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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

„Fürchte nichts,“ flüsterte er ihr zu. „Ich werde mich selbst überzeugen.“ Er stand auf. Sie wollte ihn zurückhalten.

„Bleibe, Hermann, ich beschwöre Dich!“

„Für mich sehe ich keine Gefahr,“ erwiederte er ihr. „Ich kehre bald zurück.“

Er verließ mit dem Bedienten die Stube; die Majorin blieb mit den Kindern zurück, und spielte mit ihnen. Sie schien so die Rückkehr des Gatten erwarten zu wollen. Es verbreitete sich immer mehr eine große Ruhe über ihr ganzes Wesen; es war die Ruhe des großen und festen Entschlusses.

Ihr Spiel mit den Kindern wurde unterbrochen, gestört. Die Thür des Zimmers öffnete sich wieder, sehr leise, sehr langsam. Ein männliches Gesicht blickte in die Stube, und gleich darauf trat Jemand ein.

Es war ein Mann in den mittleren Jahren, von großer, aber etwas zusammengesunkener Gestalt, mit einem Gesichte, das ehemals gewiß schön, lebhaft, geistvoll gewesen war, das aber jetzt nur noch Züge der körperlichen und moralischen Verkommenheit aufzuweisen hatte; es drückte sich vollkommen jene unverkennbare tiefste Gemeinheit des Zuchthauses darin aus.

Die Frau von Rixleben saß mit dem Gesichte von ihm abgewendet, als er eintrat; sie hatte auch sein Nahen nicht gehört, aber die kleine Agnes sah ihn. Das Kind erschrak, als es auf einmal und so leise, so unhörbar, den fremden Mann durch die Thür hervorkommen, an der Schwelle stehen bleiben und die durchdringenden, fast brennenden Augen auf sich und ihre Mutter und ihr kleines Brüderchen gerichtet sah. Sie starrte den Mann einen Augenblick an, dann wandte sie sich ängstlich zu der Mutter, den Blick noch immer auf den Fremden gerichtet.

Die Majorin folgte dem Blick des Kindes, und auch sie sah den Fremden. Eine Stunde vorher würde seine Erscheinung ihr die eines Gespenstes gewesen sein. Jetzt aber wußte sie, daß sie einen Lebenden vor sich hatte. Aber war ihr Entsetzen nicht ein desto größeres? Trotz ihrer Ruhe, trotz aller ihrer Fassung flog sie auf.

„Ha, schon!“ rief sie. „Schon so bald, so schnell tritt das Schicksal mit seiner Vergeltung und Vernichtung zu mir!“

Sie starrte den Mann an, wie so eben das Kind ihn angestarrt hatte. Aber ihr Entsetzen dauerte nur eine Sekunde lang, dann gewann sie ihre Ruhe, ihre volle Kraft wieder.

Auch der Mann war ruhig. Er verschloß die Thür, durch die er eingetreten war, dann ging er auf die Majorin zu. Diese erwartete ihn mit festem Blicke.

„Ich sehe, Du kennst mich noch,“ sagte er. „Das ist gut; denn ich komme –“

Die Majorin unterbrach ihn, gleichfalls mit fester, ruhiger Stimme.

„Gregoire, bevor Du weiter sprichst, höre wenige Worte von mir an. Du kannst dann machen, was Du willst; Du wirst dann aber auch einsehen, daß für Dich hier wenig zu gewinnen ist.“

„Sprich,“ erwiederte der Mann kalt.

„Ich erfahre heute, in dieser Stunde,“ fuhr die Frau von Rixleben fort, „daß Du noch am Leben seist und zugleich, daß es Dir gelungen sei, aus Deiner Haft zu entwischen.“ –

„Ah, Du hattest mich wirklich für todt gehalten?“

„Mußte ich nicht?“

„Freilich, ich war zum Tode verurtheilt. Die französischen Kriegsgerichte machen verteufelt kurzen Prozeß; aber mir wurde das Leben geschenkt, denn ich hatte drüben auch manchen hübschen Dienst geleistet, wenngleich ihre Steckbriefe mich jetzt nur zum Spion ihrer Feinde machen wollen. Dank und Undank! Allein fahre fort. Du hast mich also für todt gehalten? Du warst mir wohl nachgereiset, als ich arretirt, als wir von einander getrennt wurden? Und nachdem Du den schnellen Spruch des nach meinem Blute dürstenden Kriegsgerichtes erfahren hattest, war auch Deine Liebe gesättigt, und Du machtest Dich stracks auf den Weg zu diesem schönen Schlosse, um als Deine verstorbene Schwester einen einfältigen, sentimentalen preußischen Helden zu betrügen. O, es war kein großes Kunststück, aber ein ganz ordinäres, gemeines Verbrechen, das sich mit zwanzig Jahren Zuchthaus abbüßen läßt. Du erstaunst, wie ich das Alles weiß? Man lebt auch in der engsten Haft nicht ganz abgeschlossen von der Welt. Du wirst es im Zuchthaus gleichfalls erfahren. In der Citadelle zu Mainz hatte ich einen Leidensgefährten, einen vormaligen Polizeispion, der Unglück gehabt hatte, wie ich. Der Mann wußte viel; er wußte auch, daß ein vormaliger preußischer Major in der Gegend von Holzminden, ein gefährlicher Mensch für die Ruhe und das Glück Europa’s, und daher unter strenger Aufsicht der Kasseler Polizei, eine junge, hübsche Dame, Namens Marie Antoinette Andreä, geheirathet habe. In welcher Beziehung diese schöne Dame zu mir stand, wußte er freilich nicht; aber ich wußte das, und da errieth, oder vielmehr wußte ich denn auch das andere, und – hier bin ich. – Doch verzeihe, ich sollte Dich nicht unterbrechen, und ich habe es dennoch gethan. Es wird nicht wieder geschehen. Sprich, ich werde Dich sehr aufmerksam anhören.“

