit der freundlichen, glücklichen Theilnahme früherer Zeit konnte sie ihnen nicht zusehen. Ein schmerzliches Aufzucken ihres Gesichts zeigte, wie sehr sie sich Gewalt anthun mußte, den heftigsten Schmerz ihres Innern zurückzudrängen. Sie beugte sich nieder zu den Kindern.

„Mütterchen will mit uns spielen,“ jubelte die kleine Agnes, in die Händchen klatschend.

„Jetzt nicht,“ entgegnete die unglückliche Mutter. „Nie mehr, nie mehr!“ setzte sie für sich hinzu; „aber stören muß ich Euer Spiel; Euer letztes Spiel, das meine Augen sehen werden.“ Sie nahm den Knaben auf den Arm, und drückte ihn an ihr Gesicht, an ihr Herz. „Lebe wohl, mein Kind, mein Friedrich, das Kind meines Glückes, meines Stolzes!“ Thränen stürzten aus ihren Augen; noch vermochte sie, diese zu trocknen. Darauf setzte sie den Knaben nieder auf die Decke, und hob die kleine Agnes auf. „Auch Du, auch Du lebe wohl! Du Kind meiner Leiden, meiner Sorge, meines Schmerzes, meines Unglückes; und doch mein geliebtes, mein über Alles geliebtes Kind! Lebe wohl, lebe wohl!“

Sie konnte ihre Thränen nicht mehr zurückhalten; wie sie krampfhaft das Kind an sich preßte und auf sein schönes, freundliches Gesicht, seine hellen Locken, seine Brust, seinem Nacken ihre heißen Küsse drückte, da strömten auch mit einer krampfhaften, nicht mehr zurückhaltenden Gewalt ihre Thränen hervor.

Gibt es einen Schmerz, der tiefer, gibt es Thränen, die bitterer wären, als der Schmerz und die Thränen einer Mutter, die den letzten Abschied von ihren Kindern nimmt?

Sie ließ den Knaben aus ihren Armen, stürzte zu der Thür, wandte sich aber noch einmal zu den Kindern um. „Lebt wohl!“ Sie riß die Thür auf. Sie wollte sich noch einmal umsehen; noch einmal, zum letzten Male sollte ihr Auge die geliebten Wesen erblicken, sie hatte aber die Kraft nicht, es auszuführen, und verließ sogleich die Stube. Einige Minuten später trat die Wärterin der Kinder ein.

„Die Mutter befiehlt, wir sollen in den Garten gehen,“ sagte sie zu der kleinen Agnes.

Sie nahm den Knaben auf den Arm, das kleine Mädchen an die Hand. So verließ sie mit den Kindern die Stube, aber alles in der ruhigen, gewöhnlichen Weise. Die Majorin mußte noch die Kraft gehabt haben, ihr in derselben Weise den Befehl zu ertheilen.

Es war nur wenige Augenblicke leer in dem Zimmer, das so lange, und doch nur so kurze Zeit die freundliche, glückliche Mutter- und Kinderstube gewesen war. Die Mutter kehrte bald darauf allein, aber gefaßter als vorher, zurück. Ihr Gesicht war zwar bleicher geworden; denn der Schmerz und die Gewalt, die sie sich anthun mußte, hatten den letzten Blutstropfen darin verzehrt; aber die Muskeln zuckten nicht mehr auf, und das Auge blickte sogar mild. Sie stellte sich vor die Decke, auf der die Kinder gespielt hatten, und sah lange still auf den leeren Platz. Manchmal bewegte sich ihr Körper wohl vorwärts, als wenn sie niederknieen, als wenn sie mit ihren Küssen und ihren Thränen die Stelle bedecken wolle, auf der so oft, zuletzt noch vor wenigen Minuten, die Kinder gesessen, gespielt hatten; aber sie versagte es sich, oder wollte sie dem aufregenden Schmerze keine neue Nahrung geben? Sie vernahm Schritte, die sich der Stube näherten, und erschrak für den Augenblick.

„Herr, stärke mich!“ betete sie, die Augen zum Himmel gerichtet; dann ging sie zur Thür.

Ihr Mann trat ein. Er stand mit heiterer Stirn vor ihr. Die Gensd’armen hatten die Umgebung des Schlosses wieder verlassen, und nach den Nachrichten, die er eingezogen, keine Verhaftung bewirkt. Der Abgesandte seiner Freunde war also nicht ergriffen.

„Du hast mich verlangt, Marie?“

Sie nahm seine Hand, und führte ihn zu dem Sopha, das in dem Zimmer stand. Ihre Hand zitterte, wenn auch nur leise. Er warf erschrocken einen Blick auf ihr Gesicht.

