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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

die Schwiegertochter hatte sie ihr durch ihr klares, stilles, stets eben so liebes als ehrfurchtsvolles Wesen vollkommen ersetzt.

„Mit Marie ist ein neuer Engel in unser Haus gekommen,“ sagte sie oft zu ihrem Sohne, und der Major küßte glücklich und dankbar seine Mutter und seine Frau; und die schöne junge Frau strahlte in dem Glanze und der Liebe des Glückes.

Das Glück der Familie war nur einmal getrübt worden, und zwar durch den am 19. Juli 1810 erfolgten Tod der schönen und edlen Königin Louise von Preußen; dem preußischen, dem deutschen Lande, einem großen Theile von Europa kam diese herbe Trauerkunde unerwartet. Der Major von Rixleben, der in der Nähe der Dulderin zur Zeit ihrer schwersten Leiden, ihres tiefsten Grames gelebt, hatte der erschütternden Botschaft lange in banger Erwartung entgegengesehen.

Im März des Jahres 1811 beschenkte die Majorin von Rixleben ihren Gemahl mit einem gesunden, schönen Knaben, und an dem Glücke der Familie schien nun nichts mehr zu fehlen. Am Tage nach der Geburt des Kindes saß der Major an dem Bette seiner Gattin, ihre Hand in der seinigen haltend; die Blicke Beider waren auf das vor ihnen in seiner Wiege schlummernde Kind gerichtet. Als der Major sich nach seiner Frau umwandte, sah er ihre Augen voll Thränen; sie mußte schon eine Zeit lang still geweint haben.

„Marie,“ sagte er sanft, „das sind keine Thränen des Glücks. Warum weinst Du?“

„Es ist nichts, mein Geliebter.“

„Dich drückt etwas; verhehle es mir nicht!“

„Kann man nicht weinen an der Wiege eines neugeborenen Kindes? Das Mutterherz blickt gern weit, und nur zu gern ängstlich in die Zukunft hinein.“

„Das war es nicht, Marie!“

„Was hat nicht der Vater dieses süßen Kindes tragen und dulden müssen? Was kann nicht dem Kinde bevorstehen? Wir leben in einer traurigen Zeit!“

„Marie, das war es nicht; Deine Thränen hatten einen andern Grund, Sie fließen noch; sie sprechen etwas Anderes aus; könntest Du es mir verbergen? Hier, an der Wiege unseres erstgeborenen Kindes? In dieser Stunde, da wir von seiner Zukunft, seinem Glücke sprechen?“

Die Thränen der Mutter flossen wirklich noch; sie sprachen auch etwas Anderes aus. Die Majorin kämpfte mit sich selbst.

„Schütte mir Dein Herz aus, Marie, was es auch sei.“

Sie ergriff leidenschaftlich seine Hand und drückte sie an ihr Herz. „Ja, Hermann, ich habe etwas auf dem Herzen; ich muß es Dir entdecken. Wirst Du mir verzeihen können?“

„Alles, Alles, meine gute Marie, wenn es möglich wäre, daß [je] meine Lippen das Wort Verzeihung zu Dir sprechen müßten.“

„Ich hatte eine Schwester,“ preßte die Majorin hervor; „sie war so unglücklich. Wir haben schon manchmal von ihr gesprochen. Ich habe Dir nicht Alles von ihr gesagt. Ihre schwerste Stunde war ihre letzte.“

„In dieser schweren Stunde sandte der Himmel Dich ihr, als ihren tröstenden und aufrichtenden Engel.“

Die Frau schüttelte den Kopf. „Nein,“ rief sie heftig, „ich konnte sie nicht trösten, ich konnte sie nicht aufrichten; ich –“

Sie mußte abbrechen, um sich zu sammeln. Nach einer Weile fuhr sie ruhiger fort: „Ich will es Dir ohne Umschweife mittheilen. Die Unglückliche hinterließ ein Kind, ein liebliches, blühendes Mädchen von etwa drei Jahren. Sie mußte es allein in der Welt zurücklassen, in dem zarten Alter –“

Der Major war sehr ernst geworden.

„Marie,“ unterbrach er sie, „warum hatte das Kind Deiner Schwester –?“ Sie ließ ihn nicht ausreden.

„Ich weiß, was Du sagen willst; Du hast Recht zu Deinen Vorwürfen; aber mache sie mir nicht, nur nicht in dieser Stunde. Es war ein unglückliches Kind einer Unglücklichen, und hatte Niemanden in der Welt als mich. Aber wer war diese Unglückliche? Wer war ich? Durfte ich in das Haus Deiner Mutter, die ich nicht, die mich nicht kannte, ein fremdes Kind, ein Kind der –“

Sie konnte das Wort nicht aussprechen, das schon auf ihren Lippen schwebte. Der Major wollte ihr etwas erwiedern; sie kam ihm aber zuvor.