Der Hohn des Menschen hatte die Klarheit und Ruhe der Frau von Rixleben nicht stören können. Sie erwiederte ihm: „Du bist offen gegen mich gewesen, ich werde es auch gegen Dich sein. Ich bin es in dieser letzten Stunde mir, Dir, unserm Kinde schuldig.“

„O, von einer letzten Stunde sprichst Du? Aber verzeihe nochmals mein Unterbrechen.“

Die Majorin fuhr fort: „Ich liebte Dich, Gregoire. Du hattest durch schlechte Künste mein junges, unerfahrenes Herz bethört; Du hattest mich boshaft verführt, Du hattest grausam mich gezwungen, das väterliche Haus zu verlassen, um Dir zu folgen. Ich liebte Dich dennoch. Bald jedoch erkannte ich Deinen Charakter, Deine Lebensweise ganz; Du lebtest nur von Verrath und Verbrechen. Ich sah zugleich, daß Du mich nicht liebtest, daß Du so mich nicht lieben konntest. Ich liebte Dich dennoch, Gregoire. Ich hoffte auf Aenderung, Besserung Deines Charakters und Lebenswandels, und dann auf Deine Liebe.“ –

„Du hattest die Güte, mir das oft zu sagen,“ fiel der Mann höhnisch ein.

„Meine Bitten, meine Thränen, meine Hoffnungen waren vergebens. Du wurdest kein Anderer, Du sankest nur noch tiefer. Du konntest freilich kaum noch anders. Dein Leben war verwirkt, Du hattest nur noch eine unstäte, flüchtige Existenz. Ich hielt treu bei Dir aus, noch mehr, ich liebte Dich noch immer, und hoffte auf einen Zufall der Rettung. Es kam anders. In dem Augenblicke, als ich meine sterbende Schwester wiederfand, wurdest Du von meiner Seite gerissen, um zum Tode zu gehen. Du warst unrettbar verloren, darüber war kein Zweifel. Ich stand allein in der Welt, und hatte Niemanden, als dieses arme, hülflose Kind, und ich selbst war arm, hülflos; aber ich dachte nicht an mich, ich hatte nur Gedanken für mein Kind. Was sollte aus ihm werden, wer sollte es vor Elend, vor Schande, vor Verbrechen retten? Da kam ein furchtbarer Entschluß in mir zur Reife, den, ich will es nicht leugnen, ein Zufall schon an dem Sterbebette meiner Schwester in mir angeregt hatte. Ich führte ihn aus, nachdem ich Dein Todesurtheil erfahren hatte. Du hast ihn errathen, Du kennst ihn. Aber höre mich weiter. Für mein, für Dein Kind war gesorgt, seine Zukunft war gesichert, aber ich desto unglücklicher geworden. Eine verworfene, gemeine Verbrecherin, die Verrätherin des bravsten Mannes, konnte ich nur einen Augenblick glücklich sein! Und dennoch mußte ich stets Glück erheucheln. Ich trug das Leben nur um meines Kindes, jetzt meiner beiden Kinder, und um des Glückes meines Gatten, dieses edlen Mannes willen, der mich liebte, der mich noch über Alles liebt. – Da erfuhr ich heute, daß Du lebst, daß Du Dich befreit hattest. Ich kannte Dich; auch wenn ich Dich nicht gekannt hätte, die Ehre, das Glück meines Mannes war gefährdet; mein Entschluß stand sofort fest. Ich habe ihn noch nicht ausführen können; in der nächsten Viertelstunde aber geschieht es. Ich entdecke meinem Manne Alles, und bitte ihn nur um Liebe für das Kind, für das ich seine und meine Ehre, sein und mein Glück geopfert habe. Er hat ein großes Herz, er wird meine Bitte erfüllen. Und nun, Gregoire, sage mir, was Dich hierher geführt hat, wenn es Dir noch der Mühe werth ist, es mir zu sagen?“

Sie endete, und sah ihn ruhig, würdevoll an. Sein Hohn war, wenigstens für den Augenblick, verschwunden. Die Würde des Herzens, das er verdorben, zerbrochen hatte, imponirte ihm.

„Und was soll aus Dir werden, Antoinette?“ fragte er.

„Frage mich nicht,“ erwiederte sie ihm. „Kann ich noch etwas für Dich thun, so sage es mir. Sonst entferne Dich von hier.“

Dem verworfenen Verbrecher hatte ein besserer Sinn nur für einen kurzen Moment imponiren können.

„Ah,“ rief er, „Teufel, Du bist klug! Beinahe hätte ich mich von Dir fangen lassen. Mit einem Bettelpfennig denkst Du mich

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