„Du zitterst, Marie, Du bist so blaß; fehlt Dir etwas?“

„Es wird vorübergehen, Hermann; setze Dich zu mir.“

„Aber was fehlt Dir? Dieser ungewöhnliche Ernst –“

„Findest Du mich wirklich so verändert?“

Sie sah ihn mit ihren schönen Augen mild und liebend an.

„Dein Blick ist derselbe,“ sagte er; „und so lange er mir Liebe und Glück bringt, bist Du keine Andere.“

„Du liebst mich also, Hermann?“

„Wie fragst Du?“

„Noch immer? Noch immer heute, wie je vorher?“

„Heute und immer; immer, ewig!“

„O, sage es mir noch einmal, daß Du mich liebst; nur heute, nur jetzt noch liebst, mit Deiner alten, Deiner besten, mit der vollsten Liebe Deines Herzens!“

„Kannst Du daran zweifeln, Marie?“

„O, sage es mir, ich möchte es noch einmal hören, von Deinen Lippen, in Deinen Armen, an Deinem Herzen!“

„Ja, Marie,“ sagte der Major mit dem innigsten, heiligsten Tone der Liebe, „ja, ich liebe Dich, wie ich Dich je geliebt habe; mit meiner vollsten Liebe, Dich über Alles!“

Er schlang seine Arme um sie, drückte ihr Herz an das seinige, seine Lippen auf ihre Lippen. Sie erwiederte seine Umarmung, seinen Druck, seine Küsse. Nachdem sie lange so an dem edlen, treuen Herzen geruhet hatte, entwand sie sich plötzlich seinen Armen und warf ihm einen dankbaren, glücklichen Blick zu; es war ein Blick der höchsten Seligkeit, der reinsten Liebe.

„Auch das ist vorbei,“ sagte sie dann leise für sich; „die letzte Sekunde meines Glücks. Jetzt habe ich Abschied genommen von Allem im Leben, von dem Leben.“

Sie verließ die Seite ihres Mannes. Sie setzte sich, entfernt von ihm, in die andere Ecke des Sopha’s. Er sah sie darüber erstaunt, verwundert an, und wollte ihr folgen, aber sie wehrte ihn mit der Hand zurück.

„Ich bitte Dich, Hermann, nahe mir nicht.“

Wiederholt schaute er sie beunruhigt an; aber sein Blick traf in einen klaren, würdevollen, feierlichen und doch innig bittenden Blick. Er folgte ihr deshalb nicht.

„Hermann,“ sagte sie, „was Du auch jetzt von mir hören wirst, höre mir ruhig zu; und dann, das ist meine letzte Bitte an Dich, versuche nicht, mich überreden, von meinem Entschlusse abbringen zu wollen, der unwiderruflich in mir feststeht.“

Der Major erschrak.

„Um des Himmels willen, Marie, was ist geschehen?“

„Du sollst es in wenigen Worten, ohne Vorbereitung, erfahren; ich will Dich, ich will mich nicht länger martern. Hermann, ich bin eine Betrügerin; Deine Marie starb: ich bin die verworfene, die entehrte Antoinette, eine gemeine Verbrecherin.“

Die Frau hatte einen unbegreiflichen Reichthum von Kraft. Sie hatte ihre ganze Kraft zusammengenommen, und die entsetzlichen, vernichtenden Worte ruhig, klar, ohne Versagen ihrer Stimme, ohne Beben ihrer Lippen aussprechen können. Der starke Mann neben ihr war nicht so kräftig; er war an die Lehne des Stuhles zurückgesunken. Sein ganzer Körper zitterte convulsivisch, sein Gesicht war mit der Blässe des Todes überzogen: die Augen irrten und starrten umher, als ob die Nacht des Todes sie bedecke; er war sich keines Wortes mächtig. Dieser Anblick traf die Frau erschütternd; er schien ihre Kraft zu lahmen, zu zerstören.

„Hermann,“ rief sie in tödtlicher Angst. Sie wollte zu ihm stürzen, aber ihre Kraft, ihre Gewalt über sich kehrte zurück. Sie blieb an ihrer Stelle. „Hermann,“ setzte sie mild, beruhigend hinzu, „Hermann, edler Mann, fasse Dich!“

Ein so kräftiger Mann, wie der Major, mußte sich bald erholen, wenn auch nur nach und nach.

„Marie,“ entgegnete er, mit noch zitternder Stimme, aber gefaßter, „erzähle mir, sage mir Alles.“ Aber unmittelbar darauf fuhr er fort: „doch nein, erzähle mir nichts; Du kannst es nicht, und ich würde es nicht anhören können; überdies weiß ich ja auch schon Alles. Aber schenke mir einige Minuten Geduld, daß ich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_060.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)