„Ich weiß wieder Deine Einwendungen, habe sie auch schon hundert, ja tausend Mal mir selbst gesagt. Ich kannte ja Dich, und lernte das gütige Herz Deiner Mutter, schon am ersten Tage, als ich hier ankam, kennen. Ich war von diesem Tage an keine Fremde mehr im Hause; ich habe mir das täglich, fast stündlich gesagt; aber ich konnte nicht.“

„Und das Kind?“ fragte der Major, noch immer ernst.

„Siehst Du, Hermann, meine Furcht war gegründet! Ich habe unrecht gethan, und Du verzeihst mir nicht?“

Die Worte, der bittende Blick, von dem sie begleitet wurden, zerbrachen die allerdings dünne Kruste eines bitteren Gefühls, die sich um das Herz des Majors, er wußte selbst nicht, wie und warum, plötzlich angesetzt hatte.

„Ich hatte Unrecht, meine gute Marie,“ sagte er; „verzeihe Du mir!“ Er küßte ihre Hand. „Und nun, wo ist das Kind?“

„Ich brachte es zu braven Leuten, denen ich mein Erspartes gab. Sie versprachen, das Kind zu halten, wie das ihrige; ich war überzeugt, daß sie ihr Versprechen halten würden, und sie haben es gehalten; denn nach ihren Nachrichten, die ich mir vierteljährig von der Post in Holzminden abhole, ist das Kind immer schöner und blühender geworden. Verzeihst Du mir auch diese Heimlichkeit?“

„Ich sollte es nicht,“ entgegnete der Major freundlich, „weil Du Dir dadurch anderthalb Jahre lang das Herz so schwer belastet hast!“

Am zweiten Tage nachher hatte der Major den alten treuen und sorgsamen Bedienten der Generalin in einem bequemen Wagen fortgeschickt; seiner Frau hatte er nichts davon gesagt, nur mit seiner Mutter hatte er vorher eine Unterredung gehabt. Vierzehn Tage darauf war die Taufe des neugeborenen Knaben. Der Major führte seine Gattin in den Prunksaal des Schlosses, in welchem die feierliche Handlung vorgenommen werden sollte; die Wärterin trug den Knaben vor ihnen her. Als sie eintraten, war die Generalin anwesend; an ihrer Hand hielt sie ein wunderschönes Kind, ein Mädchen von etwa fünf Jahren. Das Kind sah die Majorin, starrte diese an, wollte dann auf sie zufliegen, blieb aber zweifelhaft stehen und blickte fragend die Generalin an, schauete dann wieder auf die Majorin.

Die Majorin von Rixleben starrte das Kind an, Leichenblässe überzog ihr Gesicht, ihr ganzer Körper erbebte; sie wankte und suchte nach einem Gegenstande, sich daran zu halten. Ihr Mann stand an ihrer Seite; nach ihm griff sie nicht, er mußte sie in seinen Armen auffangen.

„Agnes!“ rief die Frau.

Das Kind riß sich von der Hand der Generalin los. „Mutter! Mutter!“ schrie es laut, und flog zu der Majorin. „Meine Mutter, meine Mutter!“ rief es wieder und reichte mit seinen Aermchen, mit seinen Händchen zu ihr hinauf.

Die Majorin hatte sich gefaßt. „Meine süße, meine liebe Agnes!“

Sie küßte die frischen Lippen des Kindes, und preßte das schöne Köpfchen mit den blonden Locken an ihr Herz.

„Ja, ich bin Deine Mutter!“

Sie wandte sich an ihren Gatten.

„Ich darf es sein, Hermann? Die Arme hält mich dafür, denn die Aehnlichkeit mit der Verstorbenen täuscht sie. Sollen wir ihr den glücklichen Glauben nehmen?“

Der Major umarmte seine Gattin.

„Nie! Du wirst ihre Mutter, ich werde ihr Vater sein.“

„Hermann, Hermann, wie werde ich Dir je dankbar genug sein können für alle Deine Güte, für alle Deine Liebe für mich? Gibt es eine glücklichere Frau, als ich bin? Gibt es einen braveren Mann als Du bist?“

War sie wirklich glücklich?

Sie saß in ihrer Stube, die zugleich Kinderstube war. Die Kinder spielten zu ihren Füßen. Sie war beschäftigt, Schühchen für den kleinen Friedrich zu stricken, der schon auf der Erde kriechen konnte und bald anfing zu laufen. Sie sah mit stillem Glücke auf die Kinder, die so fröhlich und glücklich waren.

Die kleine Agnes liebte den Knaben mit der vollsten mütterlichen Schwesterliebe ihres Alters von fünf Jahren. Der Knabe konnte nicht sein ohne die zärtliche Schwester.

Der Major trat in die Stube. Er stand überrascht, selig, vor dem schönen Bilde der Mutter mit ihren Kindern, das er doch täglich sah. Er küßte die Gattin, und ließ sich am Boden

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_047.